Der Begriff der Digitalisierung bezieht sich einerseits auf die Umsetzung analoger Daten und Informationen in digitale Formate und andererseits auf die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse, die durch den Einsatz digitaler Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) entstehen. Oftmals wird Deutschland in beiden Bedeutungsbereichen der Status eines "digitalen Entwicklungslandes" attestiert,
Im Folgenden wird zunächst der Ausbau der digitalen Infrastruktur sowie der Stand der Digitalisierung in Deutschland in den drei zentralen Bereichen Wirtschaft, Schulbildung und Verwaltung analysiert. Anschließend widmen wir uns drei ausgewählten Faktoren, die den Digitalisierungsgrad eines Landes entscheidend beeinflussen.
Digitalisierung Deutschlands im internationalen Vergleich
Die digitale Infrastruktur bildet die Basis für jedes Digitalisierungsvorhaben und bestimmt den Raum der Entwicklungsmöglichkeiten auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene. Sie umfasst zum einen die grundlegenden informationstechnischen Strukturen wie Breitband- und Mobilfunknetze. Ohne tragfähige, stabile und sichere Netzwerke ist Digitalisierung in vielen Bereichen nicht denkbar. So benennt etwa der E-Government Development Index der Vereinten Nationen die Telekommunikationsinfrastruktur als eine zentrale Dimension für die Bereitstellung elektronischer Dienstleistungen, hier Verwaltungsdienstleistungen.
In der Forschungsliteratur werden Beobachtungen dieser Art auch als "digitale Spaltung" bezeichnet, die häufig mit weiteren Faktoren wie ökonomischen Ressourcen, Alter, Geschlecht oder Bildung einhergeht. Obwohl gerade in wirtschaftlich hochentwickelten Staaten diese Spaltung allgemein abnimmt, bleibt sie für Deutschland ein relevantes Problem: So zeigt zum Beispiel der sogenannte Breitbandatlas, dass es nach wie vor, und insbesondere auf dem Land, Regionen mit nur geringer Breitbandverfügbarkeit gibt. Während in städtischen Räumen mehr als 98 Prozent aller Privathaushalte Zugang zu Anschlüssen mit einer Bandbreite von ≥50 Mbit/s haben, sind dies in ländlichen Räumen nur 82,8 Prozent. Noch größer ist die Differenz für Anschlüsse mit einer Bandbreite von ≥1.000 Mbit/s, mit einer Verfügbarkeit für 78,4 Prozent aller Haushalte in Städten und nur 22,9 Prozent in ländlichen Räumen.
Digitale Infrastruktur hat aber auch eine soziale Dimension und umfasst daher zum anderen strukturelle Rahmenbedingungen, wie etwa die nationale oder organisationale Kultur und die Kompetenzen im Umgang mit digitaler Technik.
Wirtschaft
Wie die vorhandene digitale Infrastruktur genutzt wird, wie also die technischen Netzwerke und digitalen Kompetenzen ausgeschöpft werden, bestimmt weitgehend den Grad der Digitalisierung von Unternehmen und anderen Organisationen – und damit zunehmend die Wettbewerbsfähigkeit eines Wirtschaftsstandortes. Trotz des voranschreitenden Ausbaus digitaler Infrastruktur in Deutschland liegt ihre Nutzung in deutschen Unternehmen häufig unter dem EU-weiten Durchschnitt. Nur 29 Prozent aller Unternehmen in Deutschland teilen ihre Daten und Informationen elektronisch, im EU-weiten Vergleich sind es 36 Prozent. Elektronische Rechnungen stellen nur 18 Prozent der deutschen Unternehmen aus, gegenüber 32 Prozent aller Unternehmen in Europa. Zwar liegt die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (28 Prozent) und Big Data (18 Prozent) leicht über dem Durchschnitt, doch legt eine aktuelle Studie nahe, dass der Grad der Digitalisierung, Robotisierung und Automatisierung
Schule und Bildung
Trotz des Ausbaus digitaler Infrastrukturen verfügten 2018 nur zwischen 19 (Grundschulen) und 34 Prozent der Schulen (weiterführende Schulen und Gymnasien) über Glasfaseranschlüsse, über WLAN verfügte knapp die Hälfte der Schulen. In anderen Ländern wie Finnland, Estland und Dänemark liegen diese Werte deutlich höher – zwischen 70 und 100 Prozent. Auch der Zustand der verfügbaren digitalen Infrastruktur liegt in deutschen Schulen nur im Mittelfeld der EU-Länder: Über schuleigene E-Mail-Adressen verfügte etwa ein Viertel der Schüler*innen – in Schweden, dem Spitzenreiter in dieser Hinsicht, waren es zwischen 91 und 97 Prozent der Schüler*innen weiterführender Schulen.
In kaum einem Bereich scheint die Coronapandemie deutlicher die Digitalisierungsrückstände aufgezeigt zu haben als im Bildungssektor. So zeigen die Ergebnisse des eGovernment Monitor 2021, dass "[eine] deutliche Mehrheit der Eltern [zwar angibt], dass ihre Kinder digitalen Schulunterricht bzw. Lernangebote wahrgenommen haben (…). Zufrieden war aber nicht einmal die Hälfte der Eltern damit. Die größten Hürden stellten Probleme mit der Internetverbindung und mangelnde Digitalkompetenzen bei den Lehrkräften dar".
Verwaltung
Die Fortentwicklung der Verwaltungsdigitalisierung wird regelmäßig durch den bereits erwähnten E-Government Development Index der Vereinten Nationen gemessen. International steht Deutschlands digitale Verwaltung zwar gut da und befindet sich gemeinsam mit Ländern wie Österreich, der Schweiz und Kanada in der Gruppe der Länder mit dem zweithöchsten Digitalisierungsreifegrad. Doch liegt die Bundesrepublik im Vergleich der europäischen Länder nur im Mittelfeld (Rang 17). Besonders fällt auf, dass Deutschland im Teilindex Onlinedienste,
Fasst man die hier deskriptiv präsentierten Ergebnisse zusammen, so zeigt sich sowohl für die digitale Infrastruktur als auch für die drei ausgewählten Bereiche ein heterogenes Bild. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland gut ab, im EU-weiten Vergleich zeigen sich jedoch deutliche Nachholbedarfe. Insbesondere ist festzuhalten, dass der Grad der Digitalisierung für verschiedene Regionen, aber auch für verschiedene Bevölkerungsgruppen in Deutschland nicht gleich hoch ist. Neben dem Zugang zu digitaler Infrastruktur (technische Dimension) ergeben sich insbesondere Unterschiede mit Blick auf den Umgang und die Nutzung digitaler Technik (soziale Dimension).
Rahmenbedingungen der Digitalisierung
Dass die Digitalisierung in Deutschland mit eher geringer Dynamik voranschreitet, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Besonders stark auf den Digitalisierungsgrad wirken unter anderem drei Rahmenbedingungen: Kultur, Kompetenzen und der administrativ-rechtliche Bereich.
Kultur
Gerade der Vergleich des Digitalisierungsgrades in Deutschland mit den nordisch-skandinavischen Ländern und Estland offenbart erhebliche Unterschiede, was den Gedanken nahelegt, die erfolgreichen digitalen Strategien und Lösungen nach Deutschland zu importieren und hier zu implementieren. Doch so einfach ist es nicht. Denn, dies zeigt die aktuelle Forschung, Deutschland und Skandinavien unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres Digitalisierungsfortschritts, sondern auch hinsichtlich kontextueller Faktoren wie der nationalen Kultur.
Kompetenzen
Eng verknüpft mit kulturellen Aspekten ist die Ausbildung und Förderung digitaler Kompetenzen. Mit dem Einsatz digitaler Technik in Unternehmen, in Verwaltungen und in der Bildung verändern sich die Anforderungen an Kompetenzen der Nutzer*innen im privaten wie im beruflichen Umfeld grundlegend. Digitale Kompetenzen bedeuten hier nicht allein technische Fähigkeiten, sondern auch Fähigkeiten im Umgang mit, der Antizipation von und der Anpassung an veränderte Bedingungen des Arbeitens.
Digitale Kompetenzen zu antizipieren und gezielt zu schulen, ist jedoch nicht allein eine Herausforderung für Unternehmen oder Verwaltungen, sondern auch für die Schulbildung und insbesondere die Ausbildung von Lehrkräften: "Eine Qualifizierung von Lehrkräften ist vor allem im Hinblick auf ihre Fertigkeit notwendig, digitale Medien sinnvoll in das Unterrichtsgeschehen einzubetten. (…) Technische Kompetenz ist hier zwar notwendige aber keine hinreichende Voraussetzung für gelingenden medienbasierten Unterricht."
Administrativ-rechtlicher Rahmen
Ein weiterer Faktor schließlich, der den Digitalisierungsgrad eines Landes beeinflusst, ist der administrativ-rechtliche Rahmen, in dem Digitalisierungsprojekte umgesetzt werden können – und damit einhergehend der politische Wille, diese Rahmenbedingungen zu schaffen. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur soll durch das im Dezember 2021 in Kraft getretene Telekommunikationsmodernisierungsgesetz gefördert werden. Insbesondere stellt dieses Gesetz den rechtlichen Anspruch auf einen Zugang zu "Very High Capacity Networks" für Bürger*innen und Unternehmen sicher, sodass in den kommenden Jahren ein erheblicher Ausbau des Glasfasernetzes auch zugunsten von Privathaushalten zu erwarten ist.
Auch andere Bereiche werden derzeit von verschiedenen gesetzlichen Vorhaben und Strategien geprägt: Die Digitalisierung der Wirtschaft und insbesondere der Anschluss kleinerer Unternehmen an den Innovations- und Digitalisierungsgrad großer Unternehmen wird durch die Mittelstandstrategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie gefördert, die Verwaltungsdigitalisierung wird durch das Onlinezugangsgesetz angetrieben, und auch dem Bildungsbereich ist mit dem Digitalpakt ein umfassendes politisches Programm zur Digitalisierung gewidmet. Gleichzeitig beobachtet die Politikwissenschaft "eine Zerfaserung der Interessenvermittlung in diverse Ad-hoc-Kommissionen und Gipfelrunden, die (…) die Bildung einer breiten operativen Konsensbasis und Koordination erschwert".
Fazit
Steckt Deutschland also in einer digitalen Krise? Die eingangs aufgeworfene Frage lässt sich kaum eindeutig beantworten. Zwar ist die Bundesrepublik im internationalen Vergleich gut aufgestellt, fällt auf EU-Ebene jedoch ins untere Mittelfeld ab. Gleichzeitig kann der Blick auf den Digitalisierungsstand anderer Länder nur ein erster Indikator für Nachholbedarfe sein, weil das allein quantitative Benchmarking kontextuelle Faktoren nicht berücksichtigt. Diese sind aber für die Digitalisierung entscheidend und in den europäischen Ländern, aber auch innerhalb der Länder, sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Für Deutschland ergeben sich aus der hier skizzierten Situation zwei zentrale Herausforderungen: Zum einen darf die digitale Transformation nicht zu mehr Ungleichheit führen, digitale Spaltungen aller Art müssen überbrückt werden. Zum anderen darf die digitale Transformation nicht als ein geschlossener Prozess verstanden werden, der mit einigen Strategien und Digitalpaketen zu bewältigen ist. Sie ist vielmehr ein andauernder Prozess ohne klar definierte Start- oder Endpunkte. Dies erfordert eine kontinuierliche politische Begleitung und Anpassung von Strukturen an sich ständig wandelnde Bedingungen. Und vor dieser Aufgabe stehen auch alle anderen Staaten.