Frau Dr. Kill, Sie leiten bei der Deutschen Bahn AG die Abteilung Konzerngeschichte/Historische Sammlung. Diese Abteilung wurde 1996 eingerichtet. Warum nicht schon vorher?
Susanne Kill – Das war ein Ergebnis der Bahnreform. Denn als formale Aktiengesellschaft unterlag die Bahn nicht mehr den Abgabepflichten des Bundesarchivgesetzes. Für die Staatsbahnen der Bundesbahn und Reichsbahn wurden die Akten pflichtgemäß ans Bundesarchiv beziehungsweise an die Landes- und Staatsarchive abgegeben. Nach der Gründung der Deutschen Bahn AG hatte sich der Vorstand dazu entschlossen, ein schlankes Unternehmensarchiv zu etablieren und das Verkehrsmuseum in Nürnberg zu übernehmen, um über die eigene Geschichte auskunftsfähig zu sein.
Welche Aufgaben hat die Abteilung?
– Wir haben hier in Berlin die Aufgabe, Firmendokumente zu sammeln, die die Unternehmensgeschichte der Deutschen Bahn AG seit 1994 von der Spitze her dauerhaft archivieren. Hinzu kommen Altbestände aus den ehemaligen Pressestellen in Ost und West, die den Grundstock einer Bibliothek und einer wertvollen Fotosammlung bilden. Sie werden gepflegt und stehen der historischen Kommunikation der Deutschen Bahn sowie der Forschung zur Verfügung. Darüber hinaus bieten wir dem Unternehmen und der Öffentlichkeit Expertise zur Geschichte der Eisenbahn in Deutschland seit ihren Anfängen.
Was ist daran im Vergleich zum Umgang der Staatsbetriebe Bundesbahn und Reichsbahn mit deren Geschichte neu?
– Es ist die historisch-wissenschaftlich informierte Perspektive und ein sehr starkes Bewusstsein dafür, dass man sich auch mit kritischen Themen der Eisenbahngeschichte auseinanderzusetzen hat. Eisenbahngeschichte ist ja ausgesprochen vielfältig, und sie ist immer eng mit der Geschichte Deutschlands verbunden. Das ist die Aufgabe von Historikerinnen, den Blick daraufhin zu weiten, wie Technikgeschichte, Politikgeschichte und Betriebsgeschichte ineinander verwoben sind.
Hatte es vorher also keine Auseinandersetzung mit dieser "Metaebene" der Vergangenheit gegeben?
– Zu Bundesbahnzeiten lag das Thema Geschichte beim Verkehrsmuseum in Nürnberg, das von der dortigen damaligen Bundesbahn-Direktion verantwortet wurde und ein traditionelles Technikmuseum mit lokalpatriotischem Einschlag war. Dort begann nach öffentlicher Kritik die ernsthafte und selbstreflektierte Auseinandersetzung mit der Geschichte in den 1980er Jahren. Bei der Reichsbahn in der DDR gab es sogenannte Traditionskabinette, in denen die Geschichte der jeweiligen Bahnbetriebe meistens von den politischen Abteilungen mit betreut wurde. Sie stellten eine Art Identitätsbindung der Angestellten und Arbeiter zum eigenen Betrieb und dem großen Selbstverständnis einer antifaschistischen DDR und ihrer sozialistischen Planwirtschaft her.
Wenn sich die DB AG also erstmals systematisch der Vergangenheit auch ihrer Vorgängerorganisation genähert hat: Wie geht man an so eine Mission heran? Wo hat Ihre Abteilung seinerzeit angefangen?
– Sie hat auf zwei Ebenen begonnen. In den 1990er Jahren beauftragte der damalige Vorstand unabhängige Historiker, sich die Geschichte der Eisenbahn in Deutschland gesamthaft anzuschauen, mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte der Reichsbahn im Nationalsozialismus. Das war die historisch-wissenschaftliche Grundlage der Auseinandersetzung mit der Eisenbahngeschichte, die selbst vom Unternehmen initiiert wurde. Zeitgleich übernahm die DB das Nürnberger Museum und konzipierte eine neue Dauerausstellung zur Entwicklung der Eisenbahn in den jeweiligen Epochen. Das heißt, man hat bestimmte, oft in der Literatur wiederholte Mythen kritisch hinterfragt und immer nach dem Zusammenspiel von Politik, Kultur und Wirtschaft gefragt. Dabei fokussierten wir nicht mehr so stark auf Loks und technische Entwicklungen, sondern auch auf die Menschen, die damals für die Eisenbahn gearbeitet hatten beziehungsweise arbeiten mussten.
Welche Mythen waren das?
– Ein heute noch beliebter Mythos ist, dass die Anfänge der Eisenbahn von großen Ängsten begleitet war und Mediziner vor den Geschwindigkeiten warnten – ein Mythos, der im späten 19. Jahrhundert als Fortschrittskritik geboren wurde. Auch die Einordnung der Zeit der Reichsbahngründung in der Weimarer Republik als Zeit des Niedergangs der Eisenbahn haben wir auf den Stand der Forschung gebracht, und schließlich ging es auch um Personen wie den Generaldirektor und Reichsverkehrsminister Julius Dorpmüller. Dessen Ruhm war als international anerkannter Eisenbahnfachmann größer, als seine doch entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der nationalsozialistischen Politik in der NS-Zeit bekannt war. Die Kolleginnen und Kollegen in Nürnberg haben ihn da für ihre Ausstellung im wahrsten Sinne des Wortes vom Sockel geholt.
Während der NS-Zeit transportierte die Reichsbahn Millionen Menschen fahrplanmäßig in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager. Ohne sie wäre der Massenmord an den europäischen Juden, Sinti und Roma logistisch nicht möglich gewesen. In der DDR war die Reichsbahn dann nicht nur Dienstleisterin für Gefangenentransporte, sondern auch Profiteurin des Strafvollzugs, da sie Häftlingszwangsarbeiter beschäftigte. Welche Verantwortung leitet die DB AG aus diesen dunklen Kapiteln der Geschichte ihrer Vorgängerorganisationen ab?
– Das erste ist, dass man im Unternehmen darüber Bescheid wissen muss. Das heißt, wenn es keinerlei fundierte Kenntnis gibt, müssen wissenschaftliche Studien initiiert werden. In den von Ihnen genannten Beispielen haben wir als Unternehmensarchiv keinen privilegierten Zugang zu den Quellen, und im Fall der Häftlingszwangsarbeit der DDR waren Zeitzeugenbefragungen oft die Primärquelle. Das heißt, es muss Forschungsaufträge geben. Das andere ist die gesellschaftspolitische Verantwortung, die sich aus der Geschichte ergibt. Bei der DB gibt es inzwischen eine sehr aktive Erinnerungskultur, die sich unter anderem in der Pflege und Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen zu den Deportationen am Mahnmal der Bahn, dem Gleis 17 am Bahnhof Grunewald, manifestiert oder auch in der internen Weiterbildungsarbeit des Konzerns. Als Unternehmenshistoriker können wir das Wissen zur Verfügung stellen und dazu anregen, Initiativen zu ergreifen beziehungsweise zu unterstützen. Wenn es Unternehmen ernst meinen mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement für eine demokratische Gesellschaft, in der Antisemitismus, Rassismus und Zwangsarbeit keinen Platz haben, dann ist die Kenntnis der eigenen Unternehmensgeschichte ein wichtiges Element dieses Engagements.
Welche Rolle spielt die Geschichte der Vorgängerorganisationen für den Konzern heute intern?
– Wir sind in der glücklichen Situation, dass es sehr viele Beschäftigte gibt, die sehr geschichtsaffin und auf den unterschiedlichsten Gebieten äußerst kenntnisreich sind. Wir können mit unserer Arbeit auf eine breite Unterstützung bauen und sind auch mit den Gewerkschaften in einem guten Austausch, und das nicht nur bei den "schönen Themen". Es gibt Kooperationen für Gedenkstättenfahrten oder auch die Initiative Auszubildende gegen Hass und Gewalt. Nicht zu vernachlässigen sind aber auch genuin wirtschaftshistorische Themen. Investitionsentscheidungen vergangener Zeiten in Infrastruktur und Fahrzeuge haben immer noch Auswirkungen auf das heutige Geschäft.
Welche blinden Flecken würden Sie in der Unternehmensgeschichte beziehungsweise in der Geschichte der Eisenbahn in Deutschland identifizieren? Welche Zeiträume oder Themen, Fragestellungen sind möglicherweise weniger gut erforscht?
– Das hängt sehr mit den überlieferten Quellen zusammen. Die traditionelle Behördenüberlieferung in den öffentlichen Archiven erzählt uns relativ wenig über das operative Geschäft oder das Berufsleben von Eisenbahnern. So hatten wir unlängst wieder Anfragen zur Rolle von Gastarbeitern bei der Bundesbahn. Oder auch Fragen zum operativen Geschäft im Güterverkehr, also Antworten auf Fragen der Verkehrsgeschichte lassen sich nur sehr mühsam rekonstruieren.
Geschweige denn Rückschlüsse auf Lebenswirklichkeiten ziehen.
– Genau, das wird man sich eher über Fotos und Objekte erschließen können. Wir können in unserem DB Museum auf einen schönen Bestand zurückgreifen. Der kann aber nicht den Anspruch haben, alles abzudecken, weil es das Wesen der Eisenbahngeschichte ist, fast überall präsent zu sein. Also steht man auch immer in Korrespondenz mit privaten Sammlern, aber eben auch öffentlichen Archiven, um ein Thema entsprechend aufzubereiten, sei es für eine Ausstellung oder für eine Publikation.
Die Deutsche Bahn wirbt heute unter anderem mit dem Spruch "Mit uns schützen Sie die Umwelt" fürs Bahnfahren. Gibt es in der Unternehmensgeschichte eine Tradition bei der Berufung auf Umweltfreundlichkeit als Verkehrsmittel oder zumindest historische Anknüpfungspunkte?
– Wenn man ehrlich ist, beginnt das in den 1980er Jahren. Die Bahn reagiert immer auch auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen. Zum Beispiel gibt es ein sehr berühmtes Plakat, das heißt "Unsere Loks gewöhnen sich das Rauchen ab", das stammt aus dem Jahr 1968. Da war der Umweltgedanke noch nicht so verbreitet, sondern es ging um mehr Effizienz durch die Elektrifizierung. Es war ökonomischer, nicht mehr diese wahnsinnigen Kohlevorräte und ausufernde Infrastruktur vorhalten zu müssen, die ein Dampfbetrieb bedeutete. Die Umweltfreundlichkeit der Bahn ist gegenüber dem Individualverkehr das große Plus. Das war den damals Verantwortlichen bei der Bahn allerdings schon klar.
Das Interview führte Anne-Sophie Friedel per Telefon am 28. Januar 2022.