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Ausnahmerecht, Gewalt und Selbstgleichschaltung | Deutschland 1933 | bpb.de

Deutschland 1933 Editorial Die Krise der Welt - 1933 und 2023 1923 als Schlüsseljahr für 1933? Ausnahmerecht, Gewalt und Selbstgleichschaltung. Die "Machtergreifung" der NSDAP 1933 "Alles erstirbt in Angst". Deutsche Juden im ersten Jahr der NS-Herrschaft 1933 in globalgeschichtlicher Perspektive Der Aufschwung der Anderen. Weimars ökonomische Krisenherde und der Aufstieg des Nationalsozialismus Medien und Propaganda 1933

Ausnahmerecht, Gewalt und Selbstgleichschaltung Die "Machtergreifung" der NSDAP 1933

Nadine Rossol Benjamin Ziemann

/ 16 Minuten zu lesen

Sobald die Nationalsozialisten staatliche Schaltstellen innehatten, nutzten sie diese zur Machtsicherung und zum Umbau des Staates. Massive Gewaltanwendung unterstützte dieses Ziel ebenso wie die weitgehende gesellschaftliche Selbstgleichschaltung.

Am 30. Januar 1933 marschierten 15.000 SA-Männer durch das Brandenburger Tor und bejubelten Adolf Hitler, der gegen Mittag zum Reichskanzler ernannt worden war. Gleichzeitig protestierten Kommunisten, Sozialdemokraten und Republikaner. In der Rückschau wird dieser Moment oft als Beginn des "Dritten Reiches" interpretiert. Zeitgenossen hatten einen anderen Eindruck. Wie lange die Nationalsozialisten an der Macht bleiben würden, war Anfang 1933 noch völlig offen. Intrigen und Taschenspielertricks eines kleinen Kreises rechtskonservativer Männer, die den eigenen Einfluss über- und die NS-Bewegung unterschätzten, hatten Hitler in den Sattel
gehoben.

Sobald die Nationalsozialisten staatliche Schaltstellen innehatten, nutzten sie diese zur Machtsicherung und zum Umbau des Staates. Gewalt staatlicher und nicht-staatlicher Akteure unterstützte dieses Ziel. Bis zum Jahresende 1933 nahmen die Nationalsozialisten wohl mehr als 80.000 Personen in Haft. 500 Menschen, vielleicht doppelt so viele, wurden umgebracht oder starben an ihren Misshandlungen. Der Jurist Ernst Fraenkel bezeichnete das für das "Dritte Reich" typische Nebeneinander von Normenstaat (Gesetze) und Maßnahmenstaat (Willkür, Gewalt) später als "Doppelstaat". Außerdem konnten die Deutschen an der propagierten nationalsozialistischen "Volkgemeinschaft" teilhaben. Formen der Selbstermächtigung verankerten das NS-Regime in der Gesellschaft. Die Nationalsozialisten folgten dabei keiner Blaupause. Mit einer Mischung aus Normenverachtung, Geschwindigkeit und Radikalität nutzten sie Möglichkeiten, die sich ihnen boten oder die sie selbst schufen.

Rechtlicher Umbau des Staates

Am 30. Januar 1933 notierten Willy Cohn, jüdischer Lehrer und Sozialdemokrat aus Breslau, und Matthias Joseph Mehs, katholischer Gastwirt aus der Eifel, die gleiche Befürchtung: Sie erwarteten einen Bürgerkrieg, danach eine kommunistische Revolution. Damit lagen beide falsch. Der deutsche Staat veränderte sich tatsächlich, aber es waren die Nationalsozialisten, die dafür sorgten.

Am 1. Februar löste Reichspräsident Paul von Hindenburg den Reichstag auf und setzte für den 5. März Neuwahlen an, die Hitler gefordert hatte. Dieser erwartete eine durch das Volk legitimierte Mehrheit für die NSDAP. Bisher handelten alle Beteiligten formal noch im Rahmen der durch die Praxis des Notverordnungsrechts seit 1930 bereits stark ausgehöhlten Verfassung. Das änderte sich, als der Reichstag am 27. Februar in Flammen stand. Die Regierung nutzte die Gunst der Stunde: Sie beschuldigte die Kommunisten und verhängte mit der "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat", der sogenannten Reichstagsbrandverordnung, den Ausnahmezustand. Damit waren wesentliche Grundrechte, darunter die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Post- und Telefongeheimnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht und die Gewährleistung des Eigentums, außer Kraft gesetzt. Dies war kein zeitlich begrenzter Ausnahmezustand, wie er zuvor zum Schutz der Republik verhängt worden war. Die Nationalsozialisten wollten keine Rückkehr zur Verfassung; sie wollten den Rechtsstaat abbauen. Die Reichstagsbrandverordnung, so Fraenkel, war "die Verfassungsurkunde des Dritten Reichs". Sie räumte der Reichsregierung weitreichende Befugnisse ein, unter anderem durch den Eingriff in Länderkompetenzen. Die der Reichstagsbrandverordnung folgende Gewaltwelle steigerte die Angriffe, denen sich die Opposition seit Anfang Februar 1933 ausgesetzt sah, erheblich.

Trotz allem war in Deutschland Wahlkampf. Bei den Reichstagswahlen am 5. März wählten 41,8 Prozent der Deutschen die SPD, das Zentrum und die KPD. Die von Hitler sicher geglaubte Mehrheit erreichte die NSDAP (43,9 Prozent) nur mithilfe der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Hitler hielt sich nicht lange mit dem Wahlergebnis auf. Er erklärte seinem Kabinett, es sei nun ein Ermächtigungsgesetz nötig. Direkt nach den Reichstagswahlen begann eine weitere brutale Verfolgungswelle. Die Gewaltaktionen hatten direkte politische Konsequenzen, sie erzwangen die Gleichschaltung der Länder und Kommunen. Hier verband sich Druck von oben mit Gewalt von unten: Reichsinnenminister Wilhelm Frick, ein Nationalsozialist erster Stunde, schikanierte sozialdemokratische und bürgerliche Landesregierungen. Währenddessen besetzten lokale SA- und SS-Truppen Rathäuser, nahmen Justizbeamte fest und zwangen Bürgermeister zum Rücktritt. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler beschrieb dies als "eine Entmachtungsstrategie mit zahlreichen situationsbedingten Improvisationen".

Am 23. März verabschiedete der Reichstag mit 444 von 538 Stimmen das Ermächtigungsgesetz ("Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich"). Die SPD lehnte geschlossen mit 94 Stimmen ab. Die KPD-Abgeordneten waren zu diesem Zeitpunkt verhaftet oder untergetaucht und fehlten bei der Abstimmung. Die katholischen Parteien Zentrum und Bayerische Volkspartei stimmten aus Angst und geködert von Hitlers Versprechungen für das Gesetz, ebenso die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) und die Deutsche Staatspartei. Die NSDAP und die Deutschnationalen votierten vorbehaltlos für die gesetzliche Vorlage. Mit der Verabschiedung des Gesetzes war die Gewaltenteilung aufgehoben, die Reichsregierung konnte jetzt ohne Zustimmung des Reichstages regieren. Das Parlament hatte sich selbst ausgeschaltet. Die mutige Ablehnung durch die SPD war eine Tat für die Geschichtsbücher. Die Sozialdemokraten wussten, dass sie das Gesetz nicht verhindern konnten, doch "[d]as Nein zum Ermächtigungsgesetz rettete die Ehre nicht nur der Sozialdemokratie, sondern der deutschen Demokratie überhaupt".

Zwei Wochen später, am 7. April 1933, erließ die Reichsregierung das erste antisemitische Gesetz – bis 1945 sollten 1.400 weitere antijüdische Vorschriften folgen. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" verlangte die Entlassung sogenannter "Nicht-Arier" aus dem öffentlichen Dienst und erlaubte die Zwangspensionierung "politisch unzuverlässiger Beamter". Ein am gleichen Tag erlassenes Rechtsanwaltsgesetz ermöglichte es zudem, jüdischen Rechtsanwälten die Zulassung zu entziehen.

Im Sommer 1933 endete der Parteienpluralismus in Deutschland. Kommunisten, die der NS-Verfolgung hatten entkommen können, waren im Untergrund oder im Ausland, ebenso einige Sozialdemokraten. Am 22. Juni untersagte Reichsinnenminister Wilhelm Frick der SPD die weitere politische Betätigung. Alle anderen Parteien lösten sich zwischen dem 27. Juni und 5. Juli auf. Symbolträchtig verboten die Nationalsozialisten am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille, die Neugründung politischer Parteien und erlaubten nur die NSDAP als einzige Partei im Führerstaat. Die "nationalsozialistische Revolution" war damit abgeschlossen.

Gewalt "von oben" und "von unten"

Gewalt ermöglichte den Nationalsozialisten die Machtsicherung. Damit schalteten sie die Opposition aus, schüchterten die Bevölkerung ein und forcierten den administrativen Druck hin zu radikalen Lösungen. Nach der Machtübernahme Ende Januar 1933 erweiterten die Nationalsozialisten den Kreis der Gewaltakteure, deren Befugnisse sowie die Orte, an denen Gewalt ausgeübt wurde. Am 17. Februar wies der preußische Innenminister Hermann Göring die preußische Polizei an, gegen "staatsfeindliche Organisationen" vorzugehen und "wenn nötig, rücksichtlos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen". Dieser Schießbefehl richtete sich gegen die linke Opposition und verpflichtete die staatliche Exekutive zur einseitigen Bekämpfung einer politischen Gruppe. Fünf Tage später wurden 50.000 Mitglieder der SA, SS und des rechtsradikalen Stahlhelms als preußische Hilfspolizisten eingesetzt. Gleiches geschah in Bayern, Sachsen und anderen Ländern. Gewaltbereite SA-Männer marschierten zusammen mit der Polizei oder allein, staatlich legitimiert und bewaffnet, durch die Straßen und rächten sich an Kommunisten, Sozialdemokraten, Reichsbannerleuten und Juden.

Besonders hemmungslos gingen die SA-Schläger gegen Kommunisten vor. Rudolf Diels, der Chef der politischen Polizei in Berlin, bekannte Anfang März, dass die Polizei keinen Zugriff mehr auf die Orte hatte, wo die SA politische Gegner festhielt und folterte. Kellergeschosse, SA-Stammlokale, Kasernen, Privatgefängnisse, "wilde Lager" und Hinterhöfe wurden zu Haft- und Folterstätten. Die Nutzung einzelner Unterkünfte erfolgte oft nur kurzfristig, aber meist außerhalb staatlicher Aufsicht. Die SA vertuschte ihre Taten keineswegs. SA-Terror wurde "zu einem unübersehbaren und manchmal auch unüberhörbaren Element der NS-Herrschaft."

Im März 1933 entstanden die ersten offiziellen Konzentrationslager, unter anderem in Dachau, um überfüllte Gefängnisse zu entlasten. Diese KZs gab es im ganzen Land, sie standen unter Führung der SS, SA oder der entsprechenden Landesregierung. Hier wurden nicht nur Kommunisten, sondern auch andere NS-Gegner interniert und misshandelt. Anders als die späteren Vernichtungslager befanden sich die frühen KZs direkt vor den Haustüren der Deutschen. Die Presse berichtete zur Abschreckung darüber und wollte dabei auch zeigen, wie effektiv gegen vermeintliche Feinde vorgegangen wurde. Inhaftierung, kurzfristige Entlassung und erneute Inhaftierung gehörten zu den willkürlichen Methoden, mit denen die NSDAP ihre Gegner und deren Umfeld zermürbte.

Die Arbeiterbewegung zahlte in der Frühphase des NS-Regimes den höchsten Preis. Verhaftungen, Razzien und das brutale Vorgehen der SA zerschlugen kommunistische Netzwerke in kurzer Zeit. Von Ende Februar bis April 1933 wurden in Berlin 1.500 Kommunisten eingesperrt, in Leipzig kamen 476 Personen in "Schutzhaft", im Rheinland und im Ruhrgebiet verhafteten Polizei und SA 8.000 kommunistische Parteifunktionäre, in Bayern 3.000, im Bezirk Halle 1.400 und in Baden 900. Die Nationalsozialisten waren sich der demoralisierenden Wirkung ihrer Verfolgungspolitik bewusst. Dass sogar die auf Illegalität vorbereitete KPD ihre Mitglieder nicht mehr schützen konnte, löste in der Arbeiterbewegung Entsetzen aus. Symbolpolitisch bedeutsame Aktionen wie die NS-Besetzung der KPD-Parteizentrale in Berlin am 23. Februar 1933 taten ihr Übriges.

Auch die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften blieben von der Gewalt der SA nicht verschont. Überfälle auf Gewerkschaftsführer häuften sich. Selbst die Versuche des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, sich von der SPD abzugrenzen, um näher an das NS-Regime zu rücken, blieben erfolglos. Die Nationalsozialisten führten die Gewerkschaften gnadenlos vor. Zuerst wurde der 1. Mai aufwendig als gemeinsamer "Tag der nationalen Arbeit" gefeiert. Dieses gekonnt inszenierte Schauspiel, das die alte Forderung der Arbeiterbewegung nach dem 1. Mai als einem Feiertag erfüllte, sollte demonstrieren, dass die Arbeiterschaft in das NS-Regime integriert war. Am 2. Mai zerschlugen SA und SS die Gewerkschaften, verhafteten und misshandelten ihre Funktionäre und besetzten Gewerkschaftshäuser und Redaktionen von Gewerkschaftszeitungen. Am 6. Mai kündigten die Nationalsozialisten die Gründung der Deutschen Arbeitsfront an, einer korporativen Zwangsorganisation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Ein Beispiel für eine lokale Gewalteskalation, die für die NS-Führung problematisch wurde, ist die "Köpenicker Blutwoche" Ende Juni 1933 in Berlin. Der Sozialdemokrat Anton Schmaus erschoss in Notwehr drei SA-Männer, worauf SA-Truppen aus Köpenick und Charlottenburg mit einem Rachefeldzug antworteten. Bis zu 500 Personen wurden verschleppt, durch Wohngebiete gejagt, misshandelt und gefoltert. Mindestens 23 Menschen starben. Die Obduktionsberichte zeugen von Gewaltexzessen. Opfer und Täter kannten sich in vielen Fällen. Die "Blutwoche" versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken, schädigte das Image von SA und NSDAP und steigerte den Druck auf die Parteiführung, das Problem der unkontrollierten Gewalt zu lösen.

Die Gewalt hatte, abhängig von ihrem Ziel, unterschiedliche Funktionen. Antisemitische Gewalt war zur nationalsozialistischen Machtsicherung nicht notwendig, sondern sollte Juden demütigen, verletzen und verunglimpfen, und das in aller Öffentlichkeit. Die kontinuierlichen Gewaltaktionen gegen Juden auf lokaler Ebene bestätigten dies. Im hessischen Gersfeld rief der lokale NSDAP-Führer dazu auf, die jüdischen Einwohner aus ihren Häusern zu holen. In Königsberg wurde ein Brandanschlag auf die Alte Synagoge verübt. Schutz vonseiten der Polizei gab es für Juden ebenso wenig wie für andere Opfer des NS-Terrors.

Schon im März begannen im Ruhrgebiet Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte, die sich rasch ausbreiteten. Um den Druck von unten in eine nationale Aktion zu kanalisieren, entschied sich die NS-Führung zu einem Boykottaufruf am 1. April gegen jüdische Geschäfte und Warenhäuser. Überall in Deutschland standen SA-Männer vor Geschäften mit jüdischen Inhabern, pöbelten Kunden an, beschmierten Schaufenster mit antisemitischen Parolen und scheuten auch vor physischer Gewalt nicht zurück. Manche Geschäfte blieben vorsorglich geschlossen, bei anderen postierten sich deren Besitzer demonstrativ vor der Ladentür. Obwohl viele Deutsche und die internationale Presse die Boykottaktion missbilligten, war sie letztlich ein "Erfolg": Die Unterteilung der deutschen Bevölkerung in jüdische und nicht-jüdische Menschen war damit öffentlich vollzogen.

Die Gewalteskalation in der Frühphase des nationalsozialistischen Regimes war ein zweischneidiges Schwert. Die NS-Führung hatte damit einerseits die Opposition zerschlagen, die Gleichschaltung der Länder betrieben und die eigene Basis motiviert. Lokale Gewalt diente außerdem der Selbstermächtigung von Akteuren und Zuschauern. Andererseits erzeugte die exzessive Gewalt in der internationalen Presse ein negatives Echo und führte zur Verunsicherung bürgerlicher Kreise, wie die "Köpenicker Blutwoche" gezeigt hatte. Die NS-Führung konnte Gewalt nicht einfach an- und ausschalten, auch wenn sie genau dies ab Sommer 1933 versuchte. Anfang Juli 1933 verkündete Hitler das Ende der nationalsozialistischen Revolution und rief zur Mäßigung auf. Viele SA-Männer wollten aber das genaue Gegenteil.

Selbstgleichschaltung

Die NSDAP baute die staatliche Ordnung um und mobilisierte Gewalt gegen politische Gegner sowie die als "rassisch minderwertig" stigmatisierten Juden. So gesehen lässt sich trotz der pseudo-legalen Machtübergabe an die Nationalsozialisten durchaus von einer nationalsozialistischen "Machtergreifung" sprechen. Aber die Durchsetzung des totalitären Einparteienstaates wäre ohne die symbolische Unterstützung und aktive Mitwirkung von wichtigen Gruppen und Institutionen der deutschen Gesellschaft weder so schnell noch so reibungslos verlaufen. Millionen von Deutschen stimmten der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler von Beginn an mit Begeisterung zu oder fanden sich bald zur Mitarbeit am NS-Regime bereit. Dies gilt auch für viele, die die Nationalsozialisten im Januar 1933 noch nicht unterstützten. Neben die Gleichschaltung von oben – also die Ausschaltung der meisten nicht mit der NSDAP verbundenen Organisationen oder ihre Fusion mit NS-Verbänden – trat die Selbstgleichschaltung der deutschen Gesellschaft.

Diese vollzog sich in einer Reihe von Ritualen und Medien der öffentlichen Zustimmung. Rituale markierten etwa die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler als einen Moment der nationalen Einheit. Ein Beispiel dafür waren die öffentlichen Fackelzüge der NS-Verbände, die nicht nur direkt am 30. Januar in Berlin, sondern in den folgenden Tagen auch in anderen Städten stattfanden. Am Abend des 6. Februar gab es einen Fackelzug der uniformierten Mitglieder von NSDAP und Stahlhelm in Hamburg, an dem etwa "20.000 Braunhemden" teilnahmen. Die gelernte Lehrerin und Hausfrau Luise Solmitz notierte in ihrem Tagebuch den Eindruck, dass dies ein "wunderbar erhebendes Erlebnis" sei. Solmitz hatte 1930 die NSDAP gewählt, aber in den Wahlen 1932 wieder zur DNVP zurückgefunden, die sie zuvor unterstützt hatte. Sie freute sich besonders darüber, dass sich nach dem Vorbeimarsch der SS-Männer, die am Schluss des Zuges standen, eine "harmlos vergnügte Menschenmenge" anschloss und mit "Fackelresten" ihren "eigenen Fackelzug" veranstaltete, "froh des Augenblicks." Ein anderes Medium der kollektiven Eingliederung in den NS-Staat war das Radio. Am 10. Februar hörten Solmitz und ihr Ehegatte Friedrich bei einem befreundeten Ehepaar die Übertragung von Hitlers Rede im Berliner Sportpalast. "Es standen uns vier Menschen die Tränen in den Augen." Am Tag darauf lauschte man in derselben Runde einer Kundgebung der "Kampffront Schwarz-Weiß-Rot", der früheren DNVP. Am Ende der Sendung folgte ein weiteres Ritual, mit dem sich nicht nur das Ehepaar Solmitz in die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft" einreihte: "Beim Deutschlandlied standen wir alle auf u. sangen tief ergriffen mit."

Ein weiteres Ritual der Selbstgleichschaltung war die Beflaggung von Häusern. Das Ehepaar Solmitz hängte am 31. Januar die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreiches heraus. Am Tag der Reichstagswahlen, dem 5. März, fragte sich Luise Solmitz verwundert, "was für Leute" wohl in einer Straße wohnten, die "in ihrer ganzen Länge" noch gar nicht beflaggt war. Für Luise Solmitz war es eine "unendliche Wohltat", nicht mehr das Schwarz-Rot-Gold der verhassten Republik oder die "3 Pfeile" der sozialdemokratischen Eisernen Front sehen zu müssen. Bereits am 8. April konnte sie zufrieden notieren: "Ich persönlich fühle mich unter der Diktatur außerordentlich
wohl."

Tempo und Form der Selbstgleichschaltung hingen neben institutionellen Faktoren von den politischen Mentalitäten in verschiedenen Sozialmilieus ab. Am schnellsten und umfassendsten erfolgte sie im Milieu der kirchennahen Protestanten. Nicht nur für die 1932 gegründete Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC) – eine Gruppe völkischer Pfarrer, die die NSDAP unterstützten – war die Machtergreifung ein "protestantisches Erlebnis". Die große Mehrzahl der evangelischen Pfarrer und organisierten Laien interpretierte "1933" als eine Zeitenwende im Sinne des nationalprotestantischen Deutungsmusters, das von einem Heilsplan Gottes für die deutsche Nation ausging. Mit dem Übergang der Macht an die Nationalsozialisten verbanden sie die Hoffnung auf eine Rechristianisierung der Gesellschaft, auf die Unterdrückung der gottlosen sozialistischen Freidenker und auf einen Aufschwung der Nation im Zeichen der Volksgemeinschaft. Solche Deutungsmuster waren auch in jenen kirchlichen Kreisen verbreitet, die den DC nicht angehörten und sich im Herbst 1933 zur innerkirchlichen Opposition formierten, aus der 1934 die Bekennende Kirche entstand. Der Dahlemer Pfarrer und Mitbegründer der Bekennenden Kirche Martin Niemöller etwa gab im Frühjahr 1933 von der Kanzel seiner Dahlemer Gemeinde der Hoffnung auf eine "nationale Wiedergeburt" Ausdruck. Am 5. März hatte er erstmals der NSDAP seine Stimme gegeben. Seine Mutter Paula, Pfarrfrau in Elberfeld, hatte ihm bereits am 3. Februar von ihrer Erwartung geschrieben, dass es mit Hitler als Kanzler "endlich wieder aufwärts geht in unserem Vaterland". Mit den Kirchenwahlen am 23. Juli, die in fast allen der 28 evangelischen Landeskirchen eine überwältigende Mehrheit für die DC brachten, war die Selbstgleichschaltung der deutschen Protestanten abgeschlossen.

Von Ambivalenzen geprägt war die Haltung der bürgerlichen Frauenbewegung zur NS-Machtergreifung. Auf der einen Seite standen Frauen wie Gertrud Bäumer, die ihre politische Heimat in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei hatte. Als langjähriges Mitglied – und von 1910 bis 1919 als Vorsitzende – prägte sie die Politik des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF), der Dachorganisation der Frauenbewegung. Bäumer hatte vor 1933 die NSDAP öffentlich kritisiert. Zugleich definierte sie die Aufgabe der Frauenbewegung im Sinne einer "Verantwortung für das Volkstum". Vor diesem Hintergrund war es nicht überraschend, dass sie nach dem 30. Januar 1933 die Form des politischen Systems als nachrangig ansah. Es sei "vollkommen gleichgültig, wie der Staat beschaffen ist, in dem heute die Frage der Einordnung der Frauen besteht: ob es ein parlamentarischer, ein demokratischer, ein faschistischer Staat ist". Der BDF löste sich am 15. Mai 1933 selbst auf. Auf der anderen Seite standen Vertreterinnen des national-konservativen Flügels der Frauenbewegung. Viele von ihnen reihten sich 1933 nahtlos in das "Dritte Reich" ein. Die Journalistin Else Frobenius etwa war neben dem BDF in der nationalliberalen DVP aktiv gewesen. Am 1. Mai trat sie in die NSDAP ein. In einem im Sommer 1933 veröffentlichten Buch feierte sie, dass "Männer und Frauen mit gleicher Inbrunst am großen Erleben" des Aufbruchs in das "Dritte Reich" beteiligt seien.

Die Universitäten waren von der "Normalität der Anpassung" an die neuen Machthaber geprägt, standen doch sowohl Professoren wie Studenten bereits vor 1933 in ihrer großen Mehrheit der Republik ablehnend gegenüber. Dabei gilt es zu differenzieren. Ein Teil der Professoren vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften vollzog eine "illusionäre Selbstgleichschaltung", die sich aus falschen Erwartungen über die tatsächlichen Absichten der Nationalsozialisten speiste. Daneben gab es eine "identifizierende Selbstgleichschaltung" vor allem durch Naturwissenschaftler, die dem neuen Regime durch fachspezifische Programme wie die "Rassenhygiene" zuarbeiten wollten. Eine kleinere Gruppe von Professoren schließlich zielte auf eine "Selbstbehauptung" der Universität durch "Distanz zur Politik".

Insgesamt ging die Selbstgleichschaltung vor allem von den bürgerlich-protestantischen Mittelschichten aus. Hinzu kam, dass auch bürgerliche Liberale, die die NSDAP eigentlich ablehnten, der nationalsozialistischen Machtergreifung keinen Widerstand entgegensetzten. Ein Beispiel dafür ist der Reichstagsabgeordnete und spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der – nach kontroversen Debatten in der Fraktion der Deutschen Staatspartei – im Parlament für das Ermächtigungsgesetz stimmte. In seinen Briefen aus dem Frühjahr 1933 wird deutlich, dass Heuss die antisemitischen Maßnahmen des neuen Regimes ablehnte, aber antisemitische Vorbehalte gegenüber einer "Handvoll entwurzelter Literaten" durchaus teilte. Und nicht nur in Bezug auf die Gleichschaltung der Länder war Heuss bereit, in den Maßnahmen des neuen Regimes auch "das Positive zu sehen".

Fazit

Als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, glaubten seine konservativen Steigbügelhalter, ihn in einem Kabinett bürgerlich-nationaler Fachleute eingerahmt zu haben. Franz von Papen, der Hitlers Ernennung eingefädelt hatte, fungierte als Vizekanzler. Neben Hitler gab es nur zwei weitere Nationalsozialisten als Reichsminister im Kabinett: Wilhelm Frick und Hermann Göring. Doch spätestens mit der Zustimmung des Reichstages zum Ermächtigungsgesetz und der parallel erfolgenden Gleichschaltung der Länder erwies sich die Hoffnung auf eine Zähmung Hitlers als eine Illusion. Entscheidend dafür war nicht nur die Rücksichtslosigkeit, mit der die Nationalsozialisten den Umbau des Staates vorantrieben und Gewalt anwandten. Wichtig war auch, dass die bürgerliche Öffentlichkeit und die bürgerliche Presse die SA-Gewalt weithin akzeptierten, da sie sich aus ihrer Sicht gegen den "richtigen" Gegner wandte, die sozialistische und kommunistische Arbeiterbewegung. Viele bürgerliche Beobachter unterschätzten die NSDAP oder konnten dem Führerstaat Positives abgewinnen. Die Selbstgleichschaltung protestantischer Sozialmilieus und wichtiger Institutionen gab der Machtergreifung der NSDAP zusätzlichen gesellschaftlichen Rückhalt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin–Bonn 1987, S. 870.

  2. Vgl. Larry Eugene Jones, Von der Demokratie zur Diktatur: Das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Nadine Rossol/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 120–141.

  3. Vgl. Daniel Siemens, Sturmabteilung. Die Geschichte der SA, München 2019, S. 186.

  4. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt/M. 1974.

  5. Vgl. Michael Wildt, Self-Reassurance in Troubled Times: German Diaries during the Upheavals of 1933, in: Alf Lüdtke (Hrsg.), Everyday Life in Mass Dictatorship. Collusion and Evasion, Basingstoke 2016, S. 55–74, hier S. 55f.

  6. Die Alleintäterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe gilt heute als gesichert, ist aber für diesen Zusammenhang nicht relevant. Wichtig ist die Reaktion der Nationalsozialisten auf den Reichstagsbrand.

  7. Fraenkel (Anm. 4), S. 26.

  8. Vgl. Michael Wildt, Gewalt als Partizipation. Der Nationalsozialismus als Ermächtigungsregime, in: Alf Lüdtke/ders. (Hrsg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 217–240, hier S. 220, S. 226.

  9. Vgl. Winkler (Anm. 1), S. 888ff.

  10. Vgl. ebd., S. 898f.

  11. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: 1914–1949, München 2003, S. 606.

  12. So die treffende Formulierung von Winkler (Anm. 1), S. 906.

  13. Vgl. Wehler (Anm. 11), S. 609.

  14. Vgl. ebd., S. 610ff.

  15. Vgl. Richard Bessel, The Nazi Capture of Power, in: Journal of Contemporary History 39/2004, S. 169–188, S. 182f.

  16. Zit. nach Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 104.

  17. Vgl. Siemens (Anm. 3), S. 195–198; Stefan Hördler, SA-Terror als Herrschaftssicherung, in: ders. (Hrsg.), SA-Terror als Herrschaftssicherung. "Köpenicker Blutwoche" und öffentliche Gewalt im Nationalsozialismus, Berlin 2013, S. 9–27, hier S. 10f.

  18. Vgl. Winkler (Anm. 1), S. 888f.

  19. Siemens (Anm. 3), S. 186.

  20. Vgl. Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933–1939, Berlin 2002.

  21. Vgl. Siemens (Anm. 3), S. 185.

  22. Vgl. Winkler (Anm. 1), S. 918–929.

  23. Vgl. Stefan Hördler, Ideologie, Machtinszenierung und Exzess: Taten und Täter der "Köpenicker Blutwoche", in: ders. (Anm. 17), S. 83–104; Amelie Artmann/Yves Müller, Opfer der "Köpenicker Blutwoche" im Juni 1933, in: ebd., S. 164–183.

  24. Vgl. Bessel (Anm. 15), S. 176ff.

  25. Vgl. Wildt (Anm. 16), S. 107–120.

  26. Vgl. ebd., S. 144.

  27. Vgl. ebd., S. 372ff.

  28. Vgl. Siemens (Anm. 3), S. 223.

  29. Vgl. Norbert Frei, Machtergreifung. Anmerkungen zu einem historischen Begriff, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31/1983, S. 136–145.

  30. Tagebuch Luise Solmitz, Einträge vom 6., 10. und 11. Februar 1933, zit. nach Frank Bajohr/Beate Meyer/Joachim Szodrzynski (Hrsg.), Bedrohung, Hoffnung, Skepsis. Vier Tagebücher des Jahres 1933, Göttingen 2013, S. 154ff., S. 158f.

  31. Ebd., Einträge vom 31. Januar, 5. und 9. März sowie 8. und 19. April 1933, S. 153, S. 168, S. 172, S. 189, S. 194. Die positive Diktatur-Wahrnehmung von Luise Solmitz trübte sich teilweise, als die jüdische Herkunft ihres Mannes eine Rolle zu spielen begann. Siehe hierzu auch den Beitrag von Mark Roseman in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  32. Vgl. Manfred Gailus, 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung, in: Geschichte und Gesellschaft 29/2003, S. 481–511.

  33. Vgl. Benjamin Ziemann, Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019, S. 171–179, Zitate S. 172, S. 175.

  34. Zit. nach Barbara Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894–1933, Göttingen 1981, S. 187.

  35. Else Frobenius, Die Frau im Dritten Reich (1933), zit. nach Annette Kuhn/Valentine Rothe, Frauen im deutschen Faschismus, Bd. 1, Düsseldorf 19873, S. 69. Vgl. auch Lora Wildenthal, Mass-Marketing Colonialism and Nationalism. The Career of Else Frobenius in the "Weimarer Republik" and Nazi Germany, in: Ute Planert (Hrsg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt/M.–New York 2000, S. 328–345.

  36. Vgl. Dieter Langewiesche, Die Universität Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Formen der Selbstgleichschaltung und Selbstbehauptung, in: Geschichte und Gesellschaft 23/1997, S. 618–646, Zitate S. 618, S. 622, S. 624, S. 631. Zu den Studenten als "Motor der Gleichschaltung" vgl. Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn–München 1995, S. 62–81.

  37. Theodor Heuss am 4. Mai 1933 an Richard Wirth, zit. nach Elke Seefried (Hrsg.), Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945, München 2009, S. 142f.

  38. Vgl. Dirk Schumann, Gewalt als Methode der nationalsozialistischen Gewalteroberung, in: Andreas Wirsching (Hrsg.), Das Jahr 1933: Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft, Göttingen 2009, S. 135–155, hier S. 151.

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ist Senior Lecturer für Neuere Europäische Geschichte an der University of Essex, Vereinigtes Königreich.
E-Mail Link: nrossol@essex.ac.uk

ist Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der University of Sheffield, Vereinigtes Königreich.
E-Mail Link: b.ziemann@sheffield.ac.uk