"Nirgends ist mehr Recht in Deutschland! Nirgends", klagte der Breslauer Lehrer Willy Cohn, nur drei Wochen nachdem Hitler Kanzler geworden war.
"Ich möchte zur Hitlerjugend oder 'Luise' werden", verkündete die junge Gisela Solmitz. "Keinem Verein gehöre ich an, ich möchte doch auch so gern! Alle sind drin." Gisela konnte den Umstand, dass die Nazis sie als Jüdin betrachteten, nicht akzeptieren. Bis vor Kurzem wusste sie nicht, dass ihr Vater vom Judentum konvertiert war. Ihre Mutter musste wiederholt sagen: "Es geht nicht, es geht wirklich nicht."
"Wenn wir von den Andersgläubigen boykottiert werden, dann müssen wir Juden doch zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen", insistierte die Stenotypistin Enni Hilzenrad. "Der Rabbinerverband bittet die deutschen Juden dem deutschen Vaterland Treue zu bewahren. Sieht er denn nicht, was vorgeht. Sollen wir ins Ghetto zurück? Unsagbares Elend winkt uns."
"Was und wieviel bindet Dich hier?", fragte sich der 25-jährige Jude Rudolf Otto Heinsheimer in einem Brief an seine Frau, nachdem er eine Rede von Hitler gehört hatte, die er für inspirierend hielt. "Was und wieviel erwartet Dich hier? Gibt es für einen Juden (…) wirklich keine Möglichkeit, da, an dieser Sache mitzuarbeiten?"
Vielfalt und Zerrissenheit
Bereits diese wenigen Selbstzeugnisse deutscher Jüdinnen und Juden zeigen: Selbst in Anbetracht von Hitlers antisemitischer Hetze sollte man nicht erwarten, dass 1933 alle deutschen Juden die gleiche Sichtweise vertraten.
Die Nationalsozialisten stellten "den Juden" als einheitliche Sache dar, durchweg böse und auf verschwörerische Weise mit seinesgleichen verbunden. Tatsächlich aber war die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sehr divers: Es gab akkulturierte Juden, orthodoxe Juden, Zionisten, Juden in Mischehen, konvertierte Juden und viele andere mehr. Ein Fünftel waren neue Einwanderer aus Osteuropa, die sogenannten Ostjuden. 60 bis 70.000 Jüdinnen und Juden waren im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) organisiert, einem 1893 gegründeten Interessenverband, der gegen Antisemitismus ankämpfte, aber stark patriotisch eingestellt war. Die ein Jahr später gegründete Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD), die etwa 20.000 Mitglieder hatte, strebte wiederum danach, eine jüdische Heimat in Palästina zu erschaffen, allerdings nicht mit dem Ziel, jüdisches Leben in Deutschland ganz und gar aufzugeben. Die jüdische Veteranenorganisation Reichsbund jüdischer Frontkämpfer (RjF) hatte die größte Breitenwirkung auf der rechten Seite des jüdischen Spektrums. Die Vielfalt wurde von manchen indes als Makel empfunden: "Die deutschen Juden sind politisch unorganisiert, atomisiert und im wahrsten Sinne führerlos", beklagte ein Leitartikler in der "Jüdischen Rundschau" wenige Tage nach Hitlers Machtantritt.
Während viele Juden zutiefst besorgt waren über das, was geschah, hofften manche, dass sie die Nazis von ihrer patriotischen Gesinnung überzeugen könnten. Nicht wenige junge Menschen fühlten sich von der Energie der Bewegung angezogen und wollten als stolze Deutsche Teil davon sein. Rudolf Otto Heinsheimers oben zitierte Überlegungen sind hierfür ein typisches Beispiel. Andere, die nicht glaubten, dass sich der Antisemitismus der Nazis überwinden ließe, erkannten dennoch den Reiz der Bewegung und waren verblüfft, dass die Partei eine derartig unnötig erscheinende Haltung gegenüber den Juden eingenommen hatte.
Die Hoffnung auf eine mögliche Integration währte vor allem bei einem kleinen Rand mit konservativeren und nationalistischeren Einstellungen länger, etwa in den Reihen des Verbandes nationaldeutscher Juden oder im Verein Der Deutsche Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden, der im Februar 1933 gegründet worden war. Indem sie ihren eigenen militanten Nationalismus zur Schau stellten, hofften sie, das Regime davon überzeugen zu können, dass sie Geistesverwandte waren. Eine Zeitlang war dies auch das Bestreben des RjF, insbesondere nachdem dieser im April 1933 erfolgreich auf den Präsidenten Paul von Hindenburg eingewirkt hatte, die Folgen der Entlassungen im Verwaltungs-, Justiz- und Gesundheitswesen einzudämmen. Der RjF versuchte, sich selbst an die Spitze eines geplanten autoritäreren "Führerrats" jüdischer Organisationen zu setzen. Eine energische Intervention des einflussreichen Rabbiners Ignaz Maybaum, seinerseits Mitglied des RjF, stoppte die Initiative jedoch.
Rudolf Otto Heinsheimers Geschichte bietet indes auch ein Beispiel dafür, wie rasch sich Wahrnehmungen und in der Folge Lebenswege ändern konnten. Bereits wenige Wochen nachdem er die zitierten Gedanken niedergeschrieben hatte, war er im Begriff, nach Palästina aufzubrechen. Seine Kommentare sind zudem dahingehend aufschlussreich, wie sich die zeitgenössische Erfahrung von späteren Darstellungen unterscheidet. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 wurde Heinsheimer unter dem Namen Uri Yadin zu einer wichtigen Figur im israelischen Justizwesen. Seine Tochter Shulamit Volkov, eine renommierte Historikerin, sah ihn lange als die Personifizierung der "perfekten zionistischen Geschichte": ein junger Mann, der den Antisemitismus Europas hinter sich lassen wollte zugunsten der erlösenden Aussicht einer neuen jüdischen Gesellschaft. Heinsheimers Gewissenskampf im Mai 1933 und sein junges deutsch-jüdisches Selbst waren ihr unbekannt gewesen. Erst nach dem Tod ihres Vaters 1985 entdeckte Volkov diese verborgene frühe Stimme.
Mit unserem Wissen darüber, wie die Dinge in Nazi-Deutschland endeten, ist es schwer, diese Ungewissheit nachzuempfinden: die wöchentlichen oder gar täglichen Schwankungen dieser frühen Wochen und Monate unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Deshalb sind zeitgeschichtliche Dokumente wie die Briefe Heinsheimers so wertvoll; sie sind Zeugnisse von Spekulationen, die bald völlig irrelevant erschienen. Die Entscheidung, zu gehen, war fundamental. Sobald man Nazi-Deutschland verlassen hatte, war der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem man handelte, der eine Projektionsfläche bot und über den man sich definierte, ein anderer. Dies schuf eine Distanz zum früheren Selbst und verlieh der schlichten Tatsache, dass man gegangen war – und andere wiederum nicht – eine psychologische Klarheit und moralische Bedeutung, die der zuvorigen Zerrissenheit zwischen "Gehen" oder "Bleiben" nicht entsprach. Unter den neuen Bedingungen führte dies zur Anpassung von Selbstnarrativen, etwa zu einem makellosen zionistischen Lebenslauf, der ein kurzes Liebäugeln mit Hitler überdeckte.
Vorsicht und Ungewissheit
Die Entdeckung des Centralverein-Archivs in den 1990er Jahren hat offengelegt, wie hart der CV vor 1933 daran gearbeitet hatte, die Nationalsozialisten zu bekämpfen und vor der Bedrohung, die sie darstellten, zu warnen. Nach 1933 übermittelte der CV Informationen ins Ausland, nicht zuletzt durch sein Mitglied Alfred Wiener, der nun das Jewish Central Information Office in Amsterdam leitete. Doch obwohl sie gut informiert waren über die Gefahr der Nazis, konnten weder der CV noch andere jüdische Beobachter vorhersagen, was Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bedeuten würde. Würde die neue Koalition beständiger sein als ihre Vorgängerinnen? "Auch sie werden mit der Wirtschaftskrisis [sic!] nicht fertig werden", prophezeite Willy Cohn, ein stolzer Veteran, Sozialdemokrat und Zionist, am 31. Januar, "und dann kommt der große Umschlag nach links!"
Die öffentliche Kommunikation von führenden jüdischen Repräsentanten im Februar 1933 sollte vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Am 2. Februar 1933 verkündete der CV, man erwarte, "dass die verfassungsmäßigen Rechte der deutschen Juden nicht angetastet werden" und die deutschen Juden nicht die "Ruhe" verlieren würden, "die ihnen das Bewusstsein untrennbarer Verbundenheit mit allem wirklichen Deutschen gibt".
Manche dürften solche Töne beruhigt haben. Andere waren von ihnen frustriert. Als Reaktion auf spätere, ähnlich besänftigende Stellungnahmen verurteilte das CV-Mitglied Käthe Hammerstein die "widerwärtige" und "ekelhafte" Anbiederung.
Für den CV gab es zweierlei Unsicherheit: Zum einen war nicht abzusehen, wie weit die Nationalsozialisten mit Gewalt, wirtschaftlichen Maßnahmen und Einschränkungen der Bürgerrechte noch gehen würden; zum anderen stellte sich die fundamentale Frage der Identität – würde es in Zukunft Platz geben für jene "untrennbare Verbundenheit" zwischen Juden und Deutschen, die der CV so schätzte? Im Gegensatz dazu fühlten sich viele deutsche Zionisten in ihrer Kritik an der Assimilation bestätigt. Nur sie, behaupteten sie, hätten die "naturgegebene Distanz zwischen Juden und Nichtjuden" richtig eingeschätzt. Es sei "lächerlich", sich gegen die Rhetorik der Nazis "durch Berufung auf jüdische Leistungen verteidigen zu wollen". Die Zionisten sahen sich nun selbst in einer Führungsrolle: Die deutschen Juden könnten stark sein, wenn sie den Schaden abschütteln würden, den die Assimilation mit sich gebracht hatte, wenn sie sich befreien würden von ihrer "Atomisierung und Selbstverlorenheit" und sich versammeln würden "um dieses jüdische Banner".
Gewalt und Boykott
Was aus unserer heutigen Perspektive, wo die Demokratie fragiler wirkt, als man es vor einem Jahrzehnt für möglich gehalten hätte, im Hinblick auf die Wochen nach dem 30. Januar 1933 besonders auffällt, ist das Ausmaß an Gewalt und die Geschwindigkeit, mit der grundlegende Rechtsgüter außer Kraft gesetzt wurden. Weniger als eine Woche nach der "Machtergreifung" hielt Willy Cohn die "furchtbare Nachricht" fest, dass ein ehemaliger Student nach einem Reichsbanner-Aufmarsch von der SA ermordet worden war.
Nach den Wahlen am 5. März gab es für die jüdischen Beobachter noch mehr Anlass zur Sorge. "Was ich bis zum Wahlsonntag (…) Terror nannte", schrieb Klemperer am 10. März, "war mildes Prélude".
Sogar jene, die relative Sicherheit genossen, waren zutiefst verunsichert von den Vorfällen anderswo. Erleichtert darüber, dass Hamburg das Schlimmste erspart blieb, registrierte der Hamburger Anwalt Kurt Rosenberg trotzdem die Gewalt im fränkischen Rothenburg, wo alle jüdischen Männer brutal zusammengeschlagen worden waren, wie auch in Coburg, wo im Laufe der Monate März und April 150 Menschen, darunter 39 Juden, wochenlang in Kellern gefangen gehalten und brutal misshandelt wurden, sowie die bösen Attacken in Gelsenkirchen und weitere mehr.
Infolge der Machtergreifung organisierten Nazi-Gruppen lokale Boykotte jüdischer Geschäfte. In der zweiten Märzhälfte vergrößerte sich der Druck für eine Aktion auf nationaler Ebene. Zunehmende Proteste im Ausland gegen die Behandlung der Juden in Deutschland lieferten den Nationalsozialisten eine Ausrede, sich über die "Gräuelpropaganda" zu beschweren und mit Vergeltungsmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte zu drohen, sollten solche Kampagnen kein Ende nehmen. Wieder einmal steckten die jüdischen Organisationen in der Klemme. Sie konnten es nur begrüßen, wenn internationaler Protest die Aufmerksamkeit auf das Verhalten der Nazis lenkte. Gelänge es ihnen aber, die Beschwerden einzudämmen, würden sie den Mythos nähren, dass sie die internationalen Reaktionen erst angefacht hätten. Zudem war ihnen bewusst, dass das Thema "ausländische Propaganda" bereits seit dem Ersten Weltkrieg, als die Darstellung der Deutschen als barbarische "Hunnen" allseits verurteilt worden war, breite Resonanz in der deutschen Öffentlichkeit fand. Sie wollten dem Regime keinerlei Gelegenheit bieten, Juden als anti-deutsch darzustellen. Der CV und die Zionisten kommunizierten daher äußerst vorsichtig; neben der öffentlichen Ablehnung der "Übertreibungen" im Ausland und Telegrammen an amerikanisch-jüdische Organisationen, in denen um Zurückhaltung gebeten wurde, gab es verdeckte Korrespondenz mit denselben Organisationen, in denen man der eigenen öffentlichen Kommunikation weitestgehend widersprach, sowie maßvolle öffentliche Kritik an den antisemitischen Aktionen. Diese Schritte mögen logisch und strategisch gewesen sein – sie verhinderten jedoch weder den Boykott, noch legten sie gewöhnlichen Mitgliedern offen, was ihre führenden Repräsentanten wirklich dachten.
Auch wenn er nur einen Tag andauerte, war der nationale Boykott am 1. April 1933 ein Schock für die deutschen Juden. Er ließ sich nicht mehr einfach abtun als lokale Aktion skrupelloser Hitzköpfe, die von einer verantwortungsvollen Parteiführung noch nicht auf Linie gebracht worden waren. Doch die Erfahrung war ambivalent. Wie Marta Appel, die Ehefrau des Dortmunder Rabbiners, notierte, nachdem sie am 1. April durch das Stadtzentrum gegangen war, fiel die Reaktion der Masse oft verhalten oder negativ aus.
Unterdessen kamen wirtschaftliche Sorgen zu denen um die persönliche Sicherheit hinzu. Das am 7. April erlassene "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" sowie nachfolgende Maßnahmen in juristischen und medizinischen Bereichen sorgten in Verbindung mit lokalen Boykottaktionen und den Entlassungen jüdischer Arbeitnehmer für echte wirtschaftliche Not. Die Hälfte aller jüdischen Richter und Staatsanwälte verlor ihre Arbeit. Viele jüdische Ärzte verloren ihre Kassenzulassung. Bereits im Frühjahr 1933 war ein Drittel der jüdischen Angestellten arbeitslos, in Berlin die Hälfte der jüdischen Arbeiter.
Fluchtversuche
"Man hört von jüd. Selbstmorden (…) und man fühlt das Schwert im eigenen Nacken", hielt Rosenberg Anfang April fest.
In Anbetracht dieser Bedingungen ist es bemerkenswert, dass rund sieben Prozent der deutschen Juden, etwa 37.000 Menschen, Deutschland im ersten Jahr der NS-Herrschaft verließen. Deutlich mehr, womöglich doppelt so viele, ersuchten bei jüdischen Agenturen Rat zu einer möglichen Emigration. Von denen, die aufbrachen, flohen drei Viertel in kontinentaleuropäische Länder und das Vereinigte Königreich, über die Hälfte allein nach Frankreich. Diese Zahlen sind Schätzungen, da viele die Grenzen Deutschlands illegal überquerten.
Das Leben in Palästina war zweifellos hart, aber zumindest hatten diejenigen, die dort aufgenommen wurden, das Recht zu bleiben und zu arbeiten. Andernorts fanden sich viele Geflohene in solch einer wirtschaftlichen Misere wieder, dass Tausende bald zurückkehrten. Die deutschen Juden erfuhren rasch von der ernsten Notlage derer, die ins Ausland gegangen waren. Die deutsch-jüdischen Wohlfahrtsverbände, darunter sogar zionistische, baten potenzielle Auswanderer dringend darum, erst aufzubrechen, sobald sie ihren Lebensunterhalt gesichert hatten. Die Zahl der Menschen, die in europäische Länder auswanderte, sank in den folgenden Jahren rapide.
Geblendet und getäuscht?
Jahrzehnte nach dem Krieg war es eine verbreitete Ansicht unter deutsch-jüdischen Emigranten, dass die in Deutschland Zurückgebliebenen von der Tragödie erfasst worden waren, weil sie die Gefahr nicht ernst genug genommen hatten; weil sie es nicht für möglich gehalten hatten, dass ihnen etwas passieren könne; weil sie zu stark an ihr Vaterland gebunden waren, an ihr Geld und Mobiliar; weil sie zu geblendet und getäuscht waren, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Der Historikerin Deborah Lipstadt zufolge sei in den USA unter Juden, die nach dem Holocaust geboren sind, häufig eine Variation des folgenden Satzes zu hören: "Wie konnten sie nicht begreifen, was die Nazis mit ihnen vorhatten?" Aus der sicheren Position der Nachgeborenen "verweisen Post-Holocaust-Juden auf das, was sie für die Gleichgültigkeit und den Selbstbetrug der Juden in Nazi-Deutschland halten, um zu erklären, warum sie – eines Besseren belehrt – die Stimme beim geringsten Anzeichen von Antisemitismus erheben, sei er real oder eingebildet".
Schon die kurze Darstellung jüdischer Reaktionen zu Beginn dieses Artikels legt nahe, dass das verbreitete Urteil über die deutschen Juden in Nazi-Deutschland viel zu vereinfacht ist. In ihm werden die Konsternation und die Schwankungen der jüdischen Wahrnehmungen und Erfahrungen nicht erfasst. Es missversteht zudem die patriotischen Äußerungen jüdischer Organisationen, hinter denen weitaus komplexere und realistischere Kalkulationen standen, als es zunächst erscheint. Es missversteht auch den Umstand, dass die Emigration das Niveau von 1933 erst wieder 1938 erreichte und überholte – was in Wirklichkeit ein Zeichen dafür ist, dass die massive Auswanderung des Jahres 1933 vielen, die aufgebrochen waren, keine Erleichterung brachte. Außerdem ist es letztlich ein Pauschalurteil über zahlreiche Einzelpersonen, deren Wahrnehmungen und Kalkulationen sich fortwährend veränderten. Niemand hätte 1933 Auschwitz vorhersagen können, nicht einmal 1939.
Sicher, jüdische Organisationen und Individuen versuchten sich an die neuen Umstände anzupassen und einen Weg zu finden, ihr Leben weiterzuführen. Um den Bedürfnissen des jüdischen Gemeinwohls gerecht zu werden, schufen jüdische Körperschaften im April 1933 den Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau (ZAHA). Im September einigten sich die wichtigsten jüdischen Organisationen dann darauf, ein neues gemeinsames Führungsinstrument zu schaffen, die Reichsvertretung der deutschen Juden, obwohl CV, RjF und ZVfD weiterhin eine wichtige Rolle spielten. Der CV hoffte seinerseits noch eine Zeitlang, dass in Deutschland irgendeine Form von jüdischem Leben möglich sein würde, und drängte seine Mitglieder dazu, ihre Posten nicht aufzugeben, ehe sie dazu gezwungen wären. Aber schon 1935 verkündete der ZAHA, dass die allermeisten jungen Juden ihr Glück im Ausland suchen müssten; bis 1939 sank die Zahl der Jüdinnen und Juden unter 40 Jahren in Deutschland im Vergleich zu 1933 um 80 Prozent.
Auch hier wird deutlich, wie irreführend eine Rückschau sein kann. Die Entscheidung, aufzubrechen, veränderte nicht nur das Verständnis von einem selbst, sondern auch die eigene Wahrnehmung jener, die zurückgelassen wurden. Selbstverständlich hatten viele deutsche Juden an die Kultur geglaubt, die einen großen Teil ihrer Identität ausmachte, und sich gegen die Erkenntnis gesträubt, dass wirklich alles verloren war. All dies war keine Erfindung der Nachkriegserinnerung. Aber die zeitgenössischen Dokumente und Zeugnisse zeigen uns, wie tief und dauerhaft die jüdische Gemeinschaft wieder und wieder von den fortlaufenden Erschütterungen des Jahres 1933 getroffen wurde.
Übersetzung aus dem Englischen: Maximilian Murmann, München