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Mythos Transsibirische Eisenbahn | bpb.de

Mythos Transsibirische Eisenbahn Der Traum einer Brücke zwischen Europa und Asien

Frithjof Benjamin Schenk

/ 16 Minuten zu lesen

Die Transsibirische Eisenbahn sollte die Distanz zwischen Europa und Asien verkürzen und war ein Grund für einen verheerenden Krieg zwischen Russland und Japan. Heute träumen russische Planer erneut von einer Umlenkung der Warenströme aus China auf die längste Bahnlinie der Welt.

Reisende, die heute mit dem Schnellzug Sapsan (Wanderfalke) von Sankt Petersburg nach Moskau reisen, werden in den eleganten Großraumwagen mit Werbefilmen der Russischen Staatsbahnen unterhalten. Russland, so erfahren wir hier, rüstet sich für den Transit zukünftiger Verkehrskarawanen von China nach Europa. Das Land spiele eine Schlüsselrolle beim Bau der "Neuen Seidenstraße", jenem transkontinentalen Verkehrskorridor, der den Handel zwischen Asien und Europa in Zukunft erleichtern soll. China möchte mit der Neuen Seidenstraße die Transportzeiten eigener Waren nach Europa von heute 45 bis 60 Tagen auf dem Seeweg auf zukünftig 10 bis 13 Tage auf dem Landweg verkürzen. Russland ist darum bemüht, einen Großteil des Transitverkehrs über sein Territorium zu lenken und der Transsibirischen Eisenbahn als "Eurasischer Brücke" eine neue Rolle zuzuweisen. Dieser Traum von Russland als Transitland zwischen Asien und Europa auf den Karten des modernen "Weltverkehrs" hat eine lange Geschichte und ist eng mit dem Bau des "Großen Sibirischen Weges", der Transsibirischen Eisenbahn, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verbunden.

Erschließung Sibiriens

Sibirien, das zarentreue Kosaken im 16. Jahrhundert der russischen Krone unterworfen hatten, galt aufgrund seiner extremen Klimabedingungen und dünnen Besiedelung lange als Russlands "wilder Osten". Die Region genoss den zweifelhaften Ruf, das "größte Gefängnis der Welt" zu sein, wo Strafgefangene in Arbeitslagern darbten und politische Gegner des Zaren in Verbannung lebten. Legendär war auch Sibiriens Unwegsamkeit. Während der Schneeschmelze verwandelten sich die großenteils unbefestigten Wege in Schlammpisten, im Winter waren die Flüsse zugefroren und für Schiffe unpassierbar. Eine reguläre Reise von Moskau ins sibirische Irkutsk dauerte im Winter 1856/57 etwa 33 Tage. Auch Russlands Pazifikhafen mit dem programmatischen Namen "Wladiwostok" (Beherrsche den Osten) war im Winter drei Monate lang zugefroren und vom europäischen Zentrum des Reiches abgeschnitten.

Die ersten Pläne, Sibirien durch einen Schienenstrang mit dem europäischen Russland zu verbinden, reichen bis in die 1850er Jahre zurück. Mit ihrer Umsetzung wurde jedoch erst in den 1890er Jahren begonnen. Als einer der ersten Würdenträger sprach sich der Generalgouverneur Ostsibiriens, Graf Murawjow-Amurski 1857 für den Bau einer sibirischen Eisenbahn aus. Lange war die Reichsregierung vor den hohen Kosten des Eisenbahnbaus zurückgeschreckt und hatte weiter auf die traditionellen Formen des Warentransports zu Wasser und zu Lande vertraut. Nur zwischen Sankt Petersburg und Moskau existierte seit 1851 eine nennenswerte innerrussische Schienenverbindung. Die Niederlage Russlands im Krimkrieg (1854–56), nicht zuletzt eine Folge der logistischen Probleme der Zarenarmee im eigenen Land, führte jedoch zu einem radikalen Umdenken in der Verkehrspolitik des Russischen Reiches. Nun entstanden erste Visionen für ein landesweites Eisenbahnnetz, das die Verbindung der russischen Kornkammern mit den Häfen an Ostsee und Schwarzem Meer sowie der Lagerstätten von Erz und Kohle mit den ersten industriellen Zentren des Landes vorsah. Zunächst konzentrierten sich diese Überlegungen auf das europäische Russland. Bald wurden jedoch Stimmen laut, die auch eine Anbindung Sibiriens an das russische Schienennetz forderten. Die Vision, die asiatische Reichshälfte mit einer transkontinentalen Bahn zu erschließen und so eine stählerne Brücke von der Ostsee zum Pazifik zu schlagen, beflügelte die Gedanken zahlreicher Wissenschaftler, Ingenieure und Abenteurer im In- und Ausland.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde die schlechte Verkehrsanbindung der östlichen Peripherie des Reiches von der herrschenden Elite in Sankt Petersburg zunehmend als strategisches Problem wahrgenommen. Im Fernen Osten verschärfte sich der Wettkampf der europäischen Großmächte um Land und Einfluss. Für einen möglichen Krieg gegen China oder England in Fernost war Russland denkbar schlecht vorbereitet. In der Reichsverwaltung setzte sich die Überzeugung durch, dass die Sicherheit der eigenen Besitzungen an der Pazifikküste nur mithilfe einer transkontinentalen Bahnlinie gewährleistet werden könne. 1884 präsentierte der russische Verkehrsminister Konstantin N. Posjet den Vorschlag, eine transkontinentale Eisenbahn durch Russlands östliche Reichshälfte zu bauen, die von Samara über Ufa, Tscheljabinsk, Omsk, Irkutsk, Tschita und entlang des Amur bis Chabarowsk und dann weiter nach Wladiwostok, das heißt auf der nach 1891 realisierten Trasse, verlaufen sollte. Posjet betonte insbesondere den zu erwartenden politischen Nutzen einer Transkontinentalbahn zum Pazifik. Der Verkehrsminister legte dar, dass sich die Gesellschaft Sibiriens zu lange separat zu jener des russischen Mutterlandes entwickelt habe. Eine Eisenbahn eröffne nun die Möglichkeit, die östliche Reichshälfte politisch und kulturell stärker an das Zentrum anzubinden.

Die verschiedenen Pläne aus dem Verkehrsministerium für den Bau einer transkontinentalen Bahn nach Sibirien stießen lange Zeit auf erbitterten Widerstand aus dem Finanzressort. Dass ein Verkehrsprojekt von so großer strategischer und politischer Bedeutung aus der Staatskasse finanziert werden müsse und nicht in private Hände gegeben werden dürfe, war innerhalb der Administration Konsens. Nach dem kostspieligen Krieg gegen das Osmanische Reich 1877/78 war die Situation der russischen Staatsfinanzen Anfang der 1880er Jahre jedoch äußerst angespannt. Von einer Investition der Reichsregierung im Umfang von mehreren hundert Millionen Rubel in ein sibirisches Eisenbahnprojekt mit ungewissem ökonomischen Nutzen rieten die Verwalter der Staatsfinanzen daher vehement ab. Als jedoch 1886 die Generalgouverneure von Ostsibirien und des Amur-Gebiets, Alexei Ignatjew und Andrei von Korf, eindringlich vor der weiteren Vernachlässigung ihrer Provinzen durch das Zentrum sowie vor einem wachsenden Einfluss Chinas in der Region warnten und auf die strategische Bedeutung der Anbindung durch einen transkontinentalen Schienenstrang hinwiesen, traf Zar Alexander III. die Entscheidung, dass es nun "höchste Zeit" sei, das Projekt der Großen Sibirischen Bahn in Angriff zu nehmen. Fünf Jahre später, am 31. Mai 1891, eröffnete Thronfolger Nikolaj – der spätere Zar Nikolaus II. – mit dem ersten Spatenstich in Wladiwostok die damals längste Baustelle der Welt.

Eisenbahnbau und ökonomische Entwicklung

(© bpb)

Während letztlich militärstrategische Gründe den Ausschlag für den Bau des kostspieligen Infrastrukturprojekts gaben, wiesen Regierungsvertreter in den 1890er Jahren auch auf das ökonomische Potenzial der Großen Sibirischen Bahn hin. Vor allem Finanzminister Sergej Witte, der zwischen 1892 und 1903 über das Budget des Reiches wachte, sah in der Eisenbahn ein ideales Instrument, um Russland in eine moderne Industrienation zu verwandeln. Nach der Eroberung großer Teile Zentralasiens stand das Russische Imperium Ende des 19. Jahrhunderts am Zenit seiner außenpolitischen Macht. Auf wirtschaftlichem Gebiet war das agrarisch geprägte Land den westlichen Großmächten jedoch eindeutig unterlegen. Witte wollte Russland nicht nur als militärische, sondern auch als ökonomische Großmacht etablieren. Große, staatlich finanzierte Bahnprojekte sah er als Mittel, um die russische Schwerindustrie anzukurbeln. Die "Transsib" spielte dabei eine Schlüsselrolle. Die Bahnlinie sollte nicht nur russische Stahl- und Lokomotiv-Fabriken mit Aufträgen versorgen. Gleichzeitig träumte Witte davon, Sibirien aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und ökonomisch zu erschließen.

Kurz vor seinem Amtsantritt als Finanzminister stellte Witte am 6. November 1892 Zar Alexander III. seine Vision von der ökonomischen Kraft der Transsibirischen Eisenbahn vor. Voller Optimismus bezeichnete er den Bau als "Weltereignis", das eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte einleiten werde. Die Eisenbahn werde 400 Millionen Chinesen und 35 Millionen Japaner via Russland mit dem europäischen Kontinent verbinden und so Russlands Position auf dem "Weltmarkt" festigen. Dezidiert stellte Witte das Projekt in den Kontext eines weltweiten "Wirtschaftskampfes", in dem die Großmächte um den Profit des globalen Warenverkehrs ringen. So wie es Kanada mit dem Bau der Canadian Pacific Railroad gelungen sei, einen Teil des Tee- und Seidenhandels vom Suez-Kanal abzuziehen, müsse sich Russland bemühen, den lukrativen Teehandel aus China, der gegenwärtig von der englischen Handelsflotte dominiert werde, auf das eigene Territorium umzulenken.

Längste Baustelle der Welt

Der Bau der Transsib erfolgte ab 1891 weitgehend zeitgleich auf sechs Abschnitten (Karte). Die westsibirische Sektion von Tscheljabinsk bis an den Fluss Ob konnte bereits im August 1895 in Betrieb genommen werden. Die Einweihung des Mittelsibirischen Segments bis zur Stadt Irkutsk erfolgte im Sommer 1898. Zwei Jahre später wurde das westliche Ufer des Baikalsees mit der Eisenbahn erreicht. Im Frühjahr 1900 war auch der Streckenabschnitt vom östlichen Ufer des Baikalsees bis nach Sretensk betriebsbereit. Der Bau der Baikalrundbahn am südlichen Ufer des Baikalsees wurde wegen des schwierigen Terrains und der kostspieligen Bauten, die der Streckenverlauf erforderte, zunächst verschoben. Als provisorische Lösung zur Überquerung der Wasserfläche nahm man zwei Transportschiffe in Betrieb, in deren Rumpf jeweils die Waggons eines ganzen Zuges Platz fanden und die bei Frost auch als Eisbrecher eingesetzt werden konnten. Auch die Strecke von Sretensk nach Chabarowsk musste zunächst auf dem Wasserweg der Flüsse Schilka und Amur überwunden werden, da der Bau der Amur-Bahn zunächst als zu teuer und zu aufwendig erschien. In Chabarowsk konnten Reisende jedoch ab 1897 die Züge der Ussuri-Bahn bis Wladiwostok nutzen und ab 1903 eine durchgehende Zugverbindung von Moskau nach Wladiwostok inklusive Querung des Baikalsees und der Schiffspassage über Schilka und Amur buchen.

In der Hochphase des Baus der Transsibirischen Eisenbahn 1895/96 arbeiteten rund 80000 Menschen gleichzeitig an dem gewaltigen Infrastrukturprojekt. Unter ihnen waren chinesische Tagelöhner, russische Bauern, ausländische Spezialisten und Strafgefangene, die mit dem Versprechen an die Baustellen gelockt wurden, durch die Mitarbeit die eigene Haftzeit zu verkürzen. Gefeiert wurden später vor allem russische Ingenieure, die gewaltige Stahlbrücken zur Querung der sibirischen Flüsse entworfen hatten. Geschmückt wurden die Brückeneinfahrten mit dem russischen Doppeladler und Herrscherwappen. Von Anbeginn betrachtete die Reichsregierung die Bahn als nationales Prestigeprojekt mit hohem symbolischen Wert.

Geburt des Mythos

Die Vision von der Transformation Sibiriens in eine Transitzone des Welthandels und ein "Land der Zukunft" wurde von der Reichsregierung auch international propagiert. Die offizielle Außendarstellung des Projekts der Großen Sibirischen Bahn zielte nicht zuletzt auf den Wandel des Bildes von Sibirien in der westlichen Öffentlichkeit. Mit der Präsentation des Verkehrsprojekts auf Weltausstellungen sowie in westeuropäischen und US-amerikanischen Publikationen sollte das Zarenreich als ein Land des Fortschritts vorgestellt werden. Ein wichtiges Ziel war es, Investoren für ein finanzielles Engagement in Sibirien zu gewinnen und dadurch den ökonomischen Wachstumsimpuls zu steigern, den man sich vom Bau der Transkontinentalbahn erwartete. Denn der Bau der Transsib war nicht nur ein aufwendiges, sondern vor allem ein teures Unterfangen. Für die Finanzierung war der russische Staat auf Anleihen am internationalen Geldmarkt angewiesen.

Eine wichtige Bühne für die Selbstdarstellung Russlands waren die Weltausstellungen in Chicago 1893 und Paris 1900. Das Zarenreich war in Paris mit einem eigenen Pavillon vertreten, in dessen Ausstellung die Erschließung und Entwicklung der "Randgebiete des Imperiums" im Mittelpunkt standen – ganz bewusst sprach man nicht von "Kolonien". Die Darstellung Sibiriens, des Kaukasus, Zentralasiens sowie des russischen Nordens zielte darauf, den Unterschied zwischen der Entwicklungspolitik des Zarenreiches in seinen Randprovinzen und der Kolonialpolitik westlicher Imperien hervorzuheben. So stand auch bei der Darstellung der Großen Sibirischen Bahn, deren Präsentation drei Säle des Pavillons einnahm, die Erschließung Sibiriens und die Einbeziehung der Region in das System des Weltverkehrs im Vordergrund.

Neben der russischen Reichsregierung beteiligte sich auch die Compagnie Internationale des Wagons-Lits (Internationale Schlafwagengesellschaft, CIWL) an der Werbeaktion für die Transsibirische Eisenbahn. Die CIWL betrieb seit 1898 einen Luxuszug von Moskau nach Krasnojarsk und nutzte die Gelegenheit, um in Paris im großen Stil für ihren "Transsibirien-Express" zu werben. In den von der CIWL aufgestellten Waggons eines Luxuszuges konnten sich Besucher auf eine virtuelle Reise von Moskau nach Peking begeben. Die "Fahrt" dauerte 45 Minuten. Ihre Suggestivkraft verdankte sie einem gewaltigen Landschaftspanorama, das Künstler der Pariser Oper geschaffen hatten und das an den Fenstern des Zuges vorbeigezogen wurde. Vier verschiedene Ebenen, die sich in unterschiedlichem Tempo bewegten, sorgten für die perfekte Illusion. Nach einer dreiviertel Stunde entstiegen die "Reisenden" dem prachtvollen Waggon und wurden auf dem Bahnsteig von "Peking" von Personal in chinesischer Tracht willkommen geheißen.

Die imaginierte Reise war ein gewaltiger Publikumserfolg. Die Inszenierung kündete vom Sieg über Raum und Zeit. In der Attraktion schienen sich die hoffnungsvollen Erwartungen der Menschen an das noch junge 20. Jahrhundert wie in einem Brennspiegel zu bündeln. Dabei war es von nachrangiger Bedeutung, dass eine Fahrt von Moskau nach Peking damals noch gar nicht möglich war. Noch war der Bau des durchgehenden Schienenstrangs nach China nicht abgeschlossen. Im Jahr der Pariser Weltausstellung tobten zudem entlang des Streckenabschnittes der Bahnlinie durch die Mandschurei erbitterte Kämpfe zwischen chinesischen "Faustkämpfern" (Boxern) und den herbeigerufenen Interventionstruppen des Zaren und anderer europäischer Mächte. Dennoch zeigte der große Aufwand, mit dem die russische Reichsregierung in Paris für die transkontinentale Bahn warb, seine Wirkung.

Zukunftsland Sibirien

(© picture-alliance, akg images)

In den für die Weltausstellungen erstellten Publikationen stellte die Zarenregierung Sibirien als eine Region mit großem Entwicklungspotenzial vor. Negative Aspekte des etablierten Sibirien-Bildes wie das Verbannungssystem wurden dabei heruntergespielt, der Reichtum des Landes an Bodenschätzen dagegen hervorgehoben. Das Bauprojekt der Großen Sibirischen Bahn wurde als Mittel zur Transformation Sibiriens zu einer Drehscheibe des internationalen Warenverkehrs zwischen Europa und Asien präsentiert. Berauscht vom zeitgenössischen Kult um Geschwindigkeit betonten die Autoren einer Broschüre für die Pariser Weltausstellung, dass sich nach der Fertigstellung der Transsibirischen Eisenbahn die Reisezeit von Paris oder London nach Shanghai von 34 bis 36 auf 16, später vielleicht sogar auf nur zehn Tage verkürzen lasse. Eine beigefügte Landkarte, die Europa und Asien als einen von großen Bahnlinien strukturierten Raum zeigt, illustrierte dieses Zukunftsbild. Im Zentrum der Kartendarstellung steht der asiatische Kontinent. Sibirien erscheint nicht wie auf üblichen Russland-Karten als Anhängsel des europäischen Russlands, sondern umgekehrt: Westeuropa wirkt wie ein kleiner Annex Sibiriens. Die im Text als "ideale Verbindung" zwischen dem Atlantik und dem Pazifik dargestellte Route von Le Havre über Paris, Köln, Berlin, Warschau, Moskau, Tscheljabinsk und Irkutsk nach Wladiwostok ist auf der Landkarte wie eine Arterie als durchgehende rote Linie eingezeichnet.

Mit Genugtuung stellten die Verantwortlichen nach dem Ende der Weltausstellung in Paris fest, dass die westliche Presse nicht nur ausführlich, sondern mehrheitlich auch in der gewünschten Weise über das Bauvorhaben berichtet hatte. Während zwei Jahre zuvor die CIWL noch ohne nennenswerte Resonanz in belgischen, französischen und englischen Zeitungen Werbung für eine Reise auf einem bereits fertiggestellten Teilstück der Sibirischen Bahn gemacht hatte, lösten im Jahr 1900 die ersten ausländischen Touristen Fahrkarten für die Reise in den Fernen Osten. Bald erschienen die ersten Reiseberichte in westlichen Sprachen, die von der Überwindung des Raumes, vom Komfort der Luxuszüge und von der Weite Sibiriens schwärmten.

Begeistert von der Idee eines durchgehenden "Eisenbandes vom Atlantik zum Pazifik" war beispielsweise der amerikanische Schriftsteller Michael Myers Shoemaker, der sich im Frühjahr 1902 auf die Reise von Sankt Petersburg nach Port Arthur (Dalian) am Gelben Meer machte und im folgenden Jahr einen umfassenden Reisebericht über seine Fahrt auf der "Great Siberian Railway" publizierte. Shoemaker, Sohn eines Eisenbahnunternehmers, hatte den offiziellen Reiseführer von der Pariser Weltausstellung für die Transsib im Gepäck. Der Amerikaner teilte den grenzenlosen Optimismus der Zarenregierung und feierte die Transsibirische Eisenbahn als das "erste große Bauwerk des 20. Jahrhunderts". Interessant sei dieses nicht so sehr wegen der landschaftlichen Schönheit der Strecke. Tatsächlich gebe es für einen gewöhnlichen Reisenden, dem diese "wilden Steppen und Wälder" nichts bedeuten, "kaum etwas Monotoneres als [eine Fahrt auf der] Transsibirischen Eisenbahn". Lenke man jedoch den Blick auf das lange Eisenband, das sich hinter dem Zug erstreckt und auf jenen "Zielpunkt, an dem das Wasser des Pazifiks das östliche Ende der Strecke benetzt", so ergebe sich ein völlig anderes Bild. Die Bahn werde Russland nicht nur helfen, seine asiatischen Provinzen zu "zivilisieren", sondern mit der Transsib entstehe auch die "sicherste, schnellste, billigste und bequemste Route" zwischen Europa und Ostasien. Sie verbinde wichtige globale Wirtschaftszentren und eröffne gänzlich "neue Perspektiven für die russischen und internationalen Handelsbeziehungen". Der Güter- und Personenverkehr zwischen Asien und Europa werde nicht mehr allein auf den Seeweg über den Suez-Kanal angewiesen sein. Beseelt vom Fortschrittsglauben seiner Zeit, prophezeite Shoemaker, das Bauwerk werde einen "größeren Einfluss auf die Entwicklung der Welt entfalten als jedes andere in früheren Zeiten."

Shoemaker sollte Recht behalten. Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn wirkte sich nachhaltig auf die Geschichte Russlands und Sibiriens aus, jedoch in einer anderen Weise, als von ihm prophezeit. Dank der neuen Transkontinentalbahn erlebte die östliche Hälfte des Zarenreiches im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einen beeindruckenden Entwicklungsschub. An Kreuzungen der Bahnlinie mit schiffbaren Flüssen und anderen Verkehrsknotenpunkten schossen neue Städte wie Pilze aus dem Boden. So zählte etwa das 1893 am Kreuzungspunkt der Transsib und des Flusses Ob gegründete Nowo-Nikolajewsk (heute Nowosibirsk) 1900 bereits 18000 Einwohner. Daneben ermöglichte die Verkehrsader die Umsiedlung zahlreicher russischer, ukrainischer und belarussischer Bauern aus dem westlichen in den östlichen Teil des Reiches. Sie wollten dem Landmangel in ihren Heimatregionen entfliehen und waren auf der Suche nach fruchtbarem Boden im "Zukunftsland Sibirien". Ab den 1890er Jahren wurde dieser Prozess von der russischen Regierung systematisch gefördert und – mithilfe der Transsib – gelenkt. So hatte das staatliche Komitee zum Bau der Sibirischen Bahn nicht nur den Auftrag, sich um die Trassierung des Geländes und den Bau von Tunneln und Brücken zu kümmern, sondern auch, den Transport von Bauern aus den westlichen in die östlichen Provinzen des Zarenreiches zu organisieren. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges fanden rund vier Millionen Untertanen des Zaren in Sibirien eine neue, dauerhafte Heimat.

Weg in den Russisch-Japanischen Krieg

Der Traum von der friedlichen Handelsbrücke zwischen Europa und Asien wurde im Februar 1904 jedoch nachhaltig erschüttert, als Japan den russischen Hafen Port Arthur angriff und sich die Transsibirische Eisenbahn im nachfolgenden Russisch-Japanischen Krieg in eine Heerstraße verwandelte. Zur Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den beiden Ländern hatte nicht zuletzt der Bau der Transsibirischen Eisenbahn beigetragen. Mit Blick auf die strategische Funktion, die ihr im Verkehrsnetz des Russischen Reiches zugedacht war, blieb eine ununterbrochene Schienenverbindung vom europäischen Russland bis an die Pazifikküste ein wichtiges Ziel der russischen Verkehrspolitik. Als Alternative zur Dampferverbindung zwischen Sretensk und Chabarowsk und einer Bahntrasse über russisches Territorium entlang des Grenzflusses Amur entwarfen geopolitische Strategen in Sankt Petersburg den Plan einer 300 Kilometer kürzeren Eisenbahnlinie von Tschita nach Wladiwostok quer durch die Mandschurei, also über chinesisches Territorium. Eine treibende Kraft war hier erneut Finanzminister Sergej Witte. Dieser schlug Nikolaus II. 1895 vor, Russland solle China, das gerade eine militärische Niederlage gegen Japan erlitten hatte, ein strategisches Bündnis anbieten. Das Zarenreich bot China an, Druck auf Japan auszuüben und zum Verzicht auf territoriale Forderungen zu nötigen. Gleichzeitig wollte man China bei der Suche nach Krediten zur Tilgung seiner Kriegsschulden auf dem französischen Finanzmarkt unterstützen. Als Gegenleistung forderte Witte von chinesischer Seite die Konzession zum Bau einer "Chinesischen Ostbahn", die die Lücke im Schienenstrang der Transsib nach Wladiwostok schließen sollte. Zar Nikolaus II. und die chinesischen Unterhändler stimmten Wittes Vorschlägen zu. Einer eigens gegründeten privaten Eisenbahngesellschaft, die de facto der Kontrolle des russischen Finanzministeriums unterstand, wurde die Aufgabe übertragen, eine Bahnlinie von der russisch-chinesischen Grenze durch die Mandschurei nach Wladiwostok und eine Stichbahn in südlicher Richtung in das 1897 von Russland besetzte Port Arthur am Gelben Meer zu bauen. Das Projekt der Chinesischen Ostbahn war Teil von Wittes Strategie der "friedlichen Durchdringung" Chinas, die darauf zielte, den ökonomischen und politischen Einfluss Russlands im Reich der Mitte zu stärken. Der Preis, den Russland für den Bau der 1903 eingeweihten Bahn zu zahlen hatte, war hoch. Denn gegen das russische Engagement in der Mandschurei richtete sich im Jahr 1900 nicht nur der Zorn der revoltierenden "Boxer". Auch Japan rieb sich zunehmend am russischen Imperialismus in Fernost.

Als im Februar 1904 japanische Torpedoboote die russische Flotte in Port Arthur unter Beschuss nahmen und damit den Krieg gegen das scheinbar übermächtige Russische Reich eröffneten, war der Bau der ununterbrochenen Schienenverbindung der Großen Sibirischen Bahn noch nicht abgeschlossen. Als Nadelöhr für die nun einsetzenden Militärtransporte aus dem Westen erwies sich der Baikalsee, der im Moment des japanischen Überfalls noch fest zugefroren und selbst für die mächtigen Eisbrecher unpassierbar war. Ohne Rücksicht auf Kosten und Verluste trieb die Zarenregierung nun den Bau der Gürtelbahn am südlichen Ufer des Baikalsees voran, die bereits im September 1904 in Betrieb genommen werden konnte. Damit war das letzte Teilstück eines durchgehenden Schienenstrangs von Moskau nach Wladiwostok vollendet.

Mithilfe der Transsibirischen Bahn wurden während des Russisch-Japanischen Krieges rund 1,3 Millionen Soldaten und über eine Milliarde Tonnen Kriegsgerät auf die Schlachtfelder der Mandschurei transportiert. Diese gewaltigen Zahlen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kapazitäten der Bahnlinie für den Ernstfall eines Krieges im Fernen Osten bei Weitem nicht ausreichten. So konnte es nicht ausbleiben, dass die russische Militärführung bereits während des Krieges versuchte, die Schuld an der sich abzeichnenden Niederlage dem Verkehrsministerium und der Verwaltung der Transsibirischen Bahn in die Schuhe zu schieben.

Die militärische Niederlage gegen Japan war für die Regierenden im Zarenreich ein schwerer Schock. Der Krieg von 1904/05 hatte den Verkehrsplanern auch die Verletzlichkeit der Verbindungswege nach Wladiwostok über chinesisches Territorium deutlich gemacht. Auch wenn der für das Zarenreich relativ milde Friedensvertrag von Portsmouth den Verbleib der Chinesischen Ostbahn in russischem Besitz garantierte, wuchs innerhalb der Regierung der Wunsch nach einer Bahnlinie an die Pazifikküste, die gänzlich auf eigenem Territorium verlief. So wurde 1905 mit dem Bau der zunächst verworfenen Amur-Bahn begonnen. 1916 wurde die letzte Lücke der Großen Sibirischen Bahn auf russischem Reichsgebiet geschlossen.

Mit den Schlachten des Ersten Weltkrieges, der Revolution von 1917 und dem nachfolgenden Bürgerkrieg in Russland wurde jedoch das erste globale Zeitalter, in dem zukunftsgläubige Ingenieure von der Vernetzung der Welt mithilfe moderner Infrastruktur träumten, bis auf Weiteres zu Grabe getragen. Die Zukunft wird zeigen, ob sich die Vision von der Transsibirischen Eisenbahn als Teil einer "Neuen Seidenstraße" von Asien nach Europa nun im 21. Jahrhundert realisieren lässt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Geschichte der Transsibirischen Eisenbahn vgl. unter anderem Jean De Cars/Jean-Paul Caracalla, Die Transsibirische Bahn. Geschichte der längsten Bahn der Welt, Zürich 1987; Steven G. Marks, Road to Power. The Trans-Siberian Railway and the Colonization of Asian Russia, 1850–1917, Ithaca 1991; Sören Urbansky, Kolonialer Wettstreit: Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt/M.–New York 2008; Frithjof Benjamin Schenk, Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter, Stuttgart 2014.

  2. Vgl. I.V. Lukojanov, Velikaja Sibirskaja železnaja doroga i KVŽD, in: Sergej J. Vitte. Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov, Bd. 1, Buch 2, Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Teil 1, Moskau 2004, S. 123–158, hier S. 125.

  3. Vgl. Sergej J. Vitte, Vsepoddannejšij doklad upravljajuščego ministerstvom finansov o sposobach sooruženija Velikogo Sibirskogo Železnodorožnogo puti i o naznačenii soveščanija dlja obsuždenija sego dela. 6 nojabrja 1892g., in: ders. (Anm. 2), S. 159–183.

  4. Vgl. Kancelarija Komiteta ministrov (Hrsg.), Velikaja Sibirskaja Železnaja doroga. Vsemirnaja vystavka 1900g. v Pariže, Sankt Petersburg 1900, S. 10.

  5. Michael Myers Shoemaker, The Great Siberian Railway. From St. Petersburg to Peking, New York–London 1903.

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ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel, Schweiz.
E-Mail Link: benjamin.schenk@unibas.ch