Ein Symptom der aktuellen Krise der Demokratie ist der Qualitätsverlust des öffentlichen politischen Diskurses in demokratischen Gesellschaften. Die rapide Ausbreitung von Falschmeldungen, Desinformation, Fake News und Verschwörungstheorien führt zu einer zunehmenden Polarisierung und Fragmentierung der politischen Gemeinschaft. Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Ohne eine Öffentlichkeit, die alle einschließt und so eine demokratische politische Kultur gewährleistet, ist die Zukunft der Demokratie ernsthaft bedroht.
Bürgerinnen und Bürger entwickeln, gerade auch in der Ausübung demokratischer Freiheitsrechte, unterschiedliche Interessen, Überzeugungen, Werte und politische Zielvorstellungen. Weil daraus politische Meinungsverschiedenheiten entstehen, sind verpflichtende politische Entscheidungen nur dann vertretbar, wenn die Bürger an politischen Debatten teilhaben können, um ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger von der Angemessenheit der von ihnen befürworteten politischen Entscheidungen zu überzeugen – damit sie eine Entscheidung auch dann als zweckdienlich akzeptieren, wenn sie eigentlich eine andere bevorzugen würden. Im Gegensatz zu autoritären Regimen bemühen sich Demokratien darum, dass ihre Bürger die Gesetze, denen sie unterworfen sind, als vernünftig akzeptieren und aus eigenem Antrieb befolgen, anstatt sie zu blindem Gehorsam zu zwingen. Diese besondere Form der Freiheit ist untrennbar mit der Verpflichtung verbunden, alle, die dem Gesetz unterworfen sind, in die Diskussion, Beratung und Entscheidungsfindung einzubeziehen. Ein kollektiver politischer Wille in Bezug auf grundlegende politische Entscheidungen kann sich jedoch nur dann herausbilden, wenn die Bürger ausreichend mit Informationen versorgt werden und an umfassenden politischen Debatten teilhaben können.
Da die digitale Revolution eine noch immer recht neue Entwicklung ist, wird über ihre Auswirkungen auf die Öffentlichkeit noch lebhaft diskutiert. Ein wichtiger Aspekt in diesen Debatten ist die Frage, ob die Gefahren für den öffentlichen Diskurs, die wir derzeit beobachten, auf spezielle Merkmale der digitalen Revolution und die Entstehung von Social-Media-Plattformen zurückzuführen sind oder ob die Störeffekte auf umfassenderen strukturellen Faktoren beruhen – etwa auf der wachsenden sozialen Ungleichheit aufgrund des seit Jahrzehnten währenden neoliberalen Kapitalismus, der daraus resultierenden Erosion der Solidarität und der Zunahme des „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) – und durch die Digitalisierung einfach nur verstärkt werden.
Geschäftsmodell Online-Kommunikation
Das Geschäftsmodell der Social-Media-Plattformen basiert darauf, die Nutzerinnen und Nutzer durch Datenerfassung und algorithmische Personalisierung möglichst eng an sich zu binden. Dieses Modell hat zwei problematische Eigenschaften: Zum einen erleichtert die Vorauswahl der Inhalte aufgrund früherer Vorlieben der Nutzer die Bildung von Filterblasen und Echokammern – mit der Folge, dass diejenigen, die sich in erster Linie auf Social Media verlassen, so gut wie nie Informationen, Nachrichten oder Meinungen erhalten, die von ihrem Weltbild abweichen. Zum anderen verbreiten sich Inhalte in den sozialen Medien auf Grundlage von Algorithmen, die nicht auf den Wahrheitsgehalt abzielen, sondern auf eine maximale Nutzerbindung. Die Adressaten können oft gar nicht erkennen, ob die Meldungen in ihren Feeds zutreffen oder nicht, ob sie die Ansichten ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger oder von Trollen aus dem Ausland repräsentieren und ob sie von einer zuverlässigen Quelle oder einem Online-Bot mit Fake Account stammen. Diese Merkmale von Social Media verstärken nicht nur die Isolierung einzelner Gruppen und die Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft, sondern fördern auch die Verbreitung von Fehlinformationen, Fake News und Verschwörungstheorien sowie die Manipulation von Wählerinnen und Wählern durch Micro-Targeting. Zusätzlich zu diesen bedrohlichen Entwicklungen erleben wir einen Bedeutungsverlust der traditionellen Medien, die idealerweise nach journalistischen Kriterien wie Unparteilichkeit, Wahrhaftigkeit und Verantwortlichkeit arbeiten.
Schon im derzeitigen Medienumfeld ist es mühsam, sich zu informieren und dabei nicht mit Fake News, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien konfrontiert zu werden; doch noch viel schwieriger ist es, die Meinungen anderer Menschen zu wichtigen politischen Fragen herauszufinden – vor allem jener, die eine andere Haltung als man selbst vertreten. Häufig kann man gar nicht genau sagen, ob die Ansichten, denen man begegnet, echte Meinungen widerspiegeln oder ob es sich um manipulierte Aussagen handelt, verbreitet von mächtigen Akteuren – etwa von politischen Kräften, Lobbyisten, Hackern, Internet-Bots oder Trollen anderer Staaten –, denen unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zuteil wird, deren Interessen und Ansichten aber in keiner Weise die der Bürgerschaft repräsentieren. Sollte diese Entwicklung anhalten, wird zunehmend ungewiss werden, wie sich Bürgerinnen und Bürger in Zukunft ausreichend informieren sollen, um in eine sinnvolle Debatte mit ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu treten, selbst bei den grundlegendsten politischen Fragen. Es stellt sich daher die Frage, was man gegen diese negativen Auswirkungen unternehmen kann, bevor es zu spät ist. Hierzu gibt es zwei grundlegend verschiedene Ansätze.
Antidemokratisches Denken: Populismus und Technokratie
Wer der Meinung ist, dass diese Probleme ohnehin nicht behoben werden können – weil Bürgerinnen und Bürger zu ignorant beziehungsweise zu schlecht oder falsch informiert sind oder von den Eliten zu sehr manipuliert werden, um sich an einer richtigen politischen Debatte zu beteiligen und so Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und angemessene politische Entscheidungen zu treffen –, der kann sich natürlich einfach dem Defätismus hingeben und die Entwicklung mit dem Argument akzeptieren, dass das Ideal einer deliberativen Demokratie für Gesellschaften wie unsere eben nicht geeignet sei. Diese Position nehmen zwei (miteinander unvereinbare) Alternativen zur demokratischen Inklusion ein, die in Krisenzeiten besonders gedeihen: Populismus und Technokratie.
Die derzeitige Krise der Demokratie spiegelt diesen Trend. Nach vier Jahrzehnten neoliberaler, technokratischer Politik, die zur Finanzkrise von 2008 führte, nach Austeritätsmaßnahmen und einer massiven Verschärfung der Ungleichheit erleben derzeit fast alle demokratischen Gesellschaften einen populistischen Backlash. Populistische Parteien versprechen den Wählern, „dem wahren Volk“ die Kontrolle zurückzugeben, indem sie den Eliten und den von ihnen vermeintlich begünstigten Minderheiten Macht entziehen, und werden dafür gewählt. Im aktuellen politischen Klima scheint die Demokratie zwischen Technokratie und Populismus festzustecken, zwischen der Herrschaft der Experten und der Herrschaft der Straße; und Europa scheint gefangen zwischen EU-Technokratie und antieuropäischem Populismus.
Populismus wie Technokratie locken Bürgerinnen und Bürger in eine Falle des antidemokratischen Denkens: Die von ihnen gewünschten Resultate lassen sich vermeintlich schneller erzielen, wenn ein Teil ihrer Mitbürger außen vor bleibt. Technokraten hoffen, dass sich Verbesserungen schneller einstellen, wenn politische Entscheidungen von Experten getroffen werden und die unwissende Bürgerschaft umgangen wird. Populisten erhoffen sich dasselbe vom „wahren Volk“ im Gegensatz zu den politischen Eliten. Bei allen Unterschieden haben die populistischen und technokratischen Angriffe auf die Demokratie also eines gemeinsam: Sie stellen die grundlegende demokratische Verpflichtung infrage, allen Bürgerinnen und Bürgern ein Mitspracherecht bei sämtlichen politischen Entscheidungen einzuräumen, die sie betreffen – und tragen insofern autokratische Züge.
Dabei vergessen Populisten und Technokraten allerdings gleichermaßen, dass eine politische Gemeinschaft nicht besser sein kann als ihre Mitglieder. Die Bürger müssen von den politischen Entscheidungen, die sie betreffen, im Herzen und Denken überzeugt und bereit sein, „ihren Teil dazu beizutragen“, sonst werden sich die erhofften Verbesserungen nicht einstellen. Eine politische Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, ihre Bürgerinnen und Bürger unwissend, falsch informiert, polarisiert oder manipuliert zu lassen. Denn unter derartigen Bedingungen gute Politik zu machen und vor allem gute Resultate zu erzielen, ist extrem unwahrscheinlich.
Gegenwehr: Verbesserung der demokratischen Qualität politischer Öffentlichkeit
Da Kapitulation keine Option ist, bleibt nur die Möglichkeit, sich den aktuellen Problemen zu stellen und nach Wegen zu suchen, mit denen man den negativen Auswirkungen der zunehmenden Fragmentierung und Polarisierung und der Verbreitung von Fehl- und Desinformation in der Öffentlichkeit entgegenwirken kann. An erster Stelle steht dabei die Notwendigkeit, die großen Social-Media-Plattformen so zu regulieren, dass ihre positiven Eigenschaften verstärkt und ihr zerstörerisches Potenzial neutralisiert wird. Allerdings sollte man sich – ohne die dringende Notwendigkeit einer angemessenen Regulierung in Abrede stellen zu wollen – darüber im Klaren sein, dass eine rein regulative Herangehensweise an dieses Problem ihre Grenzen hat.
Grenzen der Regulierung
Natürlich müssen Bürgerinnen und Bürger verlangen, dass alle Medien, ob traditionell oder digitalisiert, für die Verbreitung von Des- oder Falschinformationen zur Verantwortung gezogen werden.
Die Regulierung der Online-Kommunikation umfasst jedoch noch ein tiefliegenderes Problem, denn die Gefahren, die durch Fragmentierung, Polarisierung oder Fehlinformation entstehen, sind kein rein digitales Phänomen. Die Fragmentierung und Selbstsegregation, die online stattfindet, scheint die Fragmentierung sozialer Netzwerke widerzuspiegeln, die sich aus den freien Entscheidungen der Bürger in ihrem Offline-Leben ergibt – etwa daraus, wo Menschen am liebsten wohnen, mit wem sie gerne sprechen, wofür sie sich engagieren oder welche Nachrichtenkanäle sie bevorzugen.
Das heißt, wenn es weitreichendere Gründe für Polarisierung, Fragmentierung und mangelnde Solidarität gibt – etwa die angesprochene außerordentliche Zunahme der Ungleichheit, die durch den neoliberalen Kapitalismus in den vergangenen Jahrzehnten verursacht wurde – und es sich folglich um kein reines Online-Phänomen handelt, sondern um etwas, das alle Aspekte der Gesellschaft sowohl online als auch offline durchdringt, wird eine Verbesserung der Regulierung der Online-Kommunikation nicht ausreichen, um eine integrative Öffentlichkeit zu erhalten. Wir brauchen zusätzliche Instrumente, um den negativen Auswirkungen von Fragmentierung und Polarisierung auf die politische Kommunikation entgegenzuwirken.
Neue Formen der politischen Kommunikation
Während wir nach Möglichkeiten suchen, Medien (online und offline) angemessen zu regulieren, um den aktuellen Bedrohungen entgegenzuwirken, könnte es hilfreich sein, neue Formen der politischen Kommunikation auszuprobieren, die sich besonders gut dazu eignen, Fragmentierung, Polarisierung und Fehlinformationen zu überwinden. Bürgerversammlungen und ähnlich deliberative Mini-Öffentlichkeiten wie Bürgerjurys oder Deliberationsforen liefern vielversprechende Ansätze.
Die öffentliche politische Debatte wird meist von mächtigen politischen Akteuren dominiert, deren Interessen jedoch häufig von denen der Allgemeinheit abweichen. Wie bereits erwähnt, hat sich diese Situation mit der Verbreitung von Social Media noch verschlimmert, da diese die Bildung von Filterblasen und Echokammern fördern. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Wissenschaftlerinnen und Praktiker, die mit der Funktionsweise von Bürgerversammlungen und anderen deliberativen Mini-Öffentlichkeiten vertraut sind, von der Qualität der politischen Beratungen begeistert sind, die diese den Teilnehmern sowohl online als auch offline bieten.
Mini-Öffentlichkeiten und Demokratie
Wie könnten Mini-Öffentlichkeiten dazu beitragen, die Inklusivität und die Qualität der Beratung im öffentlichen Diskurs zu verbessern?
Zunächst einmal könnten sie wichtige Aufgaben übernehmen, die sich nicht allzu sehr von jenen unterscheiden, die die traditionellen Medien (früher) erfüllt haben. Wie bei den klassischen Medien würde auch ihr Beitrag nicht darin bestehen, den Bürgerinnen und Bürgern das Denken oder bestimmte Entscheidungen abzunehmen.
In dem Maße, in dem die zufällig ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Spiegelbild der gesamten Gesellschaft sind, werden die Gründe und Erwägungen, die sie zu ihren Urteilen veranlassen, mit hoher Wahrscheinlichkeit die gleichen sein wie die der übrigen Bürgerinnen und Bürger.
In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht hervorheben, dass Mini-Öffentlichkeiten so vielfältig sind wie die Bürger selbst und ihre Ansichten zu umstrittenen politischen Themen genauso heterogen sein können wie im Rest der Gesellschaft. Das macht sie aber nicht nutzlos. Im Gegenteil. Sie können dem Rest der Bürgerschaft wichtige Informationen zur Verfügung stellen, wenn ihre Überlegungen und Empfehlungen weithin zugänglich gemacht werden. Das Wissen um die Interessen, Werte und Argumentationslinien, die bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Bezug auf strittige politische Fragen auf Resonanz stoßen, ist gerade dann wichtig, wenn wir nicht einer Meinung sind. Denn wenn man die eigentlichen Ursachen für Streitereien und Meinungsverschiedenheiten zu bestimmten politischen Themen kennt – im Gegensatz zu den manipulativen Behauptungen und Pseudoargumenten, die ständig in der Öffentlichkeit kursieren –, weiß man auch, welche Art von Informationen, Belegen, Argumenten oder Gegenargumenten man den Mitbürgern liefern muss, um die öffentliche Debatte über diese Themen voranzubringen. Denn genau dazu sind die Bürgerinnen und Bürger in einer zunehmend fragmentierten und polarisierten Öffentlichkeit kaum noch in der Lage.
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim