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Die Schiene in der Verkehrswende | bpb.de

Die Schiene in der Verkehrswende Wo Deutschland von anderen lernen kann

Christian Burgdorf

/ 15 Minuten zu lesen

Die "Stärkung der Schiene" ist in Deutschland ein erklärtes Ziel von Politik und Eisenbahnbranche. Bei der Umsetzung von konkreten Ideen und Konzepten können Erfahrungen aus dem Ausland helfen, etwa aus der Schweiz, Schweden und dem Vereinigten Königreich.

Die Schiene ist der Straße weit voraus – zumindest dann, wenn es um Treibhausgasemissionen geht. Mehr als drei Mal so viel CO2 werden pro Person und Kilometer bei einer Reise mit dem Auto im Vergleich zu einer Bahnreise ausgestoßen. Im Güterverkehr ist der ökologische Fußabdruck der Straße sogar sieben Mal größer als der der Schiene. Ein Grund für die Klimafreundlichkeit der Eisenbahn ist ihr hoher Elektrifizierungsgrad: Während auf der Straße fossile Brennstoffe dominieren und unklar ist, ob der aktuelle Boom der Elektromobilität anhält, werden mehr als 90 Prozent der Verkehrsleistung auf der Schiene bereits heute elektrisch erbracht.

Über viele Jahre hinweg war die Klimastärke der Bahn eher "nettes Beiwerk", aber nicht wirklich maßgeblich für verkehrspolitische Entscheidungen in Deutschland. Das hat sich geändert: Mit den ehrgeizigen Klimazielen der Industrieländer – Deutschland soll bis 2045 treibhausgasneutral sein – ist sie zu einer zentralen verkehrspolitischen Säule geworden. Für die sogenannte Verkehrswende wird die Bahn gebraucht, Handlungs- beziehungsweise Zeitdruck sind enorm – insbesondere auch deshalb, weil der Verkehrssektor bislang keinen nennenswerten Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgase geleistet hat: 2019 wurde ähnlich viel CO2 emittiert wie 1990, während andere Sektoren der Volkswirtschaft beachtliche Einsparungen vorweisen können.

Intermodaler Wettbewerb: Die Straße dominiert

Die Vorteile der Schiene beschränken sich nicht auf den Klimaaspekt: Eisenbahnen verbrauchen im Vergleich zum Straßenverkehr relativ wenig Fläche und leisten im Rahmen der sogenannten staatlichen Daseinsvorsorge einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätssicherung von Menschen, die kein Auto nutzen können. Die Wahrscheinlichkeit, sich bei einem Unfall zu verletzen oder gar zu sterben, ist vergleichsweise gering, und die Reisegeschwindigkeit ist, zumindest auf bestimmten Strecken, deutlich höher als auf der Straße. Außerdem können die Reisenden ihre Zeit im Zug besser nutzen als im Pkw, da sie nicht selbst steuern müssen.

Trotz der genannten Vorzüge ist der Erfolg der Schiene sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr in Deutschland derzeit überschaubar. 2019 hatte die Eisenbahn im Personenverkehr einen Marktanteil von 8,1 Prozent, im Güterverkehr waren es 18,9 Prozent. In beiden Bereichen dominiert die Straße klar mit Anteilen von 79,6 beziehungsweise 71,1 Prozent, und trotz leichter Wachstumstendenzen bei der Eisenbahn in den vergangenen zwei Dekaden ist ein Ende dieser Dominanz nicht absehbar. Die Marktanteilssteigerungen der Schiene gingen zudem vor allem zulasten anderer Konkurrenten wie dem Binnenschiff oder dem öffentlichen Straßenverkehr. Gegenüber Pkw und Lkw konnte die Eisenbahn kaum Boden gutmachen.

Das Problem der Schiene: Bei den wirklich gewichtigen Einflussfaktoren auf die Verkehrsmittelwahl – Preis, Flexibilität und Verlässlichkeit – existieren ihre Vorteile nur auf dem Papier. Die Wahrnehmung der tatsächlichen oder potenziellen Nutzerinnen und Nutzer weicht oft erheblich davon ab, und eine vergleichsweise gute Klimabilanz ist für die meisten Menschen bei ihrer Verkehrsmittelwahl letztlich nicht entscheidend.

Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird schon am Beispiel der Verlässlichkeit deutlich: Aufgrund der Verkehrssteuerung mithilfe von Fahrplantrassen ist das System Schiene grundsätzlich sehr fahrplansicher und eigentlich prädestiniert für planmäßige Ankunftszeiten. Doch lag die Pünktlichkeitsquote im Personenfernverkehr der Deutschen Bahn AG 2019 bei 75,9 Prozent. Mit anderen Worten: Jeder vierte Fernverkehrszug war verspätet. Gerade auf den Hauptstrecken kann es noch deutlich schlechter aussehen. Zudem sagen die veröffentlichten Werte nichts über verpasste Anschlusszüge aus oder über die psychische Belastung von Reisenden, die nicht wissen, ob sie rechtzeitig am Ziel ankommen. Die Quote im Güterverkehr ist mit der im Personenfernverkehr vergleichbar, wobei die Verspätungstoleranz hier bei 15 Minuten und 59 Sekunden liegt. Das heißt, alle Züge mit einer Verspätung von weniger als 16 Minuten gelten als pünktlich. Im Personenfernverkehr liegt die Grenze bei 6 Minuten – ebenso wie im Personennahverkehr. Dies lässt auch die relativ hohe Pünktlichkeitsquote im letztgenannten Segment – 2019 betrug sie 94,3 Prozent – in einem anderen Licht erscheinen. Anzeichen für eine Verbesserung gibt es derzeit weder im Personen- noch im Güterverkehr.

Bei den Verspätungen spielt das Schienennetz eine unrühmliche Hauptrolle. Zwar sind nur relativ wenige Knoten und Streckenabschnitte chronisch überlastet – Verspätungen dort wirken sich aber oft auf andere Netzbereiche aus. Neben den Überlastungen treten ungeplante Störungen auf, etwa bei Stellwerken oder Weichen.

Verspätungen sind ein zentrales, aber nicht das einzige Problem im Hinblick auf die Verlässlichkeit. Auch Zugausfälle beeinflussen die Bewertung der Reisenden negativ, ebenso defekte Reservierungssysteme, Klimaanlagen oder Toiletten. In Summe gilt die Eisenbahn in Deutschland trotz guter systemischer Eigenschaften als unzuverlässig. Zusammen mit Preisen, die von vielen potenziellen Nutzerinnen und Nutzern als zu hoch wahrgenommen werden, und einer im Vergleich zur Straße deutlich geringeren Flexibilität, die zum Teil strukturell bedingt ist, zum Teil aber auch aufgrund unzureichender Angebote beziehungsweise einer unzureichenden Vernetzung mit anderen Verkehrsmitteln besteht, sorgt dies dafür, dass die Schiene in vielen Fällen keine Alternative zu Pkw oder Lkw darstellt.

Wie schlägt sich die Bahn in Europa?

Der Rückstand der Eisenbahn auf die Hauptkonkurrenten Auto und Lkw ist kein Naturgesetz. Die strukturellen Defizite des Verkehrsmittels können abgemildert oder durch Vorteile bei anderen Verkehrsmittelwahlfaktoren ausgeglichen werden. Die Schiene könnte grundsätzlich ein Nutzenniveau erreichen, das dem der Straßenverkehrsmittel entspricht – wenn sie ihre Potenziale voll ausschöpft.

Dass die Schiene nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis erfolgreich sein kann, zeigt ein Blick ins europäische Ausland. Während der Marktanteil der Eisenbahn im Personenverkehr im Zeitraum von 1999 bis 2019 in Deutschland um 25 Prozent gestiegen ist, waren es in Großbritannien, Schweden und der Schweiz mindestens 50 Prozent (Abbildung 1). In der Eidgenossenschaft entfällt rund ein Fünftel der Verkehrsleistung im Personenverkehr auf die Schiene. Im Güterverkehr schlägt sich Deutschland mit Blick auf die Entwicklung im internationalen Vergleich zwar deutlich besser, allerdings ist der Marktanteil der Schiene in Schweden und in der Schweiz fast doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik (Abbildung 2).

(© Eurostat, Modal Split of Passenger Transport)

Die Ursachen für die positivere Entwicklung der ausländischen Märkte in den vergangenen Jahren sind vielfältig. Ein Grund liegt in der besseren Finanzausstattung bei der Schieneninfrastruktur. Laut einer Analyse der Interessenvereinigung Allianz pro Schiene wurden in der Schweiz 2020 pro Kopf rund 440 Euro für Gleise, Weichen und Oberleitungen ausgegeben, in Schweden waren es 220 Euro, in Großbritannien 131 Euro. Mit 88 Euro liegt Deutschland auf den hinteren Plätzen (Abbildung 3). Selbst wenn man davon ausgeht, dass es bei diesem Vergleich quellenbedingte Verzerrungen gibt, bleibt seine zentrale Aussage zutreffend: Deutschland investiert pro Kopf relativ wenig Geld in seine Schieneninfrastruktur.

Noch wichtiger als das reine Mittelvolumen ist die Verteilung von Geldern – dorthin, wo sie dem System Schiene beziehungsweise der Stimulation von Angebot und Nachfrage am meisten nützen. Dies betrifft letztlich nicht nur die Schieneninfrastruktur, sondern sämtliche Bereiche des Eisenbahnverkehrssektors. Entscheidend ist hier zunächst, dass die wesentlichen Stakeholder aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine gemeinsame Vorstellung davon haben, wohin sich die Schiene langfristig entwickeln soll, und klare Zielvereinbarungen und Entwicklungsschritte im Rahmen einer gemeinsamen Strategie festlegen.

(© Eurostat, Modal Split of Freight Transport)

Im Hinblick auf einen schlüssigen, langfristigen Entwicklungsplan für die Eisenbahn gilt die Schweiz zumindest in Europa als Musterbeispiel. Den Grundstein für den gegenwärtigen Erfolg der Schiene legte die Eidgenossenschaft mit dem Ausbauprogramm "Bahn 2000", das auf einer Volksabstimmung im Jahr 1987 basiert, in der sich das Stimmvolk für eine Stärkung der Schiene aussprach. Ab den 1990er Jahren wurden nachfragestimulierende Maßnahmen umgesetzt, etwa ein flächendeckender 30-Minuten-Takt im Personenfernverkehr. Unterstützt wurde die Ausweitung des Angebots durch einen zielgerichteten Infrastrukturausbau. Zu den wichtigsten Projekten zählen die Neubaustrecke Mattstetten-Rothrist zwischen Bern und Zürich sowie die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) mit dem Lötschberg- und dem Gotthard-Basistunnel, die insbesondere für den alpenquerenden Güterverkehr von erheblicher Bedeutung ist, aber auch den Personenverkehr massiv beschleunigt. Das schweizerische Schienennetz gilt als robust und ermöglicht verlässliches Reisen.

Der mittel- und langfristige Ausbau der Schiene in der Schweiz ist finanziell gut abgesichert. 2014 nahm das Stimmvolk mit dem Programm "Fabi" (Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur) einen Ausbauplan für die Eisenbahn bis 2030 an. Das Schienennetz steht grundsätzlich allen Eisenbahnverkehrsunternehmen diskriminierungsfrei zur Verfügung. Zudem basiert das Schweizer Trassenpreissystem auf dem Grenzkostenprinzip: Die Unternehmen kommen in der Regel nur für die unmittelbaren Kosten des Zugbetriebs auf.

Maßgeblich koordiniert wird die Entwicklung des Eisenbahnsektors vom schweizerischen Bundesamt für Verkehr (BAV). Im Fernverkehr vergibt das BAV Konzessionen an Eisenbahnverkehrsunternehmen. Neben den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) ist inzwischen auch die mehrheitlich dem Kanton Bern gehörende BLS AG mit drei Linien vertreten. Der Regionalverkehr wird von Bund und Kantonen gemeinsam bestellt und finanziert. Hier sind neben den SBB auch verschiedene private beziehungsweise regionale Eisenbahnverkehrsunternehmen aktiv. Der Schienengüterverkehr ist liberalisiert.

(© Allianz pro Schiene)

Ein erklärtes Ziel der eidgenössischen Verkehrspolitik ist die Verlagerung von Güterverkehr von der Straße auf die Schiene. Neben dem konsequenten Infrastrukturausbau inklusive einer frühzeitig begonnenen umfassenden Lärmsanierung und dem Verbot lauter Güterwagen spielt hier auch die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe für den Straßengüterverkehr eine wichtige Rolle, die vor allem zur Finanzierung des Eisenbahninfrastrukturausbaus verwendet wird.

Auch beim intermodalen öffentlichen Personenverkehr ist die Schweiz führend: Mit dem Landestarifverbund Nationaler Direkter Verkehr (NDV) soll das Prinzip "eine Reise, ein Ticket" landesweit umgesetzt werden. Neben der Eisenbahn können auch andere Verkehrsmittel zur Wegekette gehören, etwa Busse, Schiffe oder Seilbahnen. Der NDV umfasst nahezu den gesamten öffentlichen Verkehr in der Schweiz. Dadurch wird der eigene Pkw in vielen Fällen überflüssig. Mit dem Generalabonnement (GA) gibt es eine Flatrate für den NDV, mit dem Halbtax eine 50-Prozent-Ermäßigung auf die Einzeltickets. Rund ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner haben entweder ein GA oder das Halbtax.

In der Gesamtschau kann das Schweizer System mit seiner Mischung aus Wettbewerbselementen und staatlicher Lenkung als Erfolgsmodell gelten. Die Ausgestaltung des Eisenbahnsektors wirkt wie aus einem Guss, seine Weiterentwicklung wird von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen unterstützt. Das Fundament des Erfolgs beziehungsweise seine notwendige Bedingung ist freilich die weit überdurchschnittliche Finanzausstattung des Systems Schiene. Die Nutzerinnen und Nutzer profitieren von einer hohen zeitlichen und räumlichen Verfügbarkeit der Züge, einer hohen Pünktlichkeit und Verlässlichkeit sowie einem hohen Maß an Komfort.

Wie in der Schweiz wurde auch in Schweden die Stärkung der Schiene schon vor geraumer Zeit als politisches Ziel definiert: 2011 wurde beschlossen, dass sich die Anzahl der mit dem ÖPNV zurückgelegten Wege im Land bis 2020 verdoppeln soll, langfristig sollte dies auch für die Verkehrsleistung gelten. Dieses Ziel wurde mit einer entsprechenden Finanzierung unterfüttert. Zuvor war ein breiter Branchenkonsens hinsichtlich der Weiterentwicklung des Sektors hergestellt worden, der letztlich zu einem neuen ÖPNV-Gesetz führte, das im Januar 2012 in Kraft trat. Angebotsqualität und -umfang wurden deutlich verbessert, neue Fahrzeuge wurden angeschafft, Umstiegszeiten und -häufigkeiten reduziert.

Bemerkenswert an der Entwicklung des Eisenbahnsektors in Großbritannien ist vor allem die konsequente Evaluierung und Nachjustierung. Nach einer radikalen Liberalisierung in den 1990er Jahren mit zahlreichen negativen Auswirkungen ist das Land weiterhin auf der Suche nach einer gesunden Mischung zwischen Staat und Privatwirtschaft: Die ab 1994 vollständig privatisierte Schieneninfrastruktur wurde bis 2003 erneut verstaatlicht – und das nationale Eisenbahnverkehrsangebot in verschiedene Teilbereiche, sogenannte Franchises, aufgeteilt. Private Eisenbahnunternehmen konnten sich beim britischen Verkehrsministerium beziehungsweise regionalen Institutionen um den Betrieb der Teilnetze bewerben. Der grundsätzlich privatisierte Eisenbahnbetrieb unterliegt umfassenden Regulierungen. So wird unter anderem sichergestellt, dass "die britische Eisenbahn" von den Nutzerinnen und Nutzern im Personenverkehr weitgehend als Einheit wahrgenommen werden kann: Grundsätzlich genügt es, für eine Reise ein Ticket zu kaufen – unabhängig davon, wie viele Teilnetze durchfahren werden beziehungsweise Betreiber an der Dienstleistung beteiligt sind. Zudem müssen die Betreiber das günstigste Ticket verkaufen – unabhängig davon, ob sie selbst der Anbieter sind oder ein Konkurrent. Die Einnahmenaufteilung erfolgt über die Rail Delivery Group, einem Zusammenschluss von Eisenbahnverkehrsunternehmen, die im Vereinigten Königreich aktiv sind. Auch das Erscheinungsbild der Eisenbahn ist an den entscheidenden Stellen einheitlich – mit dem National Rail Double Arrow gibt es ein anbieterübergreifendes Symbol, das auf den Fahrkarten oder an Bahnhöfen zu finden ist.

Derzeit ist in Großbritannien eine weitere Bahnreform in der Umsetzung, die den Sektor ein weiteres Stück (rück)zentralisiert: Ab 2023 soll Great British Railways (GBR) als staatliche Einrichtung den Schienenverkehr auf der Insel organisieren und insbesondere für Planung, Infrastruktur und Betrieb beziehungsweise die Auftragsvergabe an private Betreiber zuständig sein. GBR legt auch Preise und Fahrpläne fest und verkauft die Tickets; das bisherige Franchise-System wird aufgelöst. Die britische Regierung verspricht den Nutzerinnen und Nutzern durch die Anpassungen einen noch besseren Service beziehungsweise eine durchgehend einheitliche Qualität und erwartet zudem signifikante Effizienzsteigerungen. So soll der Fahrkartenkauf deutlich einfacher werden, flexible, digitale Tickets nach Londoner Vorbild (pay as you go) sollen in weiteren Landesteilen verfügbar sein.

Vom Ausland lernen?

Die Schweiz, Schweden und Großbritannien zeigen: Klare Zielvorgaben, eine auskömmliche Finanzierung, die zielorientierte Einbindung der relevanten Akteure, eine kontinuierliche Evaluierung der Reformmaßnahmen und konsequentes Gegensteuern bei Fehlentwicklungen zahlen sich aus und können zu einer wettbewerbsfähigen Eisenbahn führen.

Anders als im europäischen Ausland war im deutschen Eisenbahnverkehrssektor noch weit bis ins 21. Jahrhundert hinein eine strategische Kakofonie vorherrschend. Über Jahrzehnte hinweg gab es keine klaren und vor allem langfristig konstanten politischen Richtungsvorgaben für die Schiene. Dies wiederum führte unter anderem dazu, dass beim mit Abstand größten Spieler im Eisenbahnverkehrssektor, der Deutschen Bahn AG beziehungsweise ihren Vorläufern, jeder Chef seine eigenen Akzente setzte: Während der erste Vorstandsvorsitzende des Konzerns, Heinz Dürr, sich auf prestigeträchtige Großprojekte wie "Stuttgart 21" konzentrierte, wollte sein Nachfolger Johannes Ludewig vor allem die Strategie "Netz 21" voranbringen, mit der das bestehende Schienennetz erneuert, entmischt und somit letztlich deutlich leistungsfähiger und resilienter gemacht werden sollte. Ab dem Jahr 2000 forcierte dann Hartmut Mehdorn die Internationalisierung der Deutschen Bahn AG und wollte das Schienenverkehrsunternehmen zu einem weltweit aktiven Logistikkonzern ausbauen, Börsengang inklusive. Infolge des inkonsistenten Handelns blieb die Schiene in Deutschland weit unter ihren eigentlichen Möglichkeiten.

In den vergangenen Jahren hat sich das Bild im deutschen Eisenbahnverkehrssektor allerdings stark gewandelt und ist nun von deutlich mehr Zielstrebigkeit und Einigkeit geprägt: So vereinbarten CDU/CSU und SPD 2018 in ihrem Koalitionsvertrag, dass bis 2030 doppelt so viele Bahnkundinnen und Bahnkunden gewonnen werden sollen. 2021 konkretisierten SPD, Grüne und FDP die Ziele hinsichtlich der Eisenbahn in Deutschland weiter und hielten in ihrem Koalitionsvertrag fest, dass bis 2030 eine Verdopplung der Verkehrsleistung im Personenverkehr erfolgen solle. Im Güterverkehr wollen die Ampel-Parteien eine Steigerung des Marktanteils auf 25 Prozent erreichen. Ähnliche Ziele sind auch im "Masterplan Schienenverkehr" formuliert, der von Branche und Politik gemeinsam entwickelt wurde und neben den Zielvorgaben vor allem verschiedene Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Eisenbahnverkehrssektors in den kommenden Jahren enthält. Dazu zählen insbesondere die Einführung eines landesweiten integralen Taktfahrplans ("Deutschlandtakt"), die weitere Stärkung von Lärm- und Klimaschutz, der Netzausbau und eine stärkere Innovationsförderung im Schienenverkehr.

Die "Stärkung der Schiene" ist in Deutschland heute Konsens. Nun gilt es, die vorhandenen Ideen und Konzepte konsequent umzusetzen. Dabei können die Erfahrungen aus dem Ausland helfen. Zwar ist die Eins-zu-eins-Umsetzung von Maßnahmen in den meisten Fällen nicht sinnvoll, da Ausgangssituationen und Sektorstrukturen erhebliche Unterschiede aufweisen – eine adaptierte Übernahme von Grundzügen, insbesondere im Hinblick auf den integralen Taktfahrplan, Intermodalität und Einfachheit ("eine Reise, ein Ticket"), die Einbindung der relevanten Akteure und eine auf die lange Frist ausgerichtete, konsistente Gesamtplanung samt robuster Evaluierungsinstrumente, ist aber möglich und ratsam.

Sieben Handlungsfelder

Unter günstigen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen könnte die Eisenbahn auch in Deutschland deutlich höhere Marktanteile erzielen als bisher und sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr zum ernsthaften Konkurrenten für die Straße werden. Unter Berücksichtigung der Reformschritte in Großbritannien, Schweden und insbesondere der Schweiz können sieben Handlungsfelder für die Weiterentwicklung des deutschen Eisenbahnverkehrssektors in den kommenden Jahren ausgemacht werden. Dabei stehen konkrete Maßnahmen im Mittelpunkt, ebenfalls von Bedeutung ist jedoch die Verstetigung der gemeinsamen Ziele von Politik und Branche. Die Politik muss geeignete Rahmenbedingungen schaffen, und die Eisenbahnunternehmen müssen ihrerseits, gegebenenfalls mit staatlicher Unterstützung, die Angebote generieren, die die Nutzerinnen und Nutzer letztlich zum Umstieg auf die Schiene bewegen.

Erstens braucht der Eisenbahnsektor ein langfristiges Wachstumskonzept, das von allen maßgeblichen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mitgetragen wird. Der "Masterplan Schienenverkehr" könnte eine entsprechende Grundlage sein – sein Erfolg hängt davon ab, ob die dort aufgeführten Maßnahmen in den kommenden Jahren konsequent umgesetzt und gegebenenfalls um weitere ergänzt werden. Entscheidend ist hierfür vor allem, dass der konsensorientierte Dialog zwischen den relevanten Stakeholdern fortgesetzt und eventuell institutionalisiert wird, dass es eine robuste Fortschrittskontrolle gibt – und dass ausreichende Finanzmittel genau dann zur Verfügung stehen, wenn sie benötigt werden. Die Strategie sollte dann angepasst werden, wenn sich bestimmte Maßnahmen als nicht zielführend erweisen oder sich die Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung der Schiene maßgeblich verändern – keinesfalls jedoch infolge neuer Machtverhältnisse.

Zweitens kann der Schienenverkehr in Deutschland von einem landesweiten integralen Taktfahrplan, der sich in seinen Grundzügen am Schweizer Vorbild orientiert, massiv profitieren. Entscheidend ist, dass ein transparenter, zuverlässiger und dichter Takt entsteht, der Nah- und Fernverkehrszüge und möglichst auch Verkehrsmittel jenseits der Schiene nutzerfreundlich miteinander verknüpft. Dabei sollte der Schienengüterverkehr angemessen berücksichtigt werden, indem die Bedürfnisse von Verladern und Speditionen bei der Erstellung der Fahrpläne stärker mit einfließen als bisher, damit der Schienengüterverkehr im Zeitalter der Just-in-time-Produktion attraktiv ist. Insbesondere durch die Schaffung eines klaren Angebotsschemas sowie kürzere Reise- und in vielen Fällen auch Umstiegszeiten wird die Attraktivität der Schiene aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer deutlich erhöht. Der mit dem Deutschlandtakt eingeschlagene Pfad muss daher in den kommenden Jahren konsequent fortgesetzt und beschleunigt werden.

Drittens muss die Schiene noch stärker mit anderen Verkehrsmitteln vernetzt werden als bisher – im Güterverkehr insbesondere im Rahmen des Kombinierten Verkehrs. Im Personenverkehr ist zunächst eine umfassende Bahn-Bus-Abstimmung erforderlich, darauf aufbauend sollte Mobility-as-a-Service (MaaS) zum Standard in den Ballungszentren und in der Fläche werden. Ziel muss es sein, den Nutzerinnen und Nutzern flächendeckend lückenlose Wegeketten von Tür zu Tür anzubieten, die eine attraktive Alternative zum Pkw oder Lkw darstellen – und bei denen die Schiene einen wesentlichen Anteil an der Verkehrsleistung hat.

Eng verknüpft mit einer Stärkung der Intermodalität ist viertens eine zielgerichtete Digitalisierung des Eisenbahnsektors. Dies umfasst Mobilitätsdatenplattformen und intermodale Endnutzeranwendungen für MaaS-Angebote ebenso wie eine digitale automatische Kupplung für Güterwaggons und die flächendeckende Einführung des European Train Control Systems (ETCS), mit der erhebliche Effizienz- und Kapazitätssteigerungen einhergehen können.

Fünftens sollte geprüft werden, ob das Bestellerprinzip, das im Schienenpersonennahverkehr zur Anwendung kommt, indem die Aufgabenträger – also die Länder oder landeseigene Gesellschaften – die entsprechenden Dienstleistungen bei Eisenbahnverkehrsunternehmen bestellen, auch in anderen Segmenten angewendet werden kann. Hierzu zählt insbesondere der Personenfernverkehr, grundsätzlich kommen aber auch Zubringerverkehre auf der ersten beziehungsweise letzten Meile infrage. Durch die Bestellung von Leistungen kann der Staat sicherstellen, dass Dienste dort angeboten werden, wo sie im Hinblick auf eine Substituierung von Straßenverkehren im Sinne der Verkehrswende den größten Nutzen stiften.

Sechstens ist neben einer auskömmlichen Finanzierung entscheidend, dass die Infrastrukturentwicklung an den festgelegten Zielen und konkret am Deutschlandtakt beziehungsweise den entsprechenden Fahrplänen ausgerichtet ist. Ohne ausreichende Kapazitäten lassen sich eine Verdopplung der Verkehrsleistung im Personenverkehr und eine Marktanteilssteigerung im Güterverkehr nicht erreichen. Dass die Schiene derzeit oft verspätet ist, liegt an relativ wenigen Engpässen im Netz. Die Schieneninfrastrukturprojekte im Bundesverkehrswegeplan sollten vor diesem Hintergrund konsequent evaluiert und entsprechend ihrem Nutzen für die Realisierung des Deutschlandtakts priorisiert werden. Prestigeprojekte sind zu vermeiden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch, dass genügend Planerinnen, Ingenieure und Baustoffe für die Realisierung der Vorhaben zur Verfügung stehen. Zudem sind Bürgerinnen und Bürger und insbesondere Betroffene frühzeitig angemessen zu beteiligen, um allfällige Widerstände und damit einhergehende Verzögerungen und Mehrkosten möglichst zu vermeiden.

Um die Konkurrenzfähigkeit der Eisenbahnverkehrsunternehmen zu erhöhen, sollte siebtens grundsätzlich der Ansatz verfolgt werden, für die Nutzung des Schienennetzes nur die unmittelbaren Kosten des Zugbetriebs zu berechnen. Bei der konkreten Ausgestaltung des Ansatzes müssen allerdings mögliche Fehlanreize im Zusammenhang mit der Netznutzung identifiziert und entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

ist Experte für Personenverkehr und Infrastruktur und arbeitet beim ÖPNV-Beratungsunternehmen KCW in Berlin.
E-Mail Link: burgdorf@kcw-online.de