"Wir leben auch deswegen in dunklen Zeiten, in denen das Projekt der Aufklärung und des demokratischen Rechtsstaates gefährdet ist, weil soziale Medien, Künstliche Intelligenz und andere Formen der digitalen Verzerrung des menschlichen Geistes um sich greifen, die Wahrheit, Tatsachen und Ethik teilweise aktiv und gezielt unterminieren."
Beklagt werden unter anderem die Verrohung öffentlicher Diskurse (Hate Speech), eskalierende Kommunikationsdynamiken (Shitstorms), eine Polarisierung in den Auseinandersetzungen, Verstöße gegen das Wahrheitsgebot (Fake News), die Verbreitung irrationaler Erklärungsmuster (Verschwörungstheorien), Ungleichheiten in der Nutzung des Internets (digitale Spaltung), die algorithmische Manipulation der öffentlichen Meinungsbildung (Social Bots) sowie der Zerfall einer geteilten Öffentlichkeit (Echokammern, Filterblasen). Inwiefern diese Befürchtungen zutreffen, ist mittlerweile Gegenstand umfangreicher empirischer Forschung,
Was bedeutet "Öffentlichkeit"?
"Öffentlich" meint zunächst die allgemeine, für alle freie Zugänglichkeit von Wissen und Kommunikation (in Abgrenzung zu "privat" oder "geheim").
Die prinzipielle Offenheit führt dazu, dass der Verlauf öffentlicher Kommunikation nur schwer überschaubar und vorhersehbar ist. Für die Beteiligten entsteht daraus ein hohes Maß an Unsicherheit. Aus Vorsicht muss daher immer unterstellt werden, dass einmal Publiziertes bereits allgemein bekannt und folgenreich ist.
Die Offenheit für Beteiligte und die Wechselhaftigkeit von Themen machen die Öffentlichkeit zu einer Unsicherheitszone und die Medien zum Unruheherd der Gesellschaft. Genau darin liegt ihre Funktion. Dem Soziologen Niklas Luhmann zufolge dienen Medien der "Erzeugung und Verarbeitung von Irritation. (…) Massenmedien halten (…) die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneuerte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen".
Öffentlichkeit in der liberalen Demokratie
Zwischen liberaler Demokratie und Öffentlichkeit besteht ein enger Zusammenhang: In der Sphäre der Öffentlichkeit sollen die demokratischen Entscheidungen über öffentliche Angelegenheiten vorbereitet werden, die für alle verbindlich sind und für die eine Beteiligung oder zumindest Kontrolle aller Bürger*innen erforderlich ist. Damit unterscheidet sich die Öffentlichkeit einerseits von der Sphäre der Privatheit, in der Individuen autonom und weitgehend ohne Kontrolle oder Rechtfertigung gegenüber dem Kollektiv entscheiden können. Andererseits unterscheidet sich die Öffentlichkeit von den formellen Beratungs- und Entscheidungsverfahren der Demokratie. Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers findet hierfür die paradoxe Formulierung: "Der demokratische Wille ist auf eine Öffentlichkeit angewiesen, die nicht demokratisch funktioniert." Eine "Verstaatlichung" würde der Öffentlichkeit Freiheit und Informalität nehmen: "Ihre Demokratisierung wäre für die Demokratie selbstzerstörerisch."
Auch der Philosoph Jürgen Habermas betont die besondere Funktion der ungebändigten Öffentlichkeit, die als Arena den formellen Beratungen und Entscheidungen im staatlichen Kern vorgeschaltet ist: "Nationale Öffentlichkeiten verkörpern sich in Netzwerken, durch die 'wilde', d.h. insgesamt unorganisiert aufeinandertreffende Kommunikationsströme fließen. (…) Politische Öffentlichkeiten verbreiten ein babylonisches Stimmengewirr; aber sie zerstreuen nicht nur, sondern haben zugleich eine zentripetale Kraft. Sie kondensieren aus Strömen von politischen Botschaften 'öffentliche Meinungen'. Diese lassen sich als Synthesen aus ungezählten themenspezifischen Stellungnahmen eines diffusen Massenpublikums zu mehr oder weniger gut definierten öffentlichen Problemen und Beiträgen begreifen."
Die Sphäre der Öffentlichkeit besitzt nur schwache Strukturen, was die Dynamik von Themenkarrieren und Meinungsbildungsprozessen begünstigt. Strukturen der Öffentlichkeit sind zum Beispiel Rollen, Ebenen und Phasen. Journalistische Medien sind – ebenso wie Parteien, Verbände und Bewegungen – Intermediäre, die zwischen Bürger*innen und politischen Entscheidungsträgern vermitteln, und zwar in beide Richtungen: Einerseits vermitteln sie gesellschaftliche Interessen, andererseits politische Entscheidungen.
Die Ebenen der Öffentlichkeit lassen sich nach Größe und Struktur unterscheiden, wobei die Medienöffentlichkeit die höchste Reichweite hat; außerdem sind hier professionelle Leistungsrolle (Journalismus) und Publikumsrolle klar getrennt. Die Zahl der Teilnehmer*innen und die Fixierung von Rollen nimmt "von oben nach unten" ab: von Versammlungsöffentlichkeiten als organisierten Ereignissen bis hin zu "Encounter-Öffentlichkeiten", die sich spontan bilden und auch rasch wieder zerfallen. Das Verhältnis zwischen Medien und Politik lässt sich weiterhin nach den Phasen des politischen Prozesses (Policy Cycle) beschreiben.
Neben der öffentlichen Meinungsbildung zu einem Streitthema ist auch die individuelle Meinungsbildung zu berücksichtigen, also die Nutzung und Wirkung politischer Kommunikation auf der Seite der Bürger*innen. Dabei stehen öffentliche und individuelle Meinungsbildung, Makro- und Mikroebene in einem Verhältnis der Wechselwirkung:
Normative Anforderungen
Die normative Bedeutung von Öffentlichkeit für die liberale Demokratie baut auf diesen deskriptiven Bestimmungen auf und ergänzt sie um Anforderungen, die sich von normativen Demokratie- und Öffentlichkeitstheorien ableiten lassen.
Nach der liberalen Theorie kommt es nicht darauf an, dass sich jede*r Bürger*in öffentlich zu Wort meldet. Es genügt, wenn Repräsentant*innen die vorhandene Vielfalt der Themen und Meinungen angemessen wiedergeben. Eine Validierung der Argumente im öffentlichen Diskurs wird nicht verlangt. Bei unauflösbaren Interessengegensätzen reicht ein Kompromiss als Ergebnis. Die partizipatorische Theorie betont die Teilhabe als Selbstwert. Die deliberative Theorie geht über diese Forderungen hinaus: Sie verlangt einen rationalen, respektvollen und herrschaftsfreien Diskurs, in dem die zwanglose Überzeugungskraft der besseren Argumente – im besten Fall – zu einem Konsens führt. In der Tabelle werden die Anforderungen aufgelistet, und zwar getrennt nach Rezeption und Kommunikation. Abgeleitet werden einzelne Werte, die als Qualitätsmaßstab dienen können.
Digitaler Wandel der Öffentlichkeit
Wie die Verwirklichungsbedingungen für die genannten Werte sind, hängt stark von den verfügbaren Medien ab, mit deren Hilfe Öffentlichkeit hergestellt wird. Im 19. Jahrhundert entstand die Massenpresse. Damals wurde es möglich, Zeitungen und Zeitschriften schnell und in hoher Auflage zu drucken, billig zu verkaufen und damit Menschen aller Schichten zu erreichen. Im 20. Jahrhundert folgten mit Radio und Fernsehen elektronische Rundfunkmedien. Diese Massenmedien stellen Öffentlichkeit her, indem sie standardisiert für ein disperses (verstreutes) und weitgehend passives (nur rezipierendes) Massenpublikum Nachrichten und Kommentare bereitstellen. In dieser Massenkommunikation sind Beteiligung und Sichtbarkeit allerdings nicht beidseitig, sondern nur einseitig verwirklicht. Daher stellen Massenmedien eigentlich nur eine halbierte Öffentlichkeit her; das Versprechen der Teilhabe wird für das Publikum nur für die rezeptive Seite eingelöst. Es bleibt aufgrund seiner erzwungenen Passivität auch weitgehend im Dunkeln, also außerhalb der Öffentlichkeit. Redaktionen der Massenmedien sind unter diesen Umständen machtvolle Schleusenwärter (Gatekeeper), weil sie über die Auswahl von Themen und Meinungen entscheiden können.
Die Digitalisierung hat aus zwei Gründen einen hohen Stellenwert für die politische Öffentlichkeit in der liberalen Demokratie: Zum einen eröffnet sie Akteuren in allen politischen Rollen – zumindest rein technisch – die Möglichkeit zur eigenen Kommunikation. Damit wird die halbierte Öffentlichkeit der Massenmedien vervollständigt, weil nun auch das Publikum kommuniziert und sichtbar wird. Das Gatekeeper-Monopol der Massenmedien geht verloren, weil in der digitalen Netzwerköffentlichkeit Redaktionen umgangen werden können. Diese oft als Demokratisierung begrüßte Erweiterung des Zugangs zur Öffentlichkeit gelingt vor allem mit der Hilfe sozialer Medien. Dies aber verleiht digitalen Plattformen wie Facebook, Instagram, Youtube oder Twitter erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung. Weil sie ökonomischen Imperativen folgen, zeigen sie bisher wenig Bereitschaft, Verantwortung für die liberal-demokratische Öffentlichkeit zu übernehmen.
Zum anderen expandiert mit der Digitalisierung der Bereich der mediatisierten politischen Kommunikation: Präsenzkommunikation mit wenigen Beteiligten – sei es in zufälligen Begegnungen unter Fremden (Encounter-Öffentlichkeit) oder in organisierter Form (Versammlungsöffentlichkeit) – wird in den digitalen Raum verlagert. Während in der Öffentlichkeit der traditionellen Massenmedien vor allem ein Elitendiskurs stattfindet, der durch Vertreter*innen von Parteien, Parlamenten und Regierungen bestimmt wird, integriert das Internet den gesamten Prozess der demokratischen Meinungsbildung
Mit der Digitalisierung entsteht aber keine eigenständige Welt neben der alten, analogen Medienwelt. Vielmehr bilden traditionelle Massenmedien und professioneller Journalismus mit den neuen digitalen Formen eine hybride Öffentlichkeit,
Verwirklichung von Werten
Verwendet man die oben abgeleiteten Werte der liberalen Demokratie als Maßstab und zieht die empirische Forschung zur Prüfung heran, dann lassen sich erhebliche Qualitätsdefizite in der digitalen Öffentlichkeit ausmachen:
(1) Informationsqualität: Die Recherche, Prüfung und Verbreitung von Nachrichten ist die Kernaufgabe des professionellen Journalismus. Bisher schöpft er das technische Potenzial für eine höhere Informationsqualität im Internet nicht aus. Was ihn daran hindert, ist eine schwere ökonomische Krise, ausgelöst durch die Konkurrenz mit digitalen Plattformen auf dem Werbemarkt und die "Gratismentalität" der Nutzer*innen.
(2) Diskursqualität: Die vielfach beklagte Verrohung öffentlicher Diskurse im Internet
(3) Freiheit: Die Vorstellung, dass die Internetöffentlichkeit eine Sphäre grenzenloser Freiheit ist, hat sich längst als Cyberutopie herausgestellt.
(4) Gleichheit: Alle Gruppen der Gesellschaft sollen die gleiche Chance haben, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Die Frage der Gleichheit stellt sich im Internet auf vielfältige Weise.
(5) Vielfalt: Anders als im Fall der Gleichheit, die sich auf die Beteiligungschancen bezieht, wird hier das Ergebnis, die inhaltliche Vielfalt des Publizierten in den Blick genommen, etwa die Themen- und Meinungsvielfalt. Die vorhandene Angebotsvielfalt muss zudem in Nutzungsvielfalt auf Seiten des Publikums "übersetzt" werden. Auch im Internet gibt es eine Reihe vielfaltsmindernder Faktoren, zum Beispiel die Ressourcenschwäche vieler Redaktionen, die nur wenige exklusive Inhalte publizieren (und stattdessen eher Stoff aus Presse und Rundfunk zweitverwerten), die nach wie vor starke Agenda-Setting-Wirkung traditioneller Massenmedien, deren Inhalte in den sozialen Medien weiterverbreitet werden, die Ko-Orientierung zwischen Anbietern (durch Aggregatoren wie Google News oder Leitmedien wie Spiegel Online) sowie das begrenzte Repertoire der Nutzer*innen, die nur einen Bruchteil der Angebotsfülle registrieren und verarbeiten können.
(6) Verteilung von Meinungsmacht: Meinungsmacht ist die Fähigkeit zur absichtsvollen Beeinflussung der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung.
(7) Kritik und Kontrolle: Nach liberaler Vorstellung müssen Staat und gesellschaftliche Kräfte durch Kritik und Kontrolle begleitet werden. Transparenz über das Handeln der Mächtigen stellen der investigative Journalismus und das Fact-Checking her. Transnationale journalistische Recherche-Netzwerke haben sich in den vergangenen Jahren um Kritik und Kontrolle im globalen Maßstab verdient gemacht.
(8) Integration: Die liberale Demokratie braucht eine gemeinsame Sphäre der Öffentlichkeit, in der alle Bürger*innen ihre Aufmerksamkeit auf die gleichen Themen von öffentlichem Interesse richten. Außerdem sollen sie das Spektrum der unterschiedlichen Meinungen zu einer Streitfrage kennen. Ein Zerfall dieser Öffentlichkeit kann zwei unterschiedliche Ursachen haben: Entweder geschieht dies, weil Nutzer*innen nach eigenen Präferenzen selektieren, indem sie zum Beispiel nur solche Meinungen registrieren, die sie in ihren Auffassungen bestätigen, oder nur solche Themen, für die sie sich besonders interessieren. Oder aber Algorithmen übernehmen die Selektion, und zwar so, dass Nutzer*innen gar nicht merken, dass andere Nutzer*innen nicht die gleichen Themen und Meinungen zu sehen bekommen. Im ersten Fall geht es um die Bildung von Echokammern, in denen Gleichgesinnte unter sich bleiben, im zweiten Fall um Filterblasen, also um personalisierte Informationsumwelten. Beide Phänomene scheinen aber weniger relevant zu sein, als gemeinhin angenommen wird. Ein Forschungsüberblick zeigt, dass "die tatsächliche Tragweite von Filterblasen und Echokammern weithin überschätzt wird". Die größere Bedrohung ist die "verzerrte Wahrnehmung des Meinungsklimas in sozialen Medien", welche die Massenmedien durch ihre Berichterstattung zusätzlich verstärken. Dies fördert eine "lautstarke Minderheit".
(9) Sicherheit: Mit dem Internet verbindet sich eine Reihe von Sicherheitsrisiken (etwa Cyberwar, -terrorismus, -kriminalität). Staatliche Maßnahmen sollen diese minimieren, gehen aber ihrerseits oft auf Kosten der Freiheit, wie etwa das Beispiel der Vorratsdatenspeicherung zeigt.
Ausblick: Regulierung und Vermittlung
Diese Zwischenbilanz zur Werteverwirklichung in der digitalen Öffentlichkeit hat an mehreren Stellen Defizite erkennen lassen. Es ist offensichtlich geworden, dass die erweiterte Partizipation nicht nur zur Demokratisierung beiträgt, sondern auch eine dunkle Seite hat.
Journalismus sollte in der digitalen Öffentlichkeit eine größere Außenorientierung haben und stärker mit seiner Umwelt interagieren als in der linearen Massenkommunikation. Neben das Recherchieren, Prüfen, Selektieren und Verbreiten von Nachrichten treten daher weitere Aufgaben wie das Kuratieren fremder Inhalte, etwa beim Fact-Checking, sowie das Organisieren und Moderieren öffentlicher Diskurse unter Beteiligung der Bürger*innen. Redaktionen müssen sich darauf einstellen, ihre digitalen Angebote permanent weiterzuentwickeln, parallel über mehrere Kanäle zu kommunizieren und ihre Erkennbarkeit als Qualitätsanbieter sicherzustellen, dem das Publikum hohes Vertrauen entgegenbringt. Einerseits ist der professionelle Journalismus also auch in der digitalen Öffentlichkeit von großer Bedeutung für die liberale Demokratie. Andererseits herrscht derzeit aber große Ratlosigkeit darüber, wie er künftig finanziert werden kann.