"Frankreich und Deutschland tragen gemeinsam die Verantwortung dafür, das Projekt eines geeinten und souveränen Europas zu bekräftigen." Mit diesen Worten fasste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags zusammen, was seit seinem Amtsantritt 2017 im Mittelpunkt seines Handelns in Europa und in Bezug auf Deutschland steht: die Entwicklung einer gemeinsamen Agenda, die zugleich Impulse für die bilaterale Zusammenarbeit setzt, die Position Europas auf der Weltbühne stärkt und es diesem Europa ermöglicht, den Herausforderungen von morgen zu begegnen – eine ehrgeizige europäische Agenda also, zu deren Prioritäten die Stärkung der europäischen Souveränität zählt. Ihr zugrunde liegt die Auffassung, dass die wichtigsten Herausforderungen, denen sich Europa in den vergangenen Jahren gegenübersah, von globaler Dimension sind. Dieses Postulat wiederum erfordert ein Überdenken des Projekts Europa vor dem Hintergrund seiner Beziehungen zur übrigen Welt. Es gilt, eine Agenda zu entwerfen, dank derer Europa seine Souveränität durch Initiativen in sechs Handlungsräumen stärken kann, die Macron als wesentliche Elemente zeitgenössischer Macht identifiziert: Sicherheit und Verteidigung, Migration und Grenzen, ökologischer Wandel, digitale Transformation, Ernährungssouveränität, wirtschaftliche und industrielle Macht.
Gleichwohl kann aber auch die Beständigkeit, mit der Macron dieses Ziel vertritt, nicht über die geringen Fortschritte hinwegtäuschen. Zwar hat die deutsch-französische Zusammenarbeit einige Durchbrüche auf europäischer Ebene ermöglicht, wie zum Beispiel das europäische Aufbauinstrument "Next Generation EU" für die Zeit nach Covid-19. Doch die verhaltene Reaktion Berlins auf die inhaltlichen Vorschläge Macrons für Europa hat auf französischer Seite zu einer gewissen Frustration geführt, die mitunter in Überdruss und sogar Ressentiments umschlug. Auf deutscher Seite sorgten zum einen die Alleingänge des französischen Präsidenten in Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik für Verärgerung, zum anderen, dass man vom Partner vor vollendete Tatsachen gestellt wurde.
Paradoxerweise führen die wiederholten Krisen der vergangenen Jahre und vor allem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine aber klar vor Augen, dass die EU die einzig richtige Ebene ist, um den Herausforderungen entgegenzutreten, denen Frankreich und Deutschland gegenüberstehen. Dieser Konflikt wird tiefgreifende Konsequenzen für die EU nach sich ziehen, und vor dem Hintergrund der Polykrise und Ressourcenknappheit kommt die Versuchung wieder auf, "rette sich, wer kann" zu denken und eine Jeder-für-sich-Haltung einzunehmen. Daher stellt sich die Frage, wie Frankreich und Deutschland die Zukunft für sich selbst, aber auch für die EU und die internationale Ordnung sehen. Welchen Platz nehmen die Partner in der Vorstellung ein, die der andere sich von seiner eigenen Zukunft macht?
Der Krieg als asymmetrischer Schock
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine dreht sich die öffentliche Diskussion in Deutschland um die "Zeitenwende". Berlin ist gezwungen, das Land aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, vor allem vom russischen Gas, zu befreien und die Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft voranzutreiben, um die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts Deutschland zu sichern. Die aktuelle Krise wirft in Deutschland existenzielle Fragen auf. Berlin muss unter Zeitdruck sein Wirtschaftsmodell überdenken und so gestalten, dass es Wohlstand und Sicherheit zugleich gewährleisten kann – und das, während die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gefährdet ist.
In Frankreich gestaltet sich die politische Debatte um den Krieg in der Ukraine einvernehmlicher. Geschützt durch den verfassungsrechtlichen Status der Außen- und Verteidigungspolitik als "domaine réservé" des Staatspräsidenten, also als ein ihm vorbehaltener Bereich, bewahrt sich Macron einen breiten Handlungsspielraum und bleibt weitgehend von Kritik verschont. Aus französischer Sicht bestätigt der Krieg in der Ukraine die Dringlichkeit einer Stärkung der europäischen Souveränität. Auch hat Frankreich im Rahmen der Krisenbewältigung nicht die Hemmschwellen zu überwinden, denen sich Berlin gegenübersieht. Das gilt insbesondere für Waffenexporte oder Versuche, Gespräche mit dem russischen Präsidenten zu führen. Für Paris wirft der Konflikt Deutschland auf grundlegende Fragen zurück, die zu lange auf die lange Bank geschoben wurden: Berlin muss den offenkundig gewordenen Widerspruch überwinden, eine technologisch und wirtschaftlich erfolgreiche Großmacht sein zu wollen, auf geopolitscher Ebene aber unbedeutend zu sein. Es gilt, die Fähigkeiten und die Ausrüstung des deutschen Militärs weiterzuentwickeln und zu verbessern. Berlin muss nicht nur in die Sicherheit des Landes investieren, sondern auch die Abhängigkeit von bestimmten ausländischen Märkten verringern. Zudem drängt die gegenwärtige Krise zu einem Überdenken der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich, um die Entstehung einer wahrhaft europäischen Industriepolitik zu ermöglichen. Die Verabschiedung des Inflation Reduction Act in den USA unterstreicht das Risiko, dass europäische Unternehmen ihren Standort verlagern und die europäischen Wirtschaftssysteme aufgrund der steigenden Energiekosten an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Nur mit einer Antwort auf europäischer Ebene wird es möglich sein, die für den digitalen Wandel und die Energiewende notwendigen Technologien souverän und nachhaltig zu entwickeln.
Im Hinblick auf die Beziehung zu Berlin ist die französische Sichtweise ambivalent. Einerseits sieht Paris darin eine Gelegenheit, Deutschland für seine europäische Agenda zu gewinnen, in deren Mittelpunkt das erklärte Ziel einer größeren strategischen Autonomie steht, insbesondere gegenüber den USA und China. Angesichts einer deutschen Haltung, die als zögerlich oder unentschlossen wahrgenommen wird, ist Frankreich versucht, den eigenen Vorteil zu suchen und Berlin dazu zu bewegen, Entscheidungen zu treffen, die den französischen Vorstellungen entsprechen.
Andererseits ist sich Frankreich der Tatsache bewusst, dass die Erschütterung durch den Krieg Berlin mit der Zeit dazu bewegen könnte, seine Stellung in Europa neu auszurichten und sich von Paris zu distanzieren. Das rührt an alte französische Ängste und die Sorge, dass Berlin seine Rolle als wohlwollender Hegemon aufgeben könnte, um eine auf die eigenen nationalen Interessen ausgerichtete Agenda zu verfolgen und eine härtere Gangart bei Themen einzulegen, die für Paris zentral sind. Hierzu zählen die Bereitstellung von Mitteln auf europäischer Ebene, die zur Überwindung der Energiekrise und der Kriegsfolgen notwendig sind,
Gleichzeitig stehen die deutsch-französischen Unstimmigkeiten bei Energiethemen, militärischen Angelegenheiten und Handelsfragen konkreten Fortschritten in der bilateralen Zusammenarbeit im Weg. Das zeigen zum Beispiel die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Rüstungsprojekt Future Combat Air System oder der geplanten Gaspipeline aus Spanien durch Frankreich.
Moment der Wahrheit für gemeinsame Ambitionen
Im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen für Europa ist es Deutschland und Frankreich nicht gelungen, als treibende Kraft zu wirken und die anderen EU-Mitgliedstaaten und die Kommission für eine gemeinsame Agenda zu gewinnen. Dabei ist jetzt nicht die Zeit für Selbstreflexion, Konkurrenzdenken oder gar Schuldzuweisungen, sondern es sind Taten gefragt. Wie die beiden Länder die Folgen des Krieges bewältigen, wird von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt der EU sein.
Das gilt umso mehr, als die deutsch-französische Autorität in den Augen einiger EU-Mitglieder angeschlagen ist, weil Paris und Berlin die Gefahr eines Krieges mit Moskau unterschätzt und die Warnungen Polens oder der baltischen Staaten vor Russland ignoriert haben. Dieser Autoritätsverlust wird sich in verschiedenen Bereichen bemerkbar machen: zunächst in der Veränderung des militärischen Gleichgewichts in Europa – Polen verfolgt das Ziel, die stärkste Landstreitkraft Europas zu werden, das Vereinigte Königreich hat durch die frühzeitige und bedingungslose Unterstützung der Ukraine an Einfluss gewonnen, und die Türkei behauptet ihre Militärmacht; des Weiteren in der Kritik am übermäßigen Einfluss Frankreichs und Deutschlands auf die europäische Politik, die bei den geplanten Reformen der europäischen Institutionen Vorsicht erforderlich macht, vor allem mit Blick auf das Einstimmigkeitsprinzip.
Auf globaler Ebene werden Frankreich und Deutschland auf den Status mittelgroßer Mächte zurückgeworfen.
Aus dem Französischen von Sandra Uhlig, Bonn