Die digitale Transformation stellt repräsentative Demokratien vor große Herausforderungen. Der technologische Wandel medialer Infrastruktur in den 1990er Jahren und das Aufkommen sozialer Medien in den 2000ern haben vielerlei Transformationseffekte nach sich gezogen: Auf staatlicher Ebene erleben wir einen sich gegenseitig verstärkenden Wandel der politischen Öffentlichkeit und des Bürgerschaftsverständnisses hin zu einer "elektronischen", "virtuellen" oder "interaktiven" Demokratie und zu diversen beteiligenden und plebiszitären Formen der Netzwerk-Demokratie beziehungsweise der "vernetzten" Demokratie.
Beispielhaft lässt sich das an der digitalen Transformation von Parteiorganisation und -kommunikation in einer diversifizierten Parteiendemokratie und an Reformen des Wahlverfahrens zeigen. Im Rückblick wird hier offenbar, dass digitale Entwicklung nicht linear verläuft und der technologische Entwicklungsprozess alleine nicht genügt, um substanzielle Veränderungen anzustoßen: Immer wieder bedarf es externer Schocks, um Innovation und Wandel zu motivieren. Typische Beispiele dafür sind etwa das Aufkommen der Piratenpartei (das zu einer programmatischen Aufwertung von Digitalthemen geführt hat), der Skandal um die Enthüllungen Edward Snowdens (der die Eingriffstiefe digitaler Technologie in die Sphäre privater Kommunikation verdeutlicht hat) oder zuletzt die Coronapandemie, in deren Folge zentrale Routinen und Praktiken der Parteiarbeit erschwert oder sogar unmöglich gemacht wurden und Bürger:innen ihr politisches Engagement zunehmend in den zivilgesellschaftlichen Raum verlagert haben. Während die Bundesregierung in der Pandemie wegen ihrer häufig wenig kohärenten Regierungskommunikation in die Kritik geriet,
Entlang ausgewählter Aspekte skizzieren wir im Folgenden einige der auch durch den externen Druck der Pandemie "erzwungenen" Innovationsprozesse. Im Fokus stehen die Wahlkampf- und Kampagnenkommunikation, die Beteiligung von Mitgliedern an Meinungs- und Willensbildungsprozessen, zentrale innerparteiliche Prozesse wie die Programmentwicklung und die Auswahl des Führungspersonals, aber auch das neuerliche Aufkommen sozialer Bewegungen und neuer Protestformen als Alternativmodelle der politischen Teilhabe in der digitalen Parteiendemokratie.
Kampagnen- und Wahlkampfkommunikation
Der Einsatz digitaler Werkzeuge zur Mobilisierung von Wähler:innen ist keineswegs ein neues Phänomen, er hat aber, nicht zuletzt durch die Coronapandemie, im Bundestagswahlkampf 2021 abermals Aufwind erhalten. Bürger:innen sind digital immer besser erreichbar, sodass Online-Formate zunehmend zu einem integralen Bestandteil des Wahlkampf-Instrumentariums geworden sind. Digitaler Wahlkampf allgemein und Social-Media-Wahlkampf im Besonderen bilden dabei eigene Logiken heraus.
Die Hashtags #LaschetLacht und #GrünerMist können als die entscheidenden Online-Momente des Wahlkampfs gelten, sie stellen sogar die digitalen Reaktionen auf die Trielle der Spitzenkandidat:innen in den Schatten.
#LaschetLacht, später auch umgewandelt in #LaschetLügt, war die Reaktion auf ein von vielen als unangemessen empfundenes Lachen von Armin Laschet während einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Flutkatastrophengebiet des Ahrtals. Der Hashtag verbreitete sich vor allem auf Twitter rasend schnell,
Der Hashtag #GrünerMist und die dazugehörige Plakatkampagne haben wiederum gezeigt, dass Negativkampagnen auch von parteiexternen Akteur:innen organisiert werden können, ohne dass Schaden am eigenen politischen Favoriten entsteht. Während der Kampagne #GrünerMist wurden gezielt die Positionen der Grünen attackiert und die Partei als bevormundende Verbotspartei diffamiert. Zur Verbreitung wurden zusätzlich mit geringem finanziellem Aufwand reichweitenstarke Werbeanzeigen bei Facebook gekauft. Initiiert und finanziert wurde die Kampagne durch eine Einzelperson, den Geschäftsführer der Medienfirma Conservare Communication, die der AfD nahesteht, aber nicht offiziell durch die Partei beauftragt wurde.
Gestärkte Mitgliederpartizipation
Trotz aller Überlegungen zur Öffnung von Parteien und ihrer Strukturen ist die formelle, auf Dauer angelegte Mitgliedschaft bis heute von zentraler Bedeutung für innerparteiliche Partizipation. Eine demokratische Mitgliederorganisation ist nicht nur durch das Parteienrecht vorgeschrieben, sondern gehört auch zum Selbstverständnis der Parteien.
Unter den Bedingungen der Pandemie haben die Parteien aber bewiesen, dass sie bereits über eine Vielzahl von Softwarelösungen und über eine geeignete technische Infrastruktur verfügen. Mitgliederpartizipation war weiterhin möglich, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, wie eine Befragung von Parteimitgliedern zeigte:
Die Mitgliederparteien befinden sich demnach in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite stehen gesellschaftliche Erwartungen an eine moderne, anpassungsfähige Organisation, die auch für potenzielle Mitglieder interessant ist.
Digitale Entscheidungspraktiken
Seit der ersten Welle der Coronapandemie im März 2020 haben mehrere Wahlen stattgefunden, doch sind weder die verschiedenen Kommunal- und Landtagswahlen noch die Bundestagswahl 2021 "digital transformiert" worden – bis auf wenige Beispiele (etwa die Kommunalwahl in Bayern, die ausschließlich als Briefwahl durchgeführt wurde) gab es kaum Unterschiede zur Stimmabgabe an traditionellen Wahlsonntagen. Und dennoch haben in dieser Zeit zahlreiche Abstimmungen, Programmdiskussionen und Personalwahlen auf Parteiebene in digitaler Form stattgefunden.
Selbstverständlich ist es notwendig, diese teildigitalen Wahlvorgänge so zu gestalten, dass sie technisch solide, benutzerfreundlich, manipulationssicher sowie datenschutz- und parteienrechtskonform sind. Das sind keine kleinen Aufgaben, doch jüngere Erfahrungen mit Online-Abstimmungen geben nun eine Richtung vor. Begünstigend hat sich ausgewirkt, dass solche Abstimmungsvorgänge eher wenig komplex und von vergleichsweise überschaubarem Umfang sind: Meist handelt es sich um einfache Ja-Nein-Fragen oder Personenwahlen mit einem kleinen Kandidierendenfeld. Auch sind die Delegiertenzahlen auf Parteitagen selten vierstellig, und selbst bei den Befragungen der mitgliederstarken Parteien sind nur wenige hunderttausend Stimmen zu erfassen. Und doch liegen in den pandemisch erzwungenen digitalen Entscheidungspraktiken die Keimzellen für künftige Entwicklungsschritte – möglicherweise sogar bis hin zu "echten" politischen Wahlen.
Denn tatsächlich experimentieren die Parteiorganisationen längst mit neuen Formen der "Fernwahl" – die es in Deutschland bereits seit den 1950er Jahren in Gestalt der Briefwahl gibt. Diese Parallele ist nicht unwichtig, denn genau diese Variante der Stimmabgabe jenseits des Wahllokals erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Bei der Bundestagswahl 2021 wurden 47,3 Prozent der Stimmen per Wahlbrief abgegeben.
Machtzuwachs für Parteieliten
Parteitage und Aufstellungsverfahren waren in der Pandemie in der gewohnten Form als Präsenzveranstaltung nicht realisierbar, digitale Substitute der Ausweg.
Was sich allerdings eindrücklich zeigt, ist, dass die Grenzen von Parteien durchlässiger werden. Durch die organisatorische und personelle Verkopplung mit sozialen Bewegungen, das Engagement von Affiliierten, die Arbeit von Nicht-Mitgliedern oder auch die Inaktivität von Mitgliedern lässt sich häufig gar nicht mehr so eindeutig sagen, welche Personen die Parteien letztendlich verkörpern.
Konnektives Handeln im Umfeld der Parteien
Die skizzierte Entwicklung von der elektronischen zur vernetzten Demokratie hat auch die Logik der politischen Mobilisierung und Partizipation in und durch politische Intermediäre verändert. Diese Logik zu übersetzen, gelingt besonders gut informalen und flexiblen Organisationen wie Bewegungen und aktivistischen Initiativen (hashtag activism), aber auch solchen (neuen) Parteien, die ihre Wurzeln in sozialen und Online-Bewegungen haben oder eine enge Kooperationspraxis mit ihnen pflegen. Der Grund hierfür liegt im konnektiven, vernetzten Handeln:
Digitalisierung hat die Schwelle für kollektive Aktionen gesenkt, und zwar sowohl durch virale Kommunikations- und Mobilisierungsmöglichkeiten über soziale Medien als auch durch digitale Deliberation und Entscheidungsfindung auf Plattformen.
Neue Parteien und Bewegungen, die sich diese konnektive Logik zu Eigen gemacht haben und auf netzwerkartige Aushandlungsprozesse sowie auf internetbasierte Technologien setzen, stehen für diese Entwicklung. Häufig haben sie sich direkt aus Bewegungsorganisationen heraus gegründet,
Ausblick
Der Weg in die digitale Demokratie bleibt für die Parteien als zentrale Vermittlungsinstanzen und Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Staat weit. Die wechselseitige Interaktion mit eher informellen und spontanen, aber im Vorfeld der Parteien immer präsenter werdenden Organisationen wie Bewegungen oder aktivistischen Initiativen wird diesen Weg und die Art und Weise, wie in der deutschen Parteiendemokratie künftig Entscheidungen gefällt werden, prägen. Die genannten Beispiele zeigen, wie Digitalisierung die Öffnung und Fluidität von Partei(mitglieder)organisation sowie die Neugründung weniger formalisierter kollektiver Akteure und Bewegungen und die spontane Artikulation von politischem Protest in kurzfristig geplanten Aktionen und "viralen Netzwerken"
Diese Entwicklungen hin zu einer digitale(re)n Demokratie werden auch Auswirkungen auf die repräsentative Demokratie haben. Mit einer digitalen Transformation der Parteien sind auch Folgen für das politische System und die Demokratie insgesamt verbunden – jedenfalls so lange, wie politische Parteien die zentralen Akteure im demokratischen Gefüge sind. Die Parteien können daher als ein wesentlicher Treiber der Digitalisierung der Demokratie in Deutschland begriffen werden – was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass ein "Niedergang der Parteien" unvermeidlich Folgen für die "digitale Konstellation" des politischen Systems hätte.
Die fortschreitende Hybridisierung der digitalen Demokratie führt zweifellos zu einer Normalisierung der Verschränkung von Offline- und Onlineelementen in den beschriebenen Dimensionen. Die damit verbundene Dezentralisierung ist jedoch nicht mit Demokratisierung gleichzusetzen, auch nicht mit einer Effizienzsteigerung bei der politischen Entscheidungsfindung. Ebenso bewirken Interaktivität und Unmittelbarkeit digitaler Kommunikation nicht notwendigerweise deliberative Teilhabe. Denn die prozedurale Qualität diskursiver Verfahren folgt den jeweiligen Plattformlogiken. Diese Ambiguität digitaler Demokratie gilt es zu adressieren. Die genannten Veränderungen der Intermediäre in Richtung eines Aussterbens von Parteien oder ihres Verschmelzens mit anderen Vermittlungsinstanzen sind eine weitere Folge. Für die Qualität der Demokratie als einem auf Aggregations- und Vermittlungsleistung durch Parteien angewiesenen Repräsentativsystem könnte eine Aushöhlung dieses Systems beträchtliche Folgen haben.
Wir danken Sarah Jansen für die redaktionelle Mitarbeit.