"Diese Zeit gehört Dir", lautet seit 2015 der Slogan einer prominenten Werbekampagne der Deutschen Bahn. Reisezeit, so das Versprechen, sei keine verlorene, sondern (wieder)gewonnene Zeit, Bahnfahren das kurze Exil in einer hektischen Alltagswelt – ein raffinierter Ansatz im Kontext unserer höchst zeitsensiblen Gesellschaft, in der Schnelligkeit und selbstbestimmte (Reise-)Zeitnutzung einen hohen Stellenwert einnehmen. Gleichwohl trägt zur allgemeinen Zeitsensibilität des Bahnreisens nicht nur das Entspannen im Bordbistro, sondern auch die alltägliche Erfahrung von Wartezeiten bei. Laut der Deutschen Bahn waren im präpandemischen "Normalbetrieb" des Jahres 2019 75,9 Prozent aller Fernverkehrszüge pünktlich.
Das Warten auf die (verspätete) Bahn bildet zweifellos einen unweigerlichen Teilaspekt der Reiseerfahrung. Überhaupt stellte Verspätung bereits von Anbeginn des Bahnwesens eine feste Begleitgröße dar. Dies kann kaum treffender illustriert werden als durch die Eröffnung der ersten regulären Personenverkehrsstrecke zwischen Liverpool und Manchester am 15. September 1830, die den triumphalen Auftakt in ein neues Zeitalter der beschleunigten Raumüberwindung markieren sollte: Nicht nur mussten die 600 Passagiere des Festzuges in Liverpool bereits vor Abfahrt eine Wartezeit von gut 70 Minuten absolvieren, sondern traf der Zug auch erst mit zweieinhalb Stunden Verspätung in Manchester ein, nachdem auf halber Strecke ein entgegenkommender Zug den britischen Parlamentsabgeordneten und ehemaligen Minister William Huskisson erfasst hatte, der später seinen Verletzungen erlag.
Über dieses historische Ereignis hinaus eröffnet die Beschäftigung mit dem Warten einen Einblick in Konstitution und Wandel unserer modernen Zeitauffassung. Obwohl Wartesituationen aus Passagierperspektive seit jeher ein zentraler Aspekt der Mobilitätserfahrung sind, erhält die Thematik innerhalb der historischen Verkehrs- und Technikforschung bislang nur geringe Aufmerksamkeit. Vor diesem Hintergrund würdigt dieser Beitrag das Warten auf die Bahn nicht nur als eine zentrale Mobilitätspraxis, sondern unterzieht es auch einer bau- und rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktion.
Warum wir auf die Bahn warten (müssen)
Die Entstehung von Verzögerungen und Wartezeiten im Bahnwesen hat viele Ursachen. Zu den infrastrukturell-technischen Ursachen zählen Probleme an Gleisanlagen, Fahrzeugen oder am Signal- und Leitungssystem, die Reparaturen oder die Einrichtung von Baustellen erfordern. Zu den betrieblichen Ursachen zählen die unzureichende Anzahl und Einsatzfähigkeit verfügbarer Züge und Ersatzzüge, aber auch Personalmangel. Zudem führen Wetterereignisse wie Sturm, Starkregen und starker Schneefall oder auch Streiks gelegentlich zu Verzögerungen. 2019 waren die drei häufigsten Verspätungsursachen von Zügen der DB Fernverkehr netzbedingte Verspätungsminuten (18 Prozent), Störungen an Fahrzeugen (11,8 Prozent) sowie Störungen an Leit- und Sicherheitstechnik (7 Prozent).
Der hohe Anteil an netzbedingten Verspätungen führt vor Augen, dass die Bahn als ein hochkomplexes und entsprechend störungsanfälliges Verkehrssystem zu verstehen ist. In einem solchen System können Störungen sich oftmals noch auf selbst weit entfernte Punkte auswirken, was Reisenden bisweilen in der besonders grotesk anmutenden Verspätungsursache "Verspätung aufgrund einer vorausgegangenen Verspätung" in Erinnerung gerufen wird.
Neben netzbedingten und betrieblichen Ursachen entstehen Wartesituationen jedoch auch seitens der Reisenden selbst. Sie resultieren aus der formalen Besonderheit, dass der Zugang zu einem öffentlichen Verkehrsmittel – das im Gegensatz zum Individualverkehrsmittel eine "örtliche und zeitliche Bündelung von Fahrtwünschen"
Historisch gesehen, nahm dieser seitens der Reisenden benötigte Zeitvorlauf noch weit größere Kapazitäten in Anspruch als heute. Grund dafür war unter anderem, dass ein geordnetes Verkehrsangebot aus Sicht der Eisenbahngesellschaften über weite Teile des 19. Jahrhunderts nur durch ein mehr oder weniger hohes Maß zeitlicher und räumlicher Kontrolle vor Beginn der Abfahrt ermöglicht werden konnte, um Ströme (sicher) zu lenken, Fahrberechtigungen zu prüfen oder Passagiere (klassenspezifisch) gruppieren zu können. Der neuartigen organisatorischen Herausforderung, viele Menschen gleichzeitig mit einem Verkehrsmittel zu synchronisieren, wurde folglich mit Kontroll- und Transferzonen begegnet. Die Gestaltung von Bahnhöfen im 19. Jahrhundert zielte demnach nicht nur auf die Errichtung symbolträchtiger Kathedralen der Mobilität, sondern auch auf die Einrichtung großer Wartezonen, um einen ordnungsgemäßen Übergang der Passagiere auf die Züge zu gewährleisten. Insbesondere das erste Jahrhundert der Eisenbahn stand dabei vielerorts im Zeichen der temporären Sammlung bereits abgefertigter Reisender in großen Wartesälen, die "aus Gründen der Sicherheit und Kontrolle noch nicht auf den Bahnsteig durften".
Warten ist "modern"
Dass Reisende einen Zug im Wartesaal oder am Bahnsteig erwarten, mag heute banal erscheinen. Tatsächlich aber ist diese Situation historisch gesehen relativ neu, denn ohne den organisierten Massenverkehr der Eisenbahnen wäre jener Zeitzwischenraum schlichtweg nicht entstanden. Zwar war zum Zeitpunkt der ersten Eisenbahnreisen das Warten an sich keineswegs neu: Menschen warteten schon immer auf ernährungsrelevante Ernten, auf transportrelevante Winde, auf spirituelle Erlösung und vieles mehr. Jedoch erfuhr das Warten als anthropologische Grundverfassung mit Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1830er Jahren eine "moderne" Erweiterung. Diese Form des Wartens war erst durch die allgemeine Bewegungs- und Beschleunigungszunahme der verkehrlichen Moderne erzeugt worden und unterschied sich in mindestens vier Merkmalen von der Erfahrung bis dahin typischer Wartesituationen.
Erstens war sie wesentlich kürzer als etwa ein vormodernes Langzeitwarten auf jahreszeitlichen Wandel oder das Erscheinen astronomischer Konstellationen zur Zeitbestimmung. Auch wenn es sich aus Sicht der Wartenden am Bahnhof manchmal wie eine Ewigkeit anfühlen mag, ist es verglichen mit vormodernen Wartesituationen von relativ begrenzter Dauer. Zweitens war dieses Warten wesentlich profaner und weniger existenziell, weil es eine formale Notwendigkeit des (neuen) Verkehrszugangs darstellte. Drittens war dieses Warten von weniger Ungewissheit gezeichnet. Wartende in modernen Systemzusammenhängen wie etwa am Bahnhof verfügten insgesamt über eine gewisse Prozesssicherheit, weil sie sich bereits im System befanden beziehungsweise Informationen durch Pläne oder Auskünfte erhielten, die die Ungewissheit des Wartens kompensieren konnten. Im Vergleich zu anderen Wartesituationen war das Warten auf die Bahn zudem stärker im Vorfeld plan- und absehbar und geschah dadurch weniger überraschend. Viertens trat das "moderne" Warten im Bahnkontext zudem häufiger und regelmäßiger auf. Das Wissen über Rhythmik der Entstehung, Erfahrung und Auflösung solcher systemischer Wartesituationen gehörte im Leben der Moderne zunehmend zur Alltagsroutine, weil diese auch in anderen Kontexten (Verwaltung, Dienstleistungen) auftraten und damit eine stärkere Routinisierung des Verhaltens ermöglichten. Nichtsdestotrotz waren und sind solche "modernen" Wartesituationen keineswegs psychologisch unproblematisch, denn die selbst im Kurzzeitwarten erzwungene Taktunterbrechung bildet unweigerlich den Wahrnehmungsmittelpunkt und kann negative Affektreaktionen hervorrufen, insbesondere im Verspätungsfall.
Vor diesem Hintergrund erforderte das Warten am Bahnhof eine neue Kulturpraxis, die erst erlernt werden musste. Zudem impliziert die Neuheit der Wartesituation, dass sie in den Betriebsablauf eingefügt und von einem entsprechenden Raumprogramm gerahmt werden musste. Baulicher Rahmen und kulturelle Rezeption können somit Aufschluss geben, welchen Wandel das Warten auf die Bahn durchlaufen hat.
Baugeschichtliche Konjunkturen
Wie und wo auf die Bahn in ihrer fast 200-jährigen Geschichte gewartet wurde, war auf engste mit den Entwicklungsphasen des Bahnhofsbaus verbunden. Darin spiegelten Lage und Stellung des wartebezogenen Raumprogramms jeweils wandelnde Betriebskonzepte des Verkehrszugangs, die den wartenden Passagier mehr oder weniger stark formalisierten und disziplinierten.
Während die Pionierphase der Eisenbahn (1830–1845) den Reisenden zum Teil noch recht große informelle Spielräume und Bewegungsfreiheiten bot, bildete sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Regime der Zwangsschleusung durch Wartesäle heraus, das dem Abfertigungsprinzip heutiger Flughäfen ähnelte und ungefähr bis zur Schwelle zum 20. Jahrhundert dominierte. Im Rahmen dieses "stationären Warteimperativs"
Der im Laufe des 19. Jahrhunderts wachsende Formalisierungsgrad der Abfahrtsorganisation war jedoch international nicht einheitlich. Während insbesondere im deutschen und französischen Kontext Reisende mancherorts förmlich in die Wartesäle eingesperrt wurden und die Wartezeit dadurch wesentlich angespannter und nervöser erlebt haben dürften, war es Reisenden in England von Anbeginn möglich, sich frei auf den Bahnsteigen zu bewegen. Hier wurden Wartesäle zum Teil gar nicht erst errichtet. Somit spiegelten wartebezogenes Raumprogramm und Abfahrtsorganisation auf den Bahnhöfen nicht zuletzt auch Gesellschaftsauffassungen der jeweiligen Nationen, die von einer patriarchalisch-ordnenden Auffassung (Deutschland, Österreich, Frankreich) mit tendenziell starker Reglementierung der Bewegungsfreiheit bis hin zu einer liberal-individualistischen Auffassung (England, Belgien) reichten, in der das Warten auf die Abfahrt wesentlich selbstbestimmter verbracht werden konnte.
Erst vor dem Hintergrund des wachsenden Verkehrsdrucks und der kategorischen Zielsetzung, kreuzungsfreie und reibungslose Passagierströme zu erlauben, wurde nach 1900 – angefangen mit den großen Kopfbahnhöfen der Metropolen – das stationäre Sammeln und Festhalten der Reisenden zugunsten einer moderneren, fluiden Zugangslösung aufgegeben. Den baulichen Rahmen bildete hierfür die Einrichtung eines Direktzugangs aus der Eingangshalle auf einen Quer- oder Kopfbahnsteig, der als selbstorganisierte Zirkulationszone zunehmend in funktionale Konkurrenz zum geschlossenen Wartesaal und dessen stationärer Nutzungspraxis trat. Repräsentiert durch stark verkleinerte und an die Ränder der Empfangsgebäude verlegte Wartesäle in Bahnhofsneubauten der 1920er und 1930er Jahre, wurde der lange stationäre Aufenthalt in einer auf Effizienz und reibungslose Passagierströme ausgerichteten Wegeführung zunehmend zur randständigen und damit optionalen Mobilitätspraxis, der mehrheitlich nur noch von Reisenden im Fernverkehr nachgegangen wurde. Motor dieser Entwicklungen war im deutschen Kontext insbesondere ein um 1900 wissenschaftlich betriebener Bahnhofsbau, der die Prozessabläufe der modernen Fabrik auf die Passagierströme im Bahnhof zu übertragen und dabei die großen Wartesäle zugunsten einer Flusslogik aufzugeben suchte. Das lange stationäre Warten wurde zunehmend als ineffizienter und unökonomischer Störfaktor der Betriebsabläufe, die riesigen Wartesäle als "fressendes Kapital"
In den Bahnhöfen der Nachkriegsmoderne setzte sich der Bedeutungsverlust des wartebezogenen Raumprogramms dann noch weiter fort. Durch Verkleinerung und Umwidmung von Flächen im Bahnhofsinneren wurden Wartesäle meist zu Gewerbeflächen, sodass sich die Aktivitäten vor Abfahrt noch stärker als zuvor in Richtung des Konsums von Waren und Dienstleistungen verschoben. Ehemalige Wartesäle wurden zunächst in Kinos und Gaststätten, dann in ganze Ladenstraßen verwandelt. Erst im Zuge einer seit Mitte der 1990er Jahre programmatischen "Renaissance der Bahnhöfe" findet die Abfahrtssituation in Form der Errichtung separater Wartezonen und exklusiver DB-Lounges in Deutschland punktuell wieder eine bauliche Berücksichtigung.
Rezeptionsgeschichtliche Entwicklung
Parallel zur baugeschichtlichen Verhandlung weist auch die Rezeption des Wartens auf die Bahn in Literatur und Kunst einen deutlichen Wandel auf. Für die Pionierphase der Eisenbahn lässt sich bis auf punktuelle Beschwerden im Kontext unzulänglicher Betriebsverhältnisse zunächst keine explizite Thematisierung ausmachen. Vielmehr steht zu vermuten, dass die Wartezeit vor Abfahrt zunächst unter eine Gesamterfahrung des Neuen subsumiert worden sein dürfte. Die am Bahnhof verbrachte, meist lange Wartezeit erhielt darin mitunter die Qualität einer katalytischen Kraft, die die positiv aufgeregte Grundstimmung des "Eisenbahnfiebers" sogar noch weiter steigern konnte.
Erste explizit literarisch-künstlerische Thematisierungen des Wartens zeigten sich mit einsetzender Gewöhnung an die Bahn zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Wiederum entgegen einer per se negativen Bewertung der Wartezeit am Bahnhof äußerte sich die literarische Verhandlung dabei interessanterweise häufig als kulturkritische Reflexion des neuen, eilenden Wartens und reziprok in der Romantisierung des langen, gemütlicheren Wartens auf die Postkutsche. So wurde zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht das eigentliche Warten auf den Zug als problematisch erfahren, sondern vielmehr der Umstand, dass das rationalisierte Verkehrssystem der Eisenbahn nicht mehr auf den Menschen wartete.
Daneben erfolgte die literarische Entdeckung des Wartens auf die Bahn hier auch erstmals in Form der Thematisierung einer belastenden Routine und eines sozial wie geschlechtsspezifisch ungleich erlebten Temporalzustands.
(© bpk/Bröhan-Museum/Martin Adam)
(© bpk/Bröhan-Museum/Martin Adam)
Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Menschen an das durch die Eisenbahnen etablierte linear-mechanisierte Zeitregime gewöhnt. In zeitgenössischer Kunst und Literatur finden sich nun keine Hinweise mehr, die auf ein symbolisches Vermissen der Postkutsche schließen lassen. Vielmehr bildete das Eisenbahnmotiv häufig den selbstverständlichen Hintergrund oder den Rahmen literarischer Handlungen, in denen das Warten trotz seiner Ausreifung zu einer Kollektiverfahrung für Millionen von Reisenden gleichwohl nur äußerst spärliche Beachtung fand. Demnach erfuhr das Warten auf die Bahn bis zur Jahrhundertwende noch keine grundsätzliche Problematisierung.
Zeitgleich verursachte die wachsende Nutzung und Bedeutung des Nah- und Vorortverkehrs im Rahmen der voranschreitenden Urbanisierung, dass sich die Wartepraxis nunmehr in ein langes Warten im Saal (Fernverkehr) und ein vergleichsweise kurzes Warten am Bahnsteig (Nahverkehr) auftrennte. Jenseits dieser orts- und betriebsspezifisch bedingten Verkürzungen des Aufenthalts erreichte die Warteerfahrung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts angesichts reich ausgestatteter Säle in zu Dienstleistungszentren transformierten Bahnhöfen den Höhepunkt des Würdevollen. Dieser markierte zugleich auch den Höhepunkt des sozial getrennten Wartens. Die Großbahnhöfe der Kaiserzeit verfügten nicht nur über vier klassenspezifische Wartesäle, sondern zusätzlich auch über Damenzimmer und mancherorts über spezielle Auswanderersäle. Die Bandbreite der Wartesäle im Bahnhof erfüllte damit neben der rein betrieblich-technischen Funktion des Sammelns von Reisenden nicht zuletzt auch immer eine soziale Funktion der Trennung sozioökonomischer Positionen beziehungsweise der Aufrechterhaltung und Spiegelung gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse.
Mit einer sprunghaften Thematisierung markierte der Zeitraum von 1900 bis 1935 die literarisch-künstlerisch vielleicht ergiebigste Phase der Verhandlung des Wartens auf die Bahn. Der Aufenthalt im Wartesaal wurde im Kontext des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit besonders in den 1920er Jahren als Modus des existenziellen Daseins verhandelt und zur politisierten Explikation sozialer Missstände herangezogen. Die Zeichnungen und Lithografien eines Hans Baluschek, Eduard Braun oder Walter Ophey entdeckten im Rahmen eines gewachsenen Interesses an realen Lebenswelten das Motiv des Wartesaals der unteren Wagenklassen und illustrierten die dortige Atmosphäre als exemplarischen Schauplatz der sozialen Disparität, in dem das Warten für die Reisenden im Spektrum von Routine und Würdelosigkeit zu einer krisenhaften Kollektiverfahrung gereift war.
Darüber hinaus war das frühe 20. Jahrhundert auch durch eine allgemeine Verkürzung der Wartedauer im Bahnhof sowie Vermeidungs- und Umgehungsstrategien des Wartens charakterisiert. Sie ergaben sich erstens aus der mittlerweile erlernten Praxis der zugangsbeschleunigten Nahverkehrsnutzung, zweitens aus den baulich-betrieblichen Neuerungen eines Direktzugangs und drittens aus einer allgemein gewachsenen Zeitsensibilität der modernen Industriegesellschaft, die eine sinkende Toleranz gegenüber Wartezeiten zeigte. Baulich-technische Entwicklungen und veränderte Nutzungspräferenzen wirkten somit nach 1900 wechselseitig zusammen und resultierten in einer Abnahme der Wartesaalnutzung, die meist nur noch durch Fernverkehrsreisende erfolgte. Insgesamt verlagerte sich das Warten aus dem Saal zunehmend in die Fläche beziehungsweise direkt an den Bahnsteig, sodass nun auch die Wartepraxis (essen, lesen) – wie auch heute – oftmals in Bewegung stattfand.
Übergreifend bildete das frühe 20. Jahrhundert die entscheidende Zäsur der Rezeption des Wartens auf die Bahn, das aus dem Stand eines bis dahin weitgehend unhinterfragten Phänomens in den Stand eines modernen Kollateralschadens und einer temporalen wie sozialen Dysfunktionalität gehoben wurde. Die Kollektivzuschreibung eines unliebsamen bis krisenhaften Zustands, den das Warten auf die Bahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt, ist bis in die Gegenwart hinein wirksam.
Illusion der absoluten Pünktlichkeit
Das Warten auf die Bahn hat nicht nur eine reiche Vergangenheit, es wird wohl auch eine reiche Zukunft haben – nicht nur, weil die aktuell auf den Weg gebrachten betrieblich-technischen Investitionen erst nach Jahren spürbar und der Fachkräftemangel sowie die durch den Klimawandel zu erwartenden Extremwetterlagen die Bahn zunehmend vor Pünktlichkeitsprobleme stellen werden, sondern auch, weil Verzögerungen stets relationaler Bestandteil moderner Beschleunigungsbestrebungen bleiben. So weist der Soziologe Hartmut Rosa darauf hin, dass Verlangsamung und Hemmung in modernen Gesellschaften "in zunehmend gravierendem Maße und immer häufiger als unbeabsichtigte Nebenfolge von Akzelerationsprozessen"
Die unerschütterliche Relationalität von Beschleunigung und Verzögerung erscheint zunehmend problematisch, weil Wartezeiten heute weit weniger tolerierbar erscheinen als in früheren Zeiten. Infolge des omnipräsenten Zeitdrucks unserer Gesellschaft wird die Pünktlichkeit der Bahn folglich zum zentralen Gradmesser ihrer Attraktivität und damit letztlich auch zu einem Gradmesser des Erreichens der verkehrspolitischen Zielsetzung einer Verdopplung des Bahnverkehrs bis 2030. So steht die Bahn zukünftig unter gewaltigem Druck sowie vor dem Dilemma, ihre Pünktlichkeit deutlich verbessern zu müssen, ihre systemimmanente Störanfälligkeit aber niemals gänzlich abstreifen zu können.
Zwar wird dieses Dilemma – wie schon immer in der Geschichte der Moderne – mit einem Mehr an Technologie zu lösen versucht werden. Vielleicht aber sollten wir uns vielmehr die Illusion der absoluten Pünktlichkeit eingestehen und sie zu anderen spätmodernen Illusionen wie der absoluten Sicherheit gesellen. Dies würde die Möglichkeit eines reformierten, konstruktiven Umgangs mit Wartezeiten eröffnen. Fernab ihrer poetischen Verklärung könnten beziehungsweise sollten wir (wieder) eine größere Toleranz gegenüber Wartezeiten im Bahnwesen entwickeln und ihre Systemimmanenz anerkennen, statt sie kategorisch zu ächten. Hilfreich könnte dabei nicht nur sein, die Beschleunigungsversprechen anderer Verkehrsträger stärker zu hinterfragen, weil Zeitverzögerungen dort gleichermaßen an der Tagesordnung sind. Hilfreich dürfte auch sein, dass uns Informationstechnologien heute wie nie zuvor in die Lage versetzen, Wartezeiten mobil zu nutzen und zu kompensieren.
Fraglos, die Bahn muss attraktiver werden, um im Rahmen der Verkehrswende eine noch gewichtigere Rolle einzunehmen. Zugleich ist fraglich, ob die Bahn der Pünktlichkeitserwartung jemals vollends entsprechen wird oder ob wir nicht im endlosen "Akzelerationszirkel"