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Deliberative Demokratie nach der digitalen Transformation | Diskurskultur | bpb.de

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Deliberative Demokratie nach der digitalen Transformation

Cristina Lafont

/ 17 Minuten zu lesen

Der öffentliche politische Diskurs scheint sich, nicht zuletzt durch die digitale Transformation der Öffentlichkeit, immer weiter zu verschlechtern. Anstelle von Technokratie und Populismus braucht die liberale Demokratie neue Formen politischer Kommunikation.

Ein Symptom der aktuellen Krise der Demokratie ist der Qualitätsverlust des öffentlichen politischen Diskurses in demokratischen Gesellschaften. Die rapide Ausbreitung von Falschmeldungen, Desinformation, Fake News und Verschwörungstheorien führt zu einer zunehmenden Polarisierung und Fragmentierung der politischen Gemeinschaft. Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Ohne eine Öffentlichkeit, die alle einschließt und so eine demokratische politische Kultur gewährleistet, ist die Zukunft der Demokratie ernsthaft bedroht.

Bürgerinnen und Bürger entwickeln, gerade auch in der Ausübung demokratischer Freiheitsrechte, unterschiedliche Interessen, Überzeugungen, Werte und politische Zielvorstellungen. Weil daraus politische Meinungsverschiedenheiten entstehen, sind verpflichtende politische Entscheidungen nur dann vertretbar, wenn die Bürger an politischen Debatten teilhaben können, um ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger von der Angemessenheit der von ihnen befürworteten politischen Entscheidungen zu überzeugen – damit sie eine Entscheidung auch dann als zweckdienlich akzeptieren, wenn sie eigentlich eine andere bevorzugen würden. Im Gegensatz zu autoritären Regimen bemühen sich Demokratien darum, dass ihre Bürger die Gesetze, denen sie unterworfen sind, als vernünftig akzeptieren und aus eigenem Antrieb befolgen, anstatt sie zu blindem Gehorsam zu zwingen. Diese besondere Form der Freiheit ist untrennbar mit der Verpflichtung verbunden, alle, die dem Gesetz unterworfen sind, in die Diskussion, Beratung und Entscheidungsfindung einzubeziehen. Ein kollektiver politischer Wille in Bezug auf grundlegende politische Entscheidungen kann sich jedoch nur dann herausbilden, wenn die Bürger ausreichend mit Informationen versorgt werden und an umfassenden politischen Debatten teilhaben können.

Da die digitale Revolution eine noch immer recht neue Entwicklung ist, wird über ihre Auswirkungen auf die Öffentlichkeit noch lebhaft diskutiert. Ein wichtiger Aspekt in diesen Debatten ist die Frage, ob die Gefahren für den öffentlichen Diskurs, die wir derzeit beobachten, auf spezielle Merkmale der digitalen Revolution und die Entstehung von Social-Media-Plattformen zurückzuführen sind oder ob die Störeffekte auf umfassenderen strukturellen Faktoren beruhen – etwa auf der wachsenden sozialen Ungleichheit aufgrund des seit Jahrzehnten währenden neoliberalen Kapitalismus, der daraus resultierenden Erosion der Solidarität und der Zunahme des „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) – und durch die Digitalisierung einfach nur verstärkt werden. Bei dieser Frage ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wir stehen noch immer am Beginn der digitalen Revolution, und die Fähigkeit der Gesellschaft, sich der Entwicklung anzupassen, hinkt dem hohen Tempo der technologischen Neuerungen, etwa auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, weit hinterher. Doch selbst wenn Social Media nicht die einzige Ursache für die gesellschaftliche Fragmentierung und Polarisierung und für die Verbreitung von Fehlinformationen wären, lässt sich kaum bestreiten, dass einige ihrer strukturellen Eigenschaften eine Bedrohung für eine gut informierte und inklusive Öffentlichkeit darstellen.

Geschäftsmodell Online-Kommunikation

Das Geschäftsmodell der Social-Media-Plattformen basiert darauf, die Nutzerinnen und Nutzer durch Datenerfassung und algorithmische Personalisierung möglichst eng an sich zu binden. Dieses Modell hat zwei problematische Eigenschaften: Zum einen erleichtert die Vorauswahl der Inhalte aufgrund früherer Vorlieben der Nutzer die Bildung von Filterblasen und Echokammern – mit der Folge, dass diejenigen, die sich in erster Linie auf Social Media verlassen, so gut wie nie Informationen, Nachrichten oder Meinungen erhalten, die von ihrem Weltbild abweichen. Zum anderen verbreiten sich Inhalte in den sozialen Medien auf Grundlage von Algorithmen, die nicht auf den Wahrheitsgehalt abzielen, sondern auf eine maximale Nutzerbindung. Die Adressaten können oft gar nicht erkennen, ob die Meldungen in ihren Feeds zutreffen oder nicht, ob sie die Ansichten ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger oder von Trollen aus dem Ausland repräsentieren und ob sie von einer zuverlässigen Quelle oder einem Online-Bot mit Fake Account stammen. Diese Merkmale von Social Media verstärken nicht nur die Isolierung einzelner Gruppen und die Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft, sondern fördern auch die Verbreitung von Fehlinformationen, Fake News und Verschwörungstheorien sowie die Manipulation von Wählerinnen und Wählern durch Micro-Targeting. Zusätzlich zu diesen bedrohlichen Entwicklungen erleben wir einen Bedeutungsverlust der traditionellen Medien, die idealerweise nach journalistischen Kriterien wie Unparteilichkeit, Wahrhaftigkeit und Verantwortlichkeit arbeiten.

Schon im derzeitigen Medienumfeld ist es mühsam, sich zu informieren und dabei nicht mit Fake News, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien konfrontiert zu werden; doch noch viel schwieriger ist es, die Meinungen anderer Menschen zu wichtigen politischen Fragen herauszufinden – vor allem jener, die eine andere Haltung als man selbst vertreten. Häufig kann man gar nicht genau sagen, ob die Ansichten, denen man begegnet, echte Meinungen widerspiegeln oder ob es sich um manipulierte Aussagen handelt, verbreitet von mächtigen Akteuren – etwa von politischen Kräften, Lobbyisten, Hackern, Internet-Bots oder Trollen anderer Staaten –, denen unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zuteil wird, deren Interessen und Ansichten aber in keiner Weise die der Bürgerschaft repräsentieren. Sollte diese Entwicklung anhalten, wird zunehmend ungewiss werden, wie sich Bürgerinnen und Bürger in Zukunft ausreichend informieren sollen, um in eine sinnvolle Debatte mit ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu treten, selbst bei den grundlegendsten politischen Fragen. Es stellt sich daher die Frage, was man gegen diese negativen Auswirkungen unternehmen kann, bevor es zu spät ist. Hierzu gibt es zwei grundlegend verschiedene Ansätze.

Antidemokratisches Denken: Populismus und Technokratie

Wer der Meinung ist, dass diese Probleme ohnehin nicht behoben werden können – weil Bürgerinnen und Bürger zu ignorant beziehungsweise zu schlecht oder falsch informiert sind oder von den Eliten zu sehr manipuliert werden, um sich an einer richtigen politischen Debatte zu beteiligen und so Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und angemessene politische Entscheidungen zu treffen –, der kann sich natürlich einfach dem Defätismus hingeben und die Entwicklung mit dem Argument akzeptieren, dass das Ideal einer deliberativen Demokratie für Gesellschaften wie unsere eben nicht geeignet sei. Diese Position nehmen zwei (miteinander unvereinbare) Alternativen zur demokratischen Inklusion ein, die in Krisenzeiten besonders gedeihen: Populismus und Technokratie.

Die derzeitige Krise der Demokratie spiegelt diesen Trend. Nach vier Jahrzehnten neoliberaler, technokratischer Politik, die zur Finanzkrise von 2008 führte, nach Austeritätsmaßnahmen und einer massiven Verschärfung der Ungleichheit erleben derzeit fast alle demokratischen Gesellschaften einen populistischen Backlash. Populistische Parteien versprechen den Wählern, „dem wahren Volk“ die Kontrolle zurückzugeben, indem sie den Eliten und den von ihnen vermeintlich begünstigten Minderheiten Macht entziehen, und werden dafür gewählt. Im aktuellen politischen Klima scheint die Demokratie zwischen Technokratie und Populismus festzustecken, zwischen der Herrschaft der Experten und der Herrschaft der Straße; und Europa scheint gefangen zwischen EU-Technokratie und antieuropäischem Populismus.

Populismus wie Technokratie locken Bürgerinnen und Bürger in eine Falle des antidemokratischen Denkens: Die von ihnen gewünschten Resultate lassen sich vermeintlich schneller erzielen, wenn ein Teil ihrer Mitbürger außen vor bleibt. Technokraten hoffen, dass sich Verbesserungen schneller einstellen, wenn politische Entscheidungen von Experten getroffen werden und die unwissende Bürgerschaft umgangen wird. Populisten erhoffen sich dasselbe vom „wahren Volk“ im Gegensatz zu den politischen Eliten. Bei allen Unterschieden haben die populistischen und technokratischen Angriffe auf die Demokratie also eines gemeinsam: Sie stellen die grundlegende demokratische Verpflichtung infrage, allen Bürgerinnen und Bürgern ein Mitspracherecht bei sämtlichen politischen Entscheidungen einzuräumen, die sie betreffen – und tragen insofern autokratische Züge.

Dabei vergessen Populisten und Technokraten allerdings gleichermaßen, dass eine politische Gemeinschaft nicht besser sein kann als ihre Mitglieder. Die Bürger müssen von den politischen Entscheidungen, die sie betreffen, im Herzen und Denken überzeugt und bereit sein, „ihren Teil dazu beizutragen“, sonst werden sich die erhofften Verbesserungen nicht einstellen. Eine politische Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, ihre Bürgerinnen und Bürger unwissend, falsch informiert, polarisiert oder manipuliert zu lassen. Denn unter derartigen Bedingungen gute Politik zu machen und vor allem gute Resultate zu erzielen, ist extrem unwahrscheinlich. Der Grund dafür ist einfach: Die Bürgerinnen und Bürger können zwar im politischen Prozess außen vor gelassen werden, wenn Entscheidungen gefällt werden, nicht jedoch, wenn Entscheidungen umgesetzt werden sollen. Damit die Ziele der Gesetzgebung erreicht werden können, müssen alle ihren Beitrag leisten. Man denke nur an die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie oder den Kampf gegen den Klimawandel: Damit derartige Maßnahmen Erfolg haben, müssen die Bürgerinnen und Bürger freiwillig mitziehen. Sie müssen bereit sein, ihr Verhalten zu ändern und Opfer zu bringen, müssen die Risiken akzeptieren und die negativen Auswirkungen dieser Maßnahmen auf ihren Alltag in Kauf nehmen. Dazu sind Bürgerinnen und Bürger aber nur bereit, wenn sie verstehen, warum genau diese Maßnahmen (und keine anderen) notwendig sind oder warum genau diese Kompromisse (und keine anderen) eingegangen werden sollen. Kurz gesagt, Bürgerinnen und Bürger werden ihren Beitrag nicht leisten, wenn ihnen nicht die Möglichkeit gegeben wurde, sich eine eigene Meinung zum Thema zu bilden. Sie müssen zu der Überzeugung gelangt sein, dass die Opfer, Risiken und negativen Auswirkungen, die mit den vorgeschlagenen Maßnahmen einhergehen, gerecht verteilt werden und notwendig und angemessen sind. Wenn die Bürger in öffentlichen Debatten nicht davon überzeugt werden können, ihr Verhalten zu ändern und ihren Beitrag zu leisten, werden die fraglichen politischen Maßnahmen schlicht nicht die gewünschten Ziele erreichen. In der Politik wie in der Familie müssen wir uns mit den Mitmenschen arrangieren, die um uns herum sind. Wir können uns unsere Mitbürger nicht einfach wegwünschen. Da eine Gesellschaft nicht besser sein kann als ihre Mitglieder, kann man entweder versuchen, im gegenseitigen Austausch das Denken und die Haltung derjenigen zu ändern, die anderer Meinung sind. Oder man kann versuchen, sie zu blindem Gehorsam zu zwingen. Das eine nennen wir Demokratie, das andere Autoritarismus. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Eine deliberative Demokratie ist keine Utopie, sondern schlicht Notwendigkeit und beruht auf der Erkenntnis, dass unsere Gesellschaften nicht „schneller“ vorankommen können, wenn sie ihre Bürger außen vor lassen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen in der Lage sein, sich zu informieren und sich an umfassenden politischen Debatten zu beteiligen, damit sie sich mit den politischen Entscheidungen, denen sie unterworfen sind, identifizieren und diese als ihre eigenen anerkennen können. Damit bin ich bei der zweiten Möglichkeit angelangt, auf die aktuelle Demokratiekrise zu reagieren.

Gegenwehr: Verbesserung der demokratischen Qualität politischer Öffentlichkeit

Da Kapitulation keine Option ist, bleibt nur die Möglichkeit, sich den aktuellen Problemen zu stellen und nach Wegen zu suchen, mit denen man den negativen Auswirkungen der zunehmenden Fragmentierung und Polarisierung und der Verbreitung von Fehl- und Desinformation in der Öffentlichkeit entgegenwirken kann. An erster Stelle steht dabei die Notwendigkeit, die großen Social-Media-Plattformen so zu regulieren, dass ihre positiven Eigenschaften verstärkt und ihr zerstörerisches Potenzial neutralisiert wird. Allerdings sollte man sich – ohne die dringende Notwendigkeit einer angemessenen Regulierung in Abrede stellen zu wollen – darüber im Klaren sein, dass eine rein regulative Herangehensweise an dieses Problem ihre Grenzen hat.

Grenzen der Regulierung

Natürlich müssen Bürgerinnen und Bürger verlangen, dass alle Medien, ob traditionell oder digitalisiert, für die Verbreitung von Des- oder Falschinformationen zur Verantwortung gezogen werden. Und tatsächlich werden Inhalte von den großen Social-Media-Plattformen ja routinemäßig moderiert und überprüft, trotz der wiederholten Versuche, jegliche Verantwortung für die auf ihren Plattformen verbreiteten Inhalte von sich zu weisen. Allerdings ist es alles andere als optimal, die Moderation von Inhalten der öffentlichen Meinungsbildung privaten Unternehmen zu überlassen. Andererseits bringt eine staatliche Regulierung ganz eigene Probleme mit sich. Abgesehen von der Gefahr staatlicher Zensur könnten Behörden oder Gerichte kaum die gewaltige Menge an Inhalten bewältigen, die von den Plattformen täglich entfernt werden, und den Nutzern gleichzeitig ordnungsgemäße Verfahren und die Möglichkeit garantieren, rechtliche Mittel einzulegen. Eine dritte Variante – die aber wiederum ihre eigenen Probleme birgt – bestünde darin, den Nutzern selbst die Möglichkeit zu geben, die Inhalte, die in ihren Feeds erscheinen, zu kontrollieren oder aus verschiedenen, gleichermaßen verfügbaren Optionen zu wählen. Wie die beste Lösung aussehen könnte, ist derzeit noch unklar. Die Situation ist komplex und entwickelt sich auch aufgrund der technologischen Innovationen ständig weiter.

Die Regulierung der Online-Kommunikation umfasst jedoch noch ein tiefliegenderes Problem, denn die Gefahren, die durch Fragmentierung, Polarisierung oder Fehlinformation entstehen, sind kein rein digitales Phänomen. Die Fragmentierung und Selbstsegregation, die online stattfindet, scheint die Fragmentierung sozialer Netzwerke widerzuspiegeln, die sich aus den freien Entscheidungen der Bürger in ihrem Offline-Leben ergibt – etwa daraus, wo Menschen am liebsten wohnen, mit wem sie gerne sprechen, wofür sie sich engagieren oder welche Nachrichtenkanäle sie bevorzugen. Wenn das zutrifft, ist fraglich, ob eine Regulierung der Social-Media-Plattformen überhaupt Abhilfe schaffen kann. Und selbst wenn sich zeigen sollte, dass Social Media das Problem erheblich verschärfen, ist nicht klar, ob es einen Regulierungsmechanismus gibt, der mit den Freiheiten der Bürger vereinbar ist und die freiwillige Online-Selbstsegregation (und die daraus resultierende Fragmentierung und Polarisierung) verhindern kann – schließlich gibt es auch im Offline-Bereich keinen Mechanismus, der diese Form der Segregation verhindert, etwa bei der Nutzung traditioneller Medien oder der Entscheidung für bestimmte Stadtviertel oder Schulen.

Das heißt, wenn es weitreichendere Gründe für Polarisierung, Fragmentierung und mangelnde Solidarität gibt – etwa die angesprochene außerordentliche Zunahme der Ungleichheit, die durch den neoliberalen Kapitalismus in den vergangenen Jahrzehnten verursacht wurde – und es sich folglich um kein reines Online-Phänomen handelt, sondern um etwas, das alle Aspekte der Gesellschaft sowohl online als auch offline durchdringt, wird eine Verbesserung der Regulierung der Online-Kommunikation nicht ausreichen, um eine integrative Öffentlichkeit zu erhalten. Wir brauchen zusätzliche Instrumente, um den negativen Auswirkungen von Fragmentierung und Polarisierung auf die politische Kommunikation entgegenzuwirken.

Neue Formen der politischen Kommunikation

Während wir nach Möglichkeiten suchen, Medien (online und offline) angemessen zu regulieren, um den aktuellen Bedrohungen entgegenzuwirken, könnte es hilfreich sein, neue Formen der politischen Kommunikation auszuprobieren, die sich besonders gut dazu eignen, Fragmentierung, Polarisierung und Fehlinformationen zu überwinden. Bürgerversammlungen und ähnlich deliberative Mini-Öffentlichkeiten wie Bürgerjurys oder Deliberationsforen liefern vielversprechende Ansätze. Die für diese deliberativen Foren charakteristische Inklusivität bietet den Teilnehmern das genaue Gegenteil einer Echokammer oder einer polarisierten politischen Debatte. Das macht sicher einen bedeutenden Teil ihrer Anziehungskraft aus, und zwar nicht nur bei den Organisatoren, sondern auch bei jenen Bürgerinnen und Bürgern, die bereits die Möglichkeit hatten, daran teilzunehmen. Allerdings gibt es die Tendenz, den potenziellen Nutzen dieser Innovationen ausschließlich aufgrund der positiven Erfahrungen zu bewerten, die sie den Beteiligten bieten, oder aufgrund der wertvollen Beiträge, die sie den politischen Institutionen liefern, die sie organisieren. Ohne diese Vorteile in Abrede stellen zu wollen, möchte ich mich hier jedoch auf die Pluspunkte konzentrieren, die deliberative Mini-Öffentlichkeiten nicht nur für die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger, sondern für die Öffentlichkeit insgesamt bieten könnten, wenn sie als Institutionen etabliert würden. Insbesondere möchte ich einige wichtige Beiträge hervorheben, die sie zur Erhaltung einer inklusiven politischen Öffentlichkeit leisten könnten.

Die öffentliche politische Debatte wird meist von mächtigen politischen Akteuren dominiert, deren Interessen jedoch häufig von denen der Allgemeinheit abweichen. Wie bereits erwähnt, hat sich diese Situation mit der Verbreitung von Social Media noch verschlimmert, da diese die Bildung von Filterblasen und Echokammern fördern. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Wissenschaftlerinnen und Praktiker, die mit der Funktionsweise von Bürgerversammlungen und anderen deliberativen Mini-Öffentlichkeiten vertraut sind, von der Qualität der politischen Beratungen begeistert sind, die diese den Teilnehmern sowohl online als auch offline bieten. Mini-Öffentlichkeiten ermöglichen fundierte, qualitativ hochwertige Beratungen über wichtige politische Entscheidungen – durchgeführt von zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, die repräsentativ für die Wähler sind, die diese Entscheidungen betreffen werden. Tatsächlich sind die deliberativen Bedingungen, unter denen die Teilnehmer beraten und ihre Entscheidung treffen – Inklusion, Diversität, Zugang zu verlässlichen und ausgewogenen Informationen, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Orientierung am öffentlichen Interesse –, in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von den Verhältnissen in den meisten Social-Media-Foren, die den Bürgern sonst zur Verfügung stehen. Es ist daher nachvollziehbar, dass sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger, die mit der Funktionsweise von Mini-Öffentlichkeiten vertraut sind, zunehmend dafür begeistern. Würden deliberative Mini-Öffentlichkeiten für eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten auf lokaler, nationaler und sogar transnationaler Ebene etabliert, könnten sie zu einer äußerst wertvollen Ressource für die gesamte Bürgerschaft werden, gerade in einer Zeit, in der die Möglichkeit zu integrativen und unparteiischen politischen Beratungen auf Grundlage fundierter Informationen kaum noch gegeben ist.

Mini-Öffentlichkeiten und Demokratie

Wie könnten Mini-Öffentlichkeiten dazu beitragen, die Inklusivität und die Qualität der Beratung im öffentlichen Diskurs zu verbessern?

Zunächst einmal könnten sie wichtige Aufgaben übernehmen, die sich nicht allzu sehr von jenen unterscheiden, die die traditionellen Medien (früher) erfüllt haben. Wie bei den klassischen Medien würde auch ihr Beitrag nicht darin bestehen, den Bürgerinnen und Bürgern das Denken oder bestimmte Entscheidungen abzunehmen. Vielmehr würden sie die wichtigsten Argumente für und gegen die zur Diskussion stehenden politischen Maßnahmen für alle Bürgerinnen und Bürger besser zugänglich und verständlich machen. Das erreicht man etwa dadurch, dass Mini-Öffentlichkeiten irrelevante oder offenkundig manipulative Erwägungen herausfiltern, die einer öffentlichen Prüfung nicht standhalten können, und gleichzeitig die wichtigsten Informationen, mögliche Kompromisse und langfristige Folgen der verfügbaren Alternativen hervorheben und sie aus verschiedenen politischen Perspektiven bewerten, die bei den Bürgern einer politischen Gemeinschaft auf Resonanz stoßen.

In dem Maße, in dem die zufällig ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Spiegelbild der gesamten Gesellschaft sind, werden die Gründe und Erwägungen, die sie zu ihren Urteilen veranlassen, mit hoher Wahrscheinlichkeit die gleichen sein wie die der übrigen Bürgerinnen und Bürger. Indem die Mini-Öffentlichkeiten die Erwägungen hervorheben, die für die Urteilsbildung zu einer bestimmten politische Frage besonders relevant sind, senken sie nicht nur die Kosten für die Beschaffung dieser Art von Informationen für die Öffentlichkeit, sondern trennen auch die „Spreu vom Weizen“. Das heißt: Die vielen verzerrenden Behauptungen, die strategisch eingesetzt werden, um zu verwirren, anstatt zu informieren, einer deliberativen Prüfung jedoch nicht standhalten, werden aussortiert. Indem sie die verfügbaren Argumente prüfen und ihren Mitbürgern nach sorgfältiger Abwägung ihre Urteile übermitteln, könnten Mini-Öffentlichkeiten so eine konstruktive Rolle bei der Strukturierung des öffentlichen Diskurses spielen. Sie könnten den Informationsfluss im öffentlichen Raum regulieren, indem sie das mühselige Sortieren von Argumenten übernehmen und die Begründungen für die daraus resultierenden Positionen präsentieren. Darüber hinaus sind Mini-Öffentlichkeiten aufgrund ihrer Inklusivität nicht nur in der Lage, für die gesamte Öffentlichkeit akzeptable Argumente zu identifizieren, sondern sie können auch dazu beitragen, die Anliegen von Randgruppen bekannt zu machen, die sonst bei den einflussreichsten politischen Akteuren kaum Gehör finden.

In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht hervorheben, dass Mini-Öffentlichkeiten so vielfältig sind wie die Bürger selbst und ihre Ansichten zu umstrittenen politischen Themen genauso heterogen sein können wie im Rest der Gesellschaft. Das macht sie aber nicht nutzlos. Im Gegenteil. Sie können dem Rest der Bürgerschaft wichtige Informationen zur Verfügung stellen, wenn ihre Überlegungen und Empfehlungen weithin zugänglich gemacht werden. Das Wissen um die Interessen, Werte und Argumentationslinien, die bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Bezug auf strittige politische Fragen auf Resonanz stoßen, ist gerade dann wichtig, wenn wir nicht einer Meinung sind. Denn wenn man die eigentlichen Ursachen für Streitereien und Meinungsverschiedenheiten zu bestimmten politischen Themen kennt – im Gegensatz zu den manipulativen Behauptungen und Pseudoargumenten, die ständig in der Öffentlichkeit kursieren –, weiß man auch, welche Art von Informationen, Belegen, Argumenten oder Gegenargumenten man den Mitbürgern liefern muss, um die öffentliche Debatte über diese Themen voranzubringen. Denn genau dazu sind die Bürgerinnen und Bürger in einer zunehmend fragmentierten und polarisierten Öffentlichkeit kaum noch in der Lage.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine tiefgründige Analyse des Problems siehe Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022.

  2. Siehe z.B. die Beiträge des Symposiums zu Habermas’ „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ in Constellations 1/2023.

  3. Siehe hierzu ausführlich Cristina Lafont, Unverkürzte Demokratie: Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung, Berlin 2021.

  4. Im Folgenden stütze ich mich auf Cristina Lafont, A Democracy, If We Can Keep It. Remarks on J. Habermas’ The New Structural Transformation of the Public Sphere, in: Constellations 1/2023, S. 77–83.

  5. Das geschieht nicht nur im Zusammenhang mit Social-Media-Plattformen, sondern auch mit TV-Nachrichtensendern und anderen Kanälen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In den USA waren Fernsehnachrichten anfangs die Hauptquelle für Falschinformationen zu Covid-19, an zweiter Stelle kam Facebook. Vgl. Robby Berman, TV News Was the Main Source of Early COVID-19 Misinformation For Some in the US, 15.4.2021, Externer Link: http://www.medicalnewstoday.com/articles/tv-news-was-the-main-source-of-early-covid-19-misinformation-for-some-in-the-us.

  6. Tatsächlich betrachten einige Führungskräfte bei Facebook die content moderation als „ihre wichtigste Tätigkeit“. 2019 erklärte Facebook-CEO Mark Zuckerberg, man werde 5 Prozent der Einnahmen, also 3,7 Milliarden Dollar, auf die Moderation von Inhalten verwenden. Vgl. Yi Liu/T. Pinar Yildirim/Z. John Zhang, Implications of Revenue Models and Technology for Content Moderation Strategies, in: Marketing Science 4/2022, S. 663–869. Die Moderation von Inhalten durch Social-Media-Plattformen betrifft nicht nur illegale Inhalte (wie z.B. Urheberrechtsverstöße, kriminelle Aktivitäten oder Fotos von Kindesmissbrauch), sondern auch „Lawful but Awful“-Inhalte, die sich zwar noch im rechtlichen Rahmen bewegen, aber dennoch (moralische) Grenzen überschreiten. Siehe hierzu Daphne Keller, Lawful but Awful? Control over Legal Speech by Platforms, Governments, and Internet Users, in: The University of Chicago Law Review Online, 28.6.2022, Externer Link: https://lawreviewblog.uchicago.edu/2022/06/28/keller-control-over-speech. Für letztere gibt es noch keine einheitlichen Standards, doch die große Mehrheit der Social-Media-Plattformen ist sich einig, dass Inhalte, die Hassrede, Gewaltdarstellungen, sexuelle Ausbeutung, Belästigung, Mobbing oder Drohungen beinhalten, moderiert werden müssen. Auch die unterschiedlichen Einnahmemodelle der Plattformen spielen hier eine wichtige Rolle: Social-Media-Plattformen, die sich über Werbeeinnahmen finanzieren, führen eher eine Inhaltsmoderation durch als abonnementbasierte Plattformen.

  7. Vgl. Leila Hedayatifar et al., US Social Fragmentation at Multiple Scales, in: Journal of the Royal Society Interface 159/2019, Externer Link: https://doi.org/10.1098/rsif.2019.0509.

  8. Um erneut ein Beispiel aus den USA zu nennen: Aktuelle Studien zeigen, dass das Fernsehen und nicht die Social-Media-Plattformen die Hauptursache für eine parteipolitische Spaltung in den USA ist.

  9. In den 2000er Jahren wurden Bürgerversammlungen in den kanadischen Bundesstaaten British Columbia (2004) und Ontario (2006) und in den Niederlanden (2006) ins Leben gerufen, um Vorschläge für Wahlreformen zu diskutieren. Sie lieferten das Vorbild für spätere Versammlungen, die mit einem breiteren Mandat ausgestattet waren, etwa die irische Citizens’ Assembly (2016–2018), die sich mit verschiedenen Themen befasste, unter anderem auch mit der irischen Verfassung, oder der französische Bürgerrat zum Klimawandel (2019 und 2020), der über die Reduzierung der CO2-Emissionen in Frankreich um 40 Prozent diskutierte. Vgl. für einen guten Überblick Min Reuchamps/Julien Vrydagh/Yanina Welp (Hrsg.), Handbook of Citizens’ Assemblies, Berlin 2023.

  10. Neue Kommunikationstechnologien ermöglichen die Skalierung von Online-Beratungen, bei denen zukünftig eine unbegrenzte Anzahl von Teilnehmern gleichzeitig in kleinen Gruppen zusammen beraten könnte. Sollte diese technologische Entwicklung Erfolg haben, könnte sich der Nutzen der in diesen Foren generierten Informationen für politische Debatten vervielfachen, sowohl online als auch offline. Vgl. hierzu z.B. die Stanford Online Deliberation Platform, Externer Link: https://deliberation.stanford.edu/tools-and-resources/online-deliberation-platform.

  11. Würden Mini-Öffentlichkeiten mit verbindlichen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, mit denen eine öffentliche Debatte umgangen werden könnte, würden sie nicht zur Aufrechterhaltung einer demokratischen Öffentlichkeit beitragen, sondern diese untergraben. Für eine ausführliche Diskussion dieser Frage siehe Lafont (Anm. 3).

  12. Diese Informationen könnten den Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung gestellt werden, bevor sie bei Volksentscheiden oder Referenden über die betreffenden politischen Themen abstimmen. Ehrgeizigere Vorschläge sehen die Institutionalisierung von Bürgerversammlungen vor, um die Möglichkeiten der Bürger auszubauen, auch über die entsprechende Agenda mitzubestimmen. Diese Bürgerversammlungen würden die von den Bürgern eingereichten Initiativen prüfen und Empfehlungen an die Parlamente oder andere Stellen abgeben, die verpflichtet wären, die am höchsten eingestuften Optionen umzusetzen. Ich diskutiere verschiedene Vorschläge dieser Art in Cristina Lafont, Which Decision-Authority for Citizens’ Assemblies, in: Reuchamps/Vrydagh/Welp (Anm. 9), S. 47–57.

  13. Vgl. James Fishkin, Democracy When the People Are Thinking, Oxford 2018, S. 72.

  14. Vgl. Simon Niemeyer, Scaling Up Deliberation to Mass Publics: Harnessing Mini-Publics in a Deliberative System, in: Kimmo Grönlund/André Bächtiger/Maija Setälä (Hrsg.), Deliberative Mini-Publics: Involving Citizens in the Democratic Process, Colchester 2014, S. 177–201.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Cristina Lafont für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Harold H. and Virginia Anderson Professor of Philosophy an der Northwestern University. Ihr jüngstes Buch erschien unter dem Titel „Unverkürzte Demokratie. Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung“ 2021 im Suhrkamp Verlag.
E-Mail Link: clafont@u.northwestern.edu