Bei der Deutschen Bahn sorgten 2021 drei Streikwellen für großes Aufsehen und viel Ärger. Züge standen still, Lieferketten wurden kurzfristig unterbrochen, Reisende warteten auf den Bahnsteigen oder waren vorsorglich auf andere Transportmittel umgestiegen. Die Gewerkschaft der deutschen Lokomotivführer (GDL) streikte für einen besseren Tarifvertrag, als ihn die größere Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) zuvor verhandelt hatte. Auch wenn hierzulande manchmal große Streiks stattfinden, fällt die Streikhäufigkeit im internationalen Vergleich so gering wie nur in wenigen anderen Ländern aus. Deutschland gilt als das Land der Sozialpartnerschaft und der kooperativen Arbeitsbeziehungen. Diese zielen darauf, die Interessen zwischen Beschäftigten und Unternehmen möglichst in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Dennoch musste sich die Öffentlichkeit seit 2007 an heftige Tarifkonflikte bei der Bahn schon fast gewöhnen.
In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, warum gerade bei der Deutschen Bahn die traditionell kooperativen Arbeitsbeziehungen seit nunmehr 15 Jahren aufs Abstellgleis geraten sind und Streiks so unerbittlich verlaufen. Daran knüpft als zweite Frage an, ob das seit 2015 geltende Tarifeinheitsgesetz eine Lösungsperspektive für diese Konfliktstruktur bietet.
Bei der Bahn existieren seit etwa 2002 zwei konkurrierende Gewerkschaften, die sich in einem Überbietungswettbewerb befinden. Neben den "üblichen" Konflikten um Inhalte von Tarifverträgen (Geld, Zeit, Arbeitsbedingungen) geht es um die grundsätzliche Frage, wer die Arbeitsbeziehungen gestalten darf: Auf der einen Seite steht die dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angehörende EVG. Sie versteht sich als Industrie- und Einheitsgewerkschaft, die Beschäftigte aller Berufe und Ebenen des Unternehmens vertritt und mit einer auf Co-Management ausgerichteten Tarifpolitik den Umbau des DB-Konzerns begleitet. Mit rund 180.000 Mitgliedern ist sie die stärkere Akteurin und vertritt mit ihrer weitgefassten Mitgliederstruktur ein inklusives Solidaritätsverständnis.
Auf der anderen Seite tritt als zweite Akteurin die dem Deutschen Beamtenbund (DBB) angehörende GDL auf. Sie entwickelte sich ab Anfang 2000 von einem 1867 gegründeten Berufsverband zu einer eigenständigen Tariforganisation. Sie vertritt primär die Lokführerinnen und ist trotz ihrer Ambitionen, auch das Fahrpersonal zu vertreten, sehr homogen strukturiert. Zwar verfügt sie nur über rund 38.000 Mitglieder, gleichwohl liegt ihr Organisationsgrad bei Lokführerinnen sehr hoch. Sie versucht, der EVG den Rang als führende Bahngewerkschaft streitig zu machen. Ihr Markenzeichen ist eine konfrontative, auf die eigenen Mitglieder zugeschnittene Politik, die der Konzernführung skeptisch gegenübersteht und den Umbau des DB-Konzerns vielfältig kritisiert.
Letzteres ist neben dem Inhalt der Tarifverträge und dem Grundsatzstreit um die Vorherrschaft im Konzern die dritte Konfliktebene. In knapp 30 Jahren hat sich die DB von einem aus der nationalen Daseinsvorsorge stammenden Verkehrsunternehmen mit einem ausgeprägten Beamtentum, das ein gefestigtes Berufsbild besaß, zu einer global agierenden Wettbewerberin auf dem internationalen Mobilitätsmarkt gewandelt. Somit spiegelt der Konflikt um die Zukunft der Arbeitsbeziehungen bei der Bahn auch den Strukturwandel von Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland wider und ist mithin ein Schlüssel für dessen tieferes Verständnis.
Modernisierung, Privatisierung und Liberalisierung der Bahn
Die 1993 von einer breiten parlamentarischen Mehrheit beschlossene Bahnreform bereitete den Weg für eine umfassende Neugestaltung des deutschen Eisenbahnmarktes. Die ehemals staatlichen Unternehmen Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn wurden zur privatrechtlich organisierten Aktiengesellschaft Deutsche Bahn (DB AG) zusammengeführt. Heute ist die DB eine weltweit, vor allem aber in Europa, Asien und Nordamerika tätige Mobilitätsdienstleisterin und Infrastrukturentwicklerin. In Deutschland stellt die DB im Nah- und Fernverkehr die Mobilität von Millionen Bundesbürgerinnen sicher und ist Teil der Lieferketten im Güterverkehr. Die DB übernimmt somit wirtschaftliche, aber auch sozialpolitische Funktionen.
Den Ausschlag für die Bahnreform gaben fiskalpolitische Argumente zur Haushaltssanierung. Zwar konnte temporär die Verschuldung gestoppt werden, heute zeichnet sich die Bahn jedoch erneut durch einen enormen Investitionsstau und hohe Verschuldung aus. Die Bahnreform sollte auch zu einer weiteren Harmonisierung des Schienenverkehrs in Europa beitragen. Der europäische Gesetzgeber drängte auf die Etablierung von Wettbewerb durch ein Aufbrechen der monopolistischen Unternehmensstrukturen im Schienenverkehr der Mitgliedsstaaten.
Mit dem Umbau und der Fusion zur DB AG wurden zwischen 1994 und 2002 rund 130.000 Stellen abgebaut. Korporatistische Arrangements zwischen Unternehmen, Politik und Gewerkschaften ermöglichten einen Abbau ohne Entlassungen. Mit dem Stellenabbau ging ein starker Wandel des Berufsbildes einher. Die DB versteht sich heute als modernes Dienstleistungsunternehmen. 2020 waren weltweit 322.800 Mitarbeiterinnen beschäftigt, 36 Prozent davon außerhalb Deutschlands.
Aufstieg der Berufsgewerkschaften
Durch den Umbau der Bahn und die veränderte Unternehmensstruktur haben sich auch die Akteurinnen maßgeblich verändert, die das Unternehmen gestalten und prägen. Waren die meisten Bahn-Beschäftigten zum Zeitpunkt der Privatisierung noch Beamtinnen, so wurden danach neue Beschäftigte grundsätzlich im Angestelltenverhältnis eingestellt. Zugleich differenzierten sich Berufsbilder aus, neue Berufszweige entstanden und gewerkschaftliche Zuständigkeiten veränderten sich.
Grundsätzlich können drei Idealtypen von Gewerkschaften unterschieden werden:
Seitdem die Vereinigung Cockpit 2001 für Pilotinnen einen eigenständigen Tarifvertrag abschließen konnte, stehen die Industrie- und Branchengewerkschaften in Deutschland vor einer neuen Herausforderung: der Überbietungskonkurrenz durch einzelne Berufsgewerkschaften. Deren Transformation von Berufsverbänden zu -gewerkschaften vollzog sich im Kontext weitreichender Veränderungen von Berufsprofilen und Branchen, reagierte zugleich aber auch auf die Entwicklung der DGB-Gewerkschaften. Denn durch den Zusammenschluss von fünf Gewerkschaften zur neuen Großorganisation der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) entstand bei den Berufsverbänden der Eindruck, dass ihre spezifischen Interessen nun kaum noch berücksichtigt würden.
Im Bahnsektor kamen Liberalisierung, Privatisierung und Modernisierung, die mit der Fusion von Reichsbahn und Bundesbahn einhergehenden Veränderungen sowie die Unzufriedenheit über das Ende der Verbeamtung zusammen. Als weitere Ursache für die Transformation der GDL kam das Agieren der DGB-Gewerkschaften hinzu.
Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität
Bis 2010 ging die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) von dem Grundsatz der Tarifeinheit – "ein Betrieb, ein Tarifvertrag, eine Gewerkschaft" – aus, der das bundesdeutsche Tarifwesen grundsätzlich strukturierte. Der Anspruch konkurrierender Gewerkschaften auf eigenständige Tarifverträge zielte darauf, diesen Grundsatz abzuschaffen. Das BAG reagierte 2010 tatsächlich mit der Akzeptanz von Tarifpluralität – also der Geltung unterschiedlicher Tarifverträge von konkurrierenden Gewerkschaften in einem Betrieb.
Angesichts der Herausforderungen, die sich aus dem BAG-Urteil ergaben, war der Umgang mit der Tarifpluralität auf drei Ebenen denkbar: erstens durch eine gesetzliche Regelung, zweitens auf dem Weg der Rechtsprechung durch die Arbeitsgerichte oder drittens mittels Selbstregulation durch die beteiligten Akteure, also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften.
Zähmungsversuche der Gewerkschaftskonkurrenz
Das konfliktorientierte Agieren der Berufsgewerkschaften bei der Bahn, im Luftverkehr und partiell in den Krankenhäusern führte wiederholt zu öffentlichkeitswirksamen Streiks. Zwar änderten diese nichts an der geringen Konflikthaftigkeit der deutschen Arbeitsbeziehungen insgesamt, auch weil keine Vorbildfunktion für andere Bereiche von ihnen ausging. Sie wurden jedoch als für die öffentliche Infrastruktur problematisch eingestuft.
Die Große Koalition reagierte 2015 auf die Konflikte und Folgewirkungen mit dem Tarifeinheitsgesetz (TEG), das die "Tarifeinheit" wiederherstellen sollte: "Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat." Das TEG wird von Kritikerinnen als "Lex-Deutsche Bahn" oder "Lex GDL" betitelt, da es als eine Einzelfallintervention für den Zuständigkeitskonflikt bei der DB angesehen wird.
Der DGB mit Ausnahme von ver.di und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sowie die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) befürworteten das TEG. Die meisten DGB-Gewerkschaften setzten neben der grundlegenden Ablehnung des Überbietungswettbewerbs darauf, dass sie in der Regel die Mehrheitsgewerkschaft sein würden. In diesem Sinne konnten sie das Gesetz als Schutz der eigenen Organisation vor weiteren Einfluss- und Mitgliederverlusten verstehen. Bei den TEG-skeptischen Gewerkschaften ver.di und NGG gaben dagegen unsichere Mehrheitsverhältnisse oder sogar ihre eigene minoritäre Position den Ausschlag für ihre ablehnende Haltung. Hinzu kamen auch Gewerkschafterinnen, die verfassungsrechtliche Bedenken vortrugen und zugleich auf eine konfliktorientierte und dynamischere Mitgliedermobilisierung durch die Konkurrenz mit den Berufsgewerkschaften setzten. Während die Pro-TEG-Haltung in den DGB-Gewerkschaften im Laufe der Zeit umstrittener wurde, ohne dass die Vorstände allerdings die Grundlinie aufgaben, waren die Arbeitgeberinnen in ihrer Haltung klarer: Sie erhofften sich weniger Konflikte und Kosten durch eine konsequente Anwendung des TEG.
Schon damals gab es – jenseits der betroffenen Berufsgewerkschaften – starke Stimmen aus der parlamentarischen Opposition, die die Verfassungskonformität des Gesetzes insbesondere bezogen auf die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG infrage stellten. Das Mehrheitsprinzip würde die Handlungsmöglichkeiten der unterlegenen Gewerkschaft zu stark beschränken. Worin sollte der Anreiz für eine Mitgliedschaft in einer Minderheitsgewerkschaft bestehen, deren Tarifverträge nie zur Geltung kämen? Darüber hinaus wurde die Praktikabilität infrage gestellt. Wie soll in Betrieben, in denen konkurrierende Organisationen auf Augenhöhe aktiv sind, zweifelsfrei geklärt werden, wer die mitgliederstärkere Gewerkschaft ist? Sollen die Mehrheitsverhältnisse notariell oder über das Ergebnis der Betriebsratswahl festgelegt werden? Was tun, wenn sich kurz vor oder in einer Tarifrunde die Kräfteverhältnisse verschieben? Wie wird der Betrieb definiert, um mögliche Mehrheiten zu ermitteln? Befürchtet wurde, dass Minderheitenrechte nicht mehr gesichert seien und es sogar zu verschärften Konkurrenzsituationen kommen könne.
Dynamik des Tarifkonflikts 2020/21
Als die GDL 2014 nach den Lokführerinnen auch ihre tarifpolitische Zuständigkeit für das Zugpersonal erstreikte, zeichneten sich bereits die Verabschiedung des TEG und die damit einhergehenden Problemlagen ab. Um diese zu umgehen, schlossen DB und GDL 2015 einen Grundlagenvertrag, der festlegte, dass das TEG nicht zur Anwendung kommt. Diese Vereinbarung lief Ende 2020 aus.
Auch während des laufenden Grundlagenvertrages dehnte die GDL ihren Organisationsbereich weiter aus. Mit einem Öffnungsbeschluss aus dem Dezember 2020 fasste die GDL sogar einen eigenen Beschluss, weitere Beschäftigtengruppen in den DB-Betrieben anzusprechen.
Nach dem TEG mussten beide Gewerkschaften ihre Mitgliederzahlen offenlegen, was nicht in der notariell intendierten Weise erfolgte. Stattdessen zog die Bahnführung die Ergebnisse der Betriebsratswahlen heran, um die betrieblichen Mehrheitsverhältnisse festzustellen. Danach bestand in 71 der rund 300 Betriebe eine manifeste Gewerkschaftskonkurrenz; bei 55 Betrieben lag eine Dominanz der EVG vor und in 16 Betrieben eine der GDL. Dieses Vorgehen kanalisierte und rationalisierte den Konflikt allerdings nicht, sondern dynamisierte ihn zu einem Grundsatzkonflikt. Denn die GDL sah angesichts der Mehrheitsregel ihre Existenz gefährdet: "Geradezu unverschämt ist deshalb die Behauptung, dass es in dieser Tarifrunde nicht um die Existenz unserer Tarifverträge und damit um die tariflichen Errungenschaften unserer Mitglieder ginge."
Die GDL verfolgte eine rigorose Expansionsstrategie, bei der neben unorganisierten Beschäftigten auch die Mitglieder der EVG ins Visier genommen wurden. Um sich als die echte Mitgliedergewerkschaft zu inszenieren, setzte sie an dem zwischen DB und EVG Ende 2020 abgeschlossenen Sanierungstarifvertrag an: "Die EVG hatte jedoch weder die Kraft und schon gar nicht die Verve, die Boni der Führungskräfte zu verhindern. Es herrscht somit, ‚Wasser predigen und Wein trinken‘ und dies mit geschwurbelten Worten so zu publizieren, dass die Beschäftigten im direkten Bereich nicht merken, wie sie betrogen werden."
Des Weiteren versuchte die GDL, den Konflikt politisch zuzuspitzen, um neue Mitglieder zu gewinnen. Sie warf dem DB-Management vor, sich durch Bonuszahlungen und Prämien zu bereichern und dabei das eigentliche Kerngeschäft der Bahn und ihrer Beschäftigten aus dem Auge zu verlieren: "Die GDL hat aber auch aufgezeigt, woher ein Teil des Volumens zur Umsetzung der Forderungen kommen soll, nämlich durch Deckelung der Vergütungen außertariflich bezahlter Führungskräfte, Verzicht auf deren Boni und Abbau von Milliardengräbern bei ausländischen und vor allem bahnfremden Beteiligungen."
Die Verbindung von TEG-Umsetzung und starker Politisierung des Konflikts kann als maßgeblicher Treiber für die Zuspitzung der letzten Tarifrunde angesehen werden. Die Bahn versuchte, wie auch schon 2007 und 2014, durch eine einstweilige Verfügung den Streik der GDL zu unterbinden. Dagegen sahen das Arbeitsgericht Frankfurt am Main wie auch das hessische Landesarbeitsgericht klar die tarifpolitischen Forderungen der GDL im Fokus, weshalb der Streikaufruf rechtens sei. "Die GDL verfolge tariflich regelbare Ziele. Sie habe vor dem Streikaufruf und in der Verhandlung klargestellt, dass sie nicht dafür streike, über eine Klausel die Anwendung der GDL-Tarifverträge auf ihre Mitglieder in den Betrieben der DB-Gesellschaften zu erreichen, in denen diese Tarifverträge nicht zur Geltung kommen, weil dort eine höhere Zahl von Mitgliedern der (…) EVG beschäftigt sind."
Am Ende des konfliktreichen Prozesses stand im September 2021 eine Einigung, die Corona-Sonderzahlungen und eine schrittweise Erhöhung der Entgelte bis 2023 um 3,3 Prozent vorsah. Zudem verständigten sich Bahn und GDL über das strittige Thema der Betriebsrenten. Zugleich wurde der Geltungsbereich des Tarifvertrages auf die Beschäftigten in Werkstätten und Verwaltung, nicht aber auf den Bereich der DB Infrastruktur ausgedehnt. Dieser Vertrag kam durch die Schlichtung der Ministerpräsidenten aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen zustande. Dies zeigte einmal mehr, dass der aufgeladene Konflikt ohne hochrangige externe politische Vermittlung schwerlich zu befrieden ist. DB und GDL einigten sich ferner auf die Anwendung des TEG: "Die Tarifvertragsparteien stimmen darin überein, dass das TEG bei der DB angewendet wird. Die GDL ist zu einem Verfahren zur Mehrheitsfeststellung in den betroffenen 71 DB-Betrieben bereit. Die GDL-Tarifverträge kommen in GDL-Mehrheitsbetrieben – Stand heute 16 – zur Anwendung."
Fazit
Mit Blick auf die eingangs aufgeworfenen Fragen lässt sich feststellen, dass die traditionell kooperativen Arbeitsbeziehungen bei der Bahn durch zwei Prozesse unter Druck geraten sind: einerseits durch den privatwirtschaftlichen, liberalisierenden und modernisierenden Umbau der Bahn, die sich sukzessive aus der ursprünglichen Staatskultur herausgelöst hat; andererseits durch eine stärker konfliktorientierte Gewerkschaftskonkurrenz. Durch die Transformation der GDL vom Berufsverband zu einer konflikt- und durchsetzungsfähigen Berufsgewerkschaft ist das System der Arbeitsbeziehungen seit der Jahrtausendwende neu geordnet worden. Dabei verkörpert die EVG das Moment der Kontinuität, indem sie weiterhin im konflikt-kooperativen Modus mit der Bahnführung die polit-ökonomischen Verhältnisse bei der Bahn zu gestalten versucht. Dagegen setzt die GDL auf eine offensive Politik zugunsten einzelner Mitgliedergruppen, ohne sich in übergreifende Bündnisse einbinden zu lassen. Die EVG praktiziert eine Balance zwischen den Mitglieder- und den Einflussinteressen der Gesamtorganisation, womit sie jedoch offene Flanken für eine arbeitnehmerkritische Perspektive generiert. Dagegen setzt die GDL primär auf die Mitgliederinteressen und versucht, ihren Einflussbereich zulasten der EVG offensiv auszuweiten. Daraus resultiert eine unerbittliche Konkurrenz, die durch unterschiedliche Gewerkschaftskulturen flankiert wird und minimale Formen des wechselseitigen Vertrauensaufbaus bislang unmöglich machte. Gleichzeitig hat aber auch die Bahnführung noch keine nachhaltige Umgangsweise mit der GDL gefunden, die deren Existenz und Interessen akzeptiert, um Vertrauen für eine Kooperation aufzubauen. Stattdessen gilt die GDL als Störenfried der etablierten kooperativen Arbeitsbeziehungen. Doch statt den Handlungsspielraum für eine selbstverantwortete interne Konfliktschlichtung auszuweiten, wie sie noch im Grundlagenvertrag angelegt ist, setzte die Bahnführung zuletzt primär auf externe Konfliktschlichtung durch Politik, Gerichte und die Gesetzgeberin.
Für das TEG zeigt der Konflikt bei der Bahn sehr deutlich, dass dieses Gesetz zwar verfassungskonform ist, aber bislang keinen funktionsfähigen Rahmen darstellt: Die Grundidee des TEG besteht darin, die negativen Folgen der Gewerkschaftskonkurrenz abzubauen und Anreize für Kooperation aufzubauen. Allerdings sind die Voraussetzungen, um diese Philosophie einzulösen, sehr anspruchsvoll. Dafür braucht es nämlich in einer freiheitlichen Wettbewerbssituation ein Minimum an wechselseitigem Respekt und Vertrauen, was sich angesichts der gegenläufigen Interessen und Verhaltensweisen bislang nicht aufbauen ließ. Insofern sind die beobachtbaren Anwendungsprobleme wie etwa die Mitgliederfeststellung keinesfalls rein technischer Art, sondern lassen sich auf tieferliegende Probleme zurückführen. Das TEG ist ein Versuch, die Zuständigkeiten der Gewerkschaften in einem Betrieb klar zu regeln. Im Falle der Bahn verschärft es stattdessen aber den Anerkennungskonflikt zwischen den Gewerkschaften. Das TEG kann nur dann hilfreich sein und kooperationsfördernd wirken, wenn es innerhalb und zwischen den Akteurinnen ein höheres Maß an wechselseitigem Vertrauen gibt. Ohne Vertrauen wirkt das TEG eher konfliktverschärfend, weil die unterlegene Gewerkschaft alles daransetzen muss, um durch eine aufmerksamkeitsorientierte Offensive ihre Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen. Dies mündet jedoch gerade in den Überbietungswettbewerb, den das TEG verhindern sollte und der die Kulturen des Vertrauens untergräbt. Insofern ist das Gebot der Stunde wohl darin zu sehen, Prozesse und Maßnahmen zu suchen, die vertrauensbildend wirken, um eine neue, nachhaltige Kooperationskultur aufzubauen. Der gerade abgeschlossene Tarifvertrag bedeutet somit zunächst nur, dass etwas Zeit erkauft wurde.