Das Bild Deutschlands in Polen ist auch 2023 mit der traumatischen Vergangenheit der Beziehungen zwischen den beiden Ländern verbunden. Die wichtigste Zäsur ist hierbei der Zeitraum von 1939 bis 1945. Es gibt im öffentlichen und privaten Raum in Polen nichts, was nicht vom Krieg berührt worden wäre, der mit dem Angriff Deutschlands am 1. September 1939 begann. Diese sechs Jahre waren ein einziges großes, kollektives Trauma, und das Wissen darüber wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben.
Wenn man nach dem gegenwärtigen Bild Deutschlands in Polen fragt, kann man es natürlich nicht bei dieser Feststellung bewenden lassen. Die Beschreibung und die Interpretation des Zweiten Weltkrieges fand nicht nur im privaten Raum sowie auf rechtlicher oder wissenschaftlicher Ebene statt. Der Sieg über das "Dritte Reich" war auch eine der wichtigsten propagandistischen und legitimatorischen Strategien der UdSSR und der kommunistischen Staaten, zu denen die 1944 gegründete Volksrepublik Polen zählte, die geopolitisch gesehen Moskau unterstellt war. Das ist hier hervorzuheben, da es in Zeiten politischer Umbrüche zu den intellektuellen Strategien gehört, auf Wissensbestände aus der Vergangenheit zurückzugreifen. Es scheint, als würden die traumatischen Verletzungen, die Deutschland Polen zugefügt hat, seit einigen Jahren gewissermaßen "aus der Tiefkühltruhe geholt". Manche Entscheidungen Berlins seit Beginn des Krieges in der Ukraine werden im östlichen Europa durch die Brille der Vergangenheit interpretiert. Dies führt zu vielen Missverständnissen.
Gestiegene Sympathie
In Polen erklärten noch Mitte der 1970er Jahre nur acht Prozent der Befragten, Sympathie gegenüber den Deutschen zu empfinden. 1984 äußerten das bereits zwölf Prozent und vier Jahre darauf rund 16 Prozent.
Nach 1989 spielten auch geopolitische Interessen eine Rolle für die deutsch-polnischen Beziehungen: Polen wollte der russischen Einflusszone entkommen und der Nato sowie der EU beitreten, denen das vereinigte Deutschland bereits angehörte. Aber auch bilaterale wirtschaftliche Interessen waren von Bedeutung, und das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Polen wuchs rasch. Die gesellschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit wurde ausgebaut, auch wenn sie nie wirklich in die große Breite wirkte.
Gleichzeitig wuchs auch die Sympathie der Polinnen und Polen zu den Deutschen. 2020 äußerten 36 Prozent Sympathie, 29 Prozent Gleichgültigkeit und 29 Prozent Abneigung gegenüber den Deutschen.
Zone der Angst
Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine hat gezeigt, wie zerbrechlich die steigende Sympathie ist – und zwar vor dem Hintergrund der traumatischen Vergangenheit. Auch schon vor Februar 2022 gab es deutliche Signale des Misstrauens aus Polen gegenüber der deutschen Außenpolitik, und das nicht nur aus dem Umfeld der seit 2015 regierenden nationalen Rechten. Von allen politischen Entscheidungen Deutschlands seit 1989 war zweifellos die Übereinkunft mit Russland zum Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 diejenige, die in den Staaten Ostmittel- und Osteuropas am stärksten zur kritischen Reflexion der deutschen Politik bewegte. Die Art und Weise, wie diese Entscheidung getroffen wurde, empfand man als Verständigung über die kleineren Staaten hinweg. Der damalige Verteidigungsminister Radosław Sikorski verglich den Bau der Pipeline mit den Ereignissen vor 1939: "Polen ist besonders sensibel bei der Frage von Korridoren und Absprachen über unsere Köpfe hinweg", sagte er und ergänzte, dies sei "die Tradition von Locarno, die Tradition des Hitler-Stalin-Pakts."
Diese Aussage führt uns heran an das geopolitische "Geheimnis" nicht nur Polens, sondern aller Staaten Ostmittel- und Osteuropas: die posttraumatische Souveränität.
Die Politiker betrachten die Welt sogar dann aus der Perspektive des drohenden staatlichen Untergangs, wenn sie Deutschland zu mehr Aktivität auffordern. So mahnte Sikorski als Außenminister 2011 mit Blick auf das Schicksal des polnisch-litauischen Doppelstaates, der 1795 von der Landkarte radiert wurde, dass der EU ein ähnliches Schicksal drohe, wenn sie sich zu spät reformiere. Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine hat diese "existenzielle" Perspektive auf die internationale Lage in Polen weiter verstärkt und das Bild von der deutschen Politik mit beeinflusst.
2015 kam mit Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) in Polen eine Partei mit dem Ziel an die Macht, die Souveränität des Staates maximal zu vergrößern. Angesichts der internationalen Lage musste dies zu Spannungen führen. Dass die antideutschen Stereotype in Polen statistisch gesehen zurückgegangen, aber nicht verschwunden sind, verleitet einen Politiker wie den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński dazu, sie politisch zu nutzen. Bei Wahlkampfveranstaltungen, aber auch bei anderen Gelegenheiten, setzen Politikerinnen und Politiker der Partei nicht selten mit einer alles andere als diplomatischen Sprache auf nationale Emotionen.
Wenn der Bau von Nord Stream 2 in Ostmitteleuropa rote Lampen hatte aufleuchten lassen, so bedeutete Russlands Überfall auf die Ukraine für die polnische Regierung das Ende jeder Nachsicht in den Beziehungen zu den Staaten Westeuropas. Angesichts der realen Bedrohung der staatlichen Existenz erfreut sich die Kritik an der deutschen, aber auch der französischen Außenpolitik breiter Unterstützung. Die gesamte westliche Russlandpolitik wird als falsch ausgelegt. Sie habe mittelbar zu einer neoimperialen Politik Moskaus geführt. Damit wird unter anderem Berlin moralisch für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht.
Im Zeichen der posttraumatischen Souveränität löste der Kriegsbeginn hinter den eigenen Staatsgrenzen in der gesamten Region das Gefühl geopolitischer Bedrohung aus. Die Überempfindlichkeit gegenüber Berlin zeigte sich im Streit um die eventuelle Überlassung deutscher Panzer an Polen, aber auch an den Differenzen rund um die Stationierung des Flugabwehrsystems "Patriot" in Polen.
Für das Gefühl einer Bedrohung der Souveränität spielt die Parteizugehörigkeit in Polen keine große Rolle. Auch Oppositionspolitiker kommentieren Deutschlands Russlandpolitik kritisch. Das hat für Jarosław Kaczyński allerdings keine Bedeutung. Er möchte keine nationale Einheit in Zeiten des Krieges herbeiführen, sondern Wahlen gewinnen. Deshalb wird die Kritik an der Außenpolitik Berlins oder Paris auf Politiker der liberalen Opposition ausgeweitet.
Um die Souveränität des Landes zu stärken, sollte eigentlich sein Außenbild gestärkt werden. Stattdessen hat Kaczyński die Frage der Reparationen für die Schäden im Zweiten Weltkrieg hervorgeholt. Warschau hat eine astronomische Summe von 1,3 Billionen Euro von Berlin verlangt. Offensichtlich ist der PiS-Vorsitzende der Meinung, dass in den deutsch-polnischen Beziehungen der stete Tropfen den Stein höhlt. Innenpolitisch betrachtet, scheinen antideutsche Töne ein erfolgreicher Weg zu sein, um Wähler zu mobilisieren.
Erwartungen
Die Gesten der deutschen Seite dringen nur schwach ins Bewusstsein der Polinnen und Polen vor. In den vergangenen Monaten hat der Bundestag zum Beispiel eine Initiative unternommen, um Mittel für einen Erinnerungsort für die Kriegsopfer Polens in Berlin zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig wurde eine erhebliche Summe für Polnischunterricht in Deutschland bereitgestellt, außerdem Mittel für diverse Gedenkstätten in Polen.
Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Herbst 2023 hat die Regierung in Warschau kein Interesse daran, die deutsch-polnische Aussöhnung voranzubringen und der Wählerschaft die Nuancen der deutschen Politik zu erklären. Russlands Überfall auf die Ukraine hat dazu geführt, dass sich unabhängig von der polnischen Regierungspolitik das geopolitische Zentrum Europas faktisch nach Osten verschoben hat. Jarosław Kaczyński wird diese internationale Konjunktur dafür nutzen, zu betonen, dass seine Agenda einer maximalen Souveränität von Anfang an nicht nur moralisch, sondern auch politisch richtig war. Und nach heutigem Stand ist ein Sieg der PiS bei den Parlamentswahlen nicht auszuschließen.
Die Erwartungen aus Polen an Berlin sollte man deshalb in Erwartungen der Regierung und objektive Erwartungen unterteilen. Die Regierung zielt darauf, die EU-Staaten dazu zu bewegen, die Perspektive Ostmitteleuropas zu übernehmen. Von Berlin erwartet sie eine geringere internationale Rolle, wohl aber ein stärkeres materielles Engagement für die Ukraine und auch in Polen. Objektiv gesehen ist kaum zu erwarten, dass Berlin diese Forderungen passiv erfüllt. Daher sollte der nächste Schritt der Versöhnung zwischen den beiden Nationen, der zu Recht von den Eliten angestoßen worden ist, auf die Ebene der Bürgerinnen und Bürger führen. Die internationale Lage begünstigt zudem eher multilaterale als bilaterale Aktivitäten in der Region der Staaten mit posttraumatischer Souveränität. Denn die anderen Staaten der Region warten nicht darauf, dass Polen nunmehr eigenständig eine wichtigere Rolle in Ostmitteleuropa ausfüllt. Vielmehr erwarten die kleineren Staaten eine umfassende Kooperation – und dies umso mehr, als der Kriegsbeginn auch die Vielschichtigkeit zwischenmenschlicher Solidarität aufgezeigt hat. Dafür ist die Zusammenarbeit zwischen Warschau, Kyjiw und den baltischen Staaten das beste Beispiel.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfordern die deutsch-polnischen Beziehungen zivilgesellschaftliche und bildungsbezogene Initiativen. Eine tatsächliche Herausforderung ist es, das allgemeine Wissen übereinander zu verbessern und von negativen Stereotypen wegzukommen. Das ist eine schwierige und langfristige Aufgabe, denn die künstlich fabrizierten Klischees reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, als der preußische Hof seine territoriale Expansion auf Kosten Polen-Litauens zu legitimieren versuchte. Aber es gibt hier keine Abkürzung. Denn in der politischen Bilanz Deutschlands lässt sich das Misstrauen der Nachbarn nicht auf die Haben-Seite buchen.
Wenn man nur das Feld der Politik betrachtet, ist kaum zu glauben, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Staaten alle Rekorde schlägt. Polen ist derzeit der fünftwichtigste Handelspartner Deutschlands. Die Summen sind immens: Der Handelsaustausch hat 2022 die Rekordhöhe von 167,7 Milliarden Euro erreicht.
Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew, Darmstadt