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Guerilla-Demokratie Wie Demokratien autokratische Übergriffe verhindern und rückgängig machen können
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Welche Handlungsoptionen bleiben nach einer autokratischen Regierungsübernahme? Anhand der Beispiele Belarus, Ungarn und Polen lassen sich die Möglichkeiten und Grenzen demokratischen Widerstandes nachvollziehen und Lehren für Deutschland ableiten.
In einer stabilen Nachkriegsdemokratie konnten sich die meisten (West-)Deutschen kaum vorstellen, dass Notstandsmaßnahmen zur Sicherung der freiheitlich demokratischen Grundordnung jemals erforderlich sein könnten. Doch jüngst beschlossen Regierung und Opposition gemeinsam, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor möglichen Übergriffen einer autoritären Regierung zu festigen. Im Visier war damit die AfD, der man nach Aussagen ihrer Spitzenpolitikerinnen und Vordenker ohne Weiteres zutrauen kann, die Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem Vorbild der polnischen und ungarischen Rechtsregierungen aushöhlen zu wollen.
Sicherungen des Status quo betreffen die zwölfjährige Amtszeit der Richterinnen und Richter, die Altersgrenze von 68 Jahren sowie die Existenz zweier (und nicht mehr) Senate mit einer festgelegten Zahl von 16 nicht wiederwählbaren Richtern. Letztere üben ihr Amt bis zur Bestellung ihrer Nachfolger aus, Urteile sind bindend, „Karlsruhe“ legt seine Geschäftsordnung selbst fest. Diese Regelungen konnten bisher mit einfacher Mehrheit verändert werden. Fortan wäre dafür eine Zweidrittelmehrheit notwendig, um zu verhindern, dass eine autoritäre Regierung die Hälfte der Verfassungsrichterinnen und -richter ohne Absprache mit anderen Fraktionen allein wählen könnte, oder eine oder mehrere Parteien mit einer Sperrminorität fällige Neubesetzungen verzögern.
Hintergrund dieses im Effekt alles andere als marginalen Rechtsaktes ist die Gefahr, dass die AfD (eventuell zusammen mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht, BSW) in ostdeutschen Bundesländern absolute Mehrheiten einfahren kann. Diese breite Koalition aller demokratischen Parteien gegen einen möglichen Angriff auf das Verfassungsgericht nach ungarischem (seit 2010) und polnischem (2015–2023) Vorbild wurde als Beweis der Resilienz der gewaltenteiligen Demokratie angesehen. Allerdings können Gerichte nur so lange wetterfest gemacht werden, wie ihre Verteidiger sich mittel- und langfristig auch bei Wahlen durchsetzen.
Die Besetzung mit ihm nahestehenden, auf Lebenszeit gewählten Richterinnen und Richtern des Supreme Court würde dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump in einer zweiten Amtszeit die Möglichkeit verschaffen, ungehindert seine autoritäre Herrschaft aufzurichten, wie sie Gedankenspiele eines Staatsumbaus in Plänen von ihm zuarbeitenden Denkfabriken im „Project 2025“ deutlich machten.
Was heißt Guerilla-Demokratie?
In einer Guerilla-Demokratie geht es einerseits um solche Präventivmaßnahmen, die aus der negativen Erfahrung gescheiterter oder defekter Demokratien lernen. Andererseits geht es um Akte des Widerstands „von unten“, wenn Grundfreiheiten akut bedroht oder bereits außer Kraft gesetzt sind und die Rückeroberung von Freiheiten nur noch mit illegalen und eventuell militanten Mitteln möglich ist, aber auch neue Wege für Interaktionen in der demokratischen Gemeinschaft selbst erprobt werden.
Diese Guerilla-Demokratie ist nicht mit Vigilantismus zu verwechseln, der Staatlichkeit grundsätzlich misstraut und sich das Recht nimmt, auch in Demokratien das Privateigentum und sich selbst gegen eigene (oft imaginäre) Feinde mit Waffen zu verteidigen. Guerilla-Demokraten misstrauen dem Staat nicht grundsätzlich, sondern agieren, wenn der Staat zur Beute politischer und wirtschaftlicher Oligarchen wird, die eine paternalistische Sorge für das gemeine Volk vortäuschen und die Institutionen des Staates so weit vereinnahmen, dass ein Sieg der Opposition schwierig wird.
Die zunächst vielleicht alarmistisch wirkende Terminologie der Guerilla-Demokratie reagiert auf die schubweise und massive Entdemokratisierung seit der Jahrtausendwende. In etablierten wie auch in zwischen 1970 und 1990 errichteten neuen Demokratien begann sie mit ethno-nationalistischen Angriffen auf das liberale Parteien-Establishment und ihm zugerechnete wirtschaftliche, soziale und kulturelle Eliten. Wo sich populistische Bewegungen parteiförmig organisierten und Wahlerfolge erzielten, übten sie Druck auf oppositionelle Medien aus, nahmen unabhängige Verfassungsgerichte ins Visier, ebenso die freie Kunst und Wissenschaft, denen ein Mangel an Heimatverbundenheit beziehungsweise Auftragsarbeit für Herrschende vorgeworfen wurde. Aus einem leeren Populismus heraus erfolgte, wie im Fall der AfD, in der Regel eine völkisch-autoritäre Radikalisierung, aufgrund derer demokratische Institutionen wie die unabhängige Justiz oder die freie Presse angegriffen und ihre Neutralität und Professionalität angezweifelt wurden.
Desinformationskampagnen erzeugen künstlich polarisierte Meinungsarenen, speziell in sozialen Medien, wo keine redaktionelle Objektivitätspflicht mehr gilt und Verschwörungserzählungen zunehmend den Ton angeben. Hinzu kommen Versuche, den staatlichen Sicherheitsapparat zu unterwandern beziehungsweise zu durchsetzen; es entstanden finanzielle Unterstützer-Netzwerke und korrupte Geschäftsbeziehungen. Dort, wo Populisten an die Regierung gelangten, wurden Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit ausländischen Verbindungen unter Kontrolle gestellt oder verboten, Oppositionelle drangsaliert, enteignet, verhaftet und ins Exil getrieben.
Im Folgenden sollen drei europäische Fallbeispiele graduell-vergleichend herangezogen werden. Während in Polen mit den Wahlen 2023 eine Wende vom autoritären PiS-Regime zurück zu einer liberalen Demokratie mühsam begonnen hat, nimmt 500 Kilometer weiter gen Osten das Regime in Belarus totalitäre Züge an. Dass dort Wahlen angesetzt werden, die von Beginn an weder frei noch fair sind und am Ende gefälscht werden, zeigt, dass selbst Diktatoren ex negativo die Legitimationsfunktion von Wahlen anerkennen. In Ungarn hat sich eine ebenfalls durch Wahlen legitimierte Zustimmungsautokratie gefestigt, der lagerübergreifende und weltanschaulich heterogene Allianzen bisher wenig anhaben konnten. Auch eine wachsende Kritik an der Person des Premiers Viktor Orbán hat bisher noch nicht zum Machtverlust beigetragen. Vielmehr nutzt er die EU-Ratspräsidentschaft als Propagandaplattform einer prorussischen und prochinesischen Allianz.
Belarus
Beginnen wir mit dem Extremfall einer vollendeten Diktatur. Im europäischen Kontext ist dies, mehr noch als die Russische Föderation, Belarus.
Die belarusische Opposition versuchte 2020 Lukaschenko eine Wahlniederlage beizubringen, doch wurden aussichtsreiche Kandidatinnen wie Swetlana Tichanowskaja und Maria Kalesnikawa eingeschüchtert, verhaftet, entführt, eingesperrt oder ins Exil gezwungen. Nach den offensichtlich gefälschten Wahlen gab es Massenproteste mit hunderttausenden Teilnehmenden, die Lukaschenko durch Sondereinheiten der Staatspolizei mit massiver Gewalt und tausenden Festnahmen und Verurteilungen unterband. Menschenrechtsorganisationen zählen aktuell 1400 politische Gefangene. In der Haft herrschen unmenschliche Bedingungen, Gefangene werden verprügelt, gefoltert, vergewaltigt und getötet. Es gibt diverse Fälle von „Verschwundenen“. Zivilgesellschaftliche Gruppen wurden zerschlagen, von der folgenden Präsidentschaftswahl 2024 wurden sämtliche Oppositionsparteien ausgeschlossen. Es kam zu einem Massenexodus von Belarusinnen und Belarusen.
Bewundernswert ist zum einen der unerschütterliche Durchhaltewillen der umzingelten und eingesperrten Oppositionellen, der exemplarisch in dem aus dem Gefängnis geschmuggelten Buch von Maxim Znak nachvollzogen wird.
Was also bleibt zwischen innerer Emigration und dem (kaum möglichen) Tyrannenmord? Für eventuelle Interessenkonflikte in der Nomenklatura gibt es keine Anzeichen, die im Exil lebenden Symbolfiguren haben nicht das Format eines Alexej Nawalny, der seinerzeit sogar Putin in Angst versetzte. Weitere Sanktionsmaßnahmen träfen nicht das Regime.
Die Möglichkeiten der Opposition, von außen auf Belarus einzuwirken, sind auch dadurch begrenzt, dass Angehörige von Exilanten in Belarus bedroht und inhaftiert werden. Mit der Änderung der Passgesetze kann das Regime zudem erreichen, dass im Ausland befindliche Staatsbürgerinnen und -bürger ohne gültige Pässe im Westen staatenlos werden. Ungeachtet dessen bleiben Gegner der Lukaschenko-Diktatur in EU-Ländern aktiv. Darunter gehören auch militärische Ertüchtigungen für Partisanenzellen in Belarus. In dem Maß, wie das Regime sämtliche normalen Oppositions- und Protestaktivitäten illegalisiert, sinkt die Hemmschwelle für Aktivistinnen und Aktivisten, ihrerseits illegale und gewaltförmige Mittel anzuwenden. So hat etwa die oppositionelle Gruppe BYPOL (kurz für Abjadnannie siłavikow Biełarusi, Vereinigung der Sicherheitskräfte von Belarus), die auf die Unterwanderung der Sicherheitskräfte zielt, bereits Sabotageakte gegen Cyber-, Militär- und Verkehrsinfrastrukturen verübt. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Auseinandersetzungen bürgerkriegsähnliche Formen annehmen, friedliche Oppositionelle zusätzlich abgeschreckt werden und in diesem an David gegen Goliath anmutenden Kampf zunehmend Resignation aufkommt.
Im Kontinuum von Opposition, Protest und Widerstand lernt man am Fall einer fast vollständigen und von außen fortifizierten Diktatur wie in Belarus, dass sämtliche legalen Mittel der Opposition über Wahlen, Medieninformation, Rechtsmittel und Meinungskampf durch Wahlbetrug, Gleichschaltung der Presse, abhängige Gerichte und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt sind. Nach den beeindruckenden Protestversammlungen, die nach dem Muster der Euromaidan-Proteste in Kyjiw 2013/14 Hunderttausende in periodischen Abständen mobilisiert haben, sind öffentliche Massenproteste, aber auch die couragierten Akte zivilen Ungehorsams von Einzelnen und kleinen Gruppen durch härteste Polizeirepression und gezielte Schikanen zu einem lebensgefährlichen Risiko geworden und finden nicht mehr statt.
Weitere Widerstandsakte sind passive Verweigerung und Sabotageakte im Inneren, während Kräfte der Opposition sich in der Zusammenarbeit mit NGOs im Ausland organisieren, klandestine Verbindungen nach Belarus pflegen und auf bessere Zeiten warten. Interventionen der Europäischen Union erwiesen sich als eher nutzlose Rhetorik. Chancen auf Redemokratisierung in Belarus sind abhängig vom weiteren Verlauf des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Allerdings bleibt zu vermuten, dass die russische Führung das Lukaschenko-Regime noch stärker an die Kandare nehmen wird.
Ungarn
Das im Rahmen der Osterweiterung 2004 Mitglied gewordene Ungarn hat sich seit 2010 zu einer Wahlautokratie entwickelt und damit zur ersten veritablen Autokratie in der EU, was in der Geschichte der europäischen Integration einmalig ist. Unter dem Regiment der Fidesz-Partei wurde die Gewaltenteilung ausgeschaltet, die Medien (auch die privaten) durch eine regierungsnahe Großstiftung zentralisiert und die Universitäten weitgehend auf Linie gebracht. Die Medien wurden zu Propagandainstrumenten, die neuen Eliten in klientelistische Bereicherungsnetzwerke des Premiers Orbán eingebunden, stets mit Hilfe von EU-Geldern.
Widerstand dagegen gibt es vor allem in den urbanen Zentren wie Budapest, wo seit 2019 Gergely Karácsony von der Grünen Partei Párbeszéd Oberbürgermeister ist. Bei der Europawahl 2024 konnte die neue Partei TISZA (Tisztelet és Szabadság, Respekt- und Freiheitspartei) von Péter Magyar, einem ehemaligen Orbán-Loyalisten, 30 Prozent gewinnen. Doch zugleich verlor die linksliberale Momentum-Partei – die bisherige zivilgesellschaftliche Hoffnung der Orbán-Gegner – über 6 Prozentpunkte im Vergleich zur Europawahl 2019. Fidesz ging mit 44 Prozent als Sieger aus der Europawahl hervor, was die Grenzen des traditionellen politischen Widerstandes gegen Orbán zeigt.
Proteste hat es kontinuierlich zu verschiedenen Anlässen gegeben: gegen das Mediengesetz und die Entlassung kritischer Journalisten, gegen das neue Grundgesetz, gegen die Hochschulreformen und etlichen Verfassungsnovellen, die Ungarn Zug um Zug in eine Wahlautokratie völkisch-autoritärer Prägung verwandelten. Nur selten hat die Fidesz-Regierung auf die Demonstrationen mit Rücknahme dieser angeblichen Reformen reagiert, wie 2014 im Fall der geplanten Internetsteuer. Nach 2015 stockten die Proteste, als Orbán in der Zuwanderung aus der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) eine Legitimationsquelle erkannte und mit völkischer Angstpropaganda große Teile der Bevölkerung hinter sich versammelte.
Erneute Proteste gab es erst 2017, als der Lehrbetrieb an der Central European University eingestellt werden musste. Ungeachtet dessen gewann Fidesz die Parlamentswahl von 2018 mit einer Zweitdrittelmehrheit. Auch bei den Parlamentswahlen von 2022 kurz nach der russischen Vollinvasion in die Ukraine gewann die Fidesz 52 Prozent der abgegebenen Stimmen. Orbán profitierte vom Krieg, indem er über seine fast vollständige Medienkontrolle Angst verbreitete, die EU werde Ungarn zum Krieg gegen Russland zwingen.
Trotz Drucks vonseiten der EU sowie Kritik internationaler NGOs wird Ungarn immer autokratischer. Im November 2023 hat Fidesz einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der darauf zielt, die ausländische Finanzierung der NGOs und der verbliebenen unabhängigen Medien zu beenden. Eine besondere Perfidie war die Installierung von Fidesz-finanzierten Pseudo-NGOs, mit denen die Orbán-Regierung Kundgebungen zur Unterstützung der Machthaber organisierte und so eine Mimikry-Version der Zivilgesellschaft schuf. Dazu gehören sogenannte Friedensmärsche, organisiert von Orbáns Vertrauten wie Zsolt Bayer von der regierungstreuen Tageszeitung „Magyar Hírlap“. Im Juli 2023 wurde eine Reform des Schulwesens verabschiedet, die „Rachegesetz“ genannt wird, da die Lehrerinnen und Lehrer zu den größten Kritikern des Regimes gehören. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Lehrpersonal entlassen werden kann, wenn es an Protesten gegen die Regierung teilnimmt.
Beispiele für die Guerilla-Demokratie in Ungarn sind Gegendenkmäler,
Wichtig ist darüber hinaus die Unterstützung von außen, denn letzten Endes alimentiert die EU aktuell weiter Orbán-nahe Korruptionsnetzwerke trotz systematischer Verletzungen der europäischen Gesetze und Werte. Es ist an der Zeit, an unkonventionellen Unterstützungsformen für die bedrängten NGOs in Ungarn zu arbeiten – wie zur kommunistischen Zeit, als Dissidentennetzwerke im Ostblock aus dem Ausland finanziell, logistisch und bildungspolitisch unterstützt wurden.
Polen
Polen befindet sich in einer anderen Lage als Ungarn, nachdem die Prozesse der Entdemokratisierung unter der PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit) von Oktober 2015 bis Dezember 2023 zunächst ähnlich verliefen. Die PiS hat die Staatsvereinnahmung (state capture) ebenso systematisch betrieben und ein Veruntreuungs- und Korruptionssystem etabliert, das nach zwei gewonnenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (2019 und 2020) ausgebaut wurde.
Nach der Wahl 2023 und der Regierungsübernahme durch Donald Tusk von der Partei Platforma Obywatelska (Bürgerplattform) stellt sich die Frage, wie die unter der PiS erfolgten Beschädigungen der Demokratie rückgängig gemacht werden können. Bislang sind etwa 60 Personen aus PiS-Kreisen angeklagt und zahlreiche Veruntreuungsfälle publik gemacht worden. Doch für viele Polinnen und Polen verläuft die Aufklärung zu langsam und ist die Abrechnung zu lückenhaft, was in eine baldige Wählerfrustration umschlagen könnte. Daran zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma der Redemokratisierung: Sie erfolgt unter den Bedingungen des Rechtsstaats, der auch die Rechte straffälliger Personen bis zur rechtskräftigen Verurteilung schützt.
Beobachter bezeichnen dies als demokratisches frontsliding (als Antonym zum vorherigen backsliding, welches die Autokratisierungsprozesse unter der PiS-Regierung beschreibt), in Abgrenzung zur Transition von 1989/90, bei der die Postkommunisten die Demokratisierung unterstützt hatten. Die Solidarność-Bewegung der 1980er Jahre formulierte damals das Konzept der „sich selbst beschränkenden Revolution“.
Polen befindet sich gerade in einer heiklen Situation. Die Regierungskoalition scheint wenig stabil, weil die konservative Bauernpartei PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe) eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts blockiert, womit Premier Tusk ein wichtiges Wahlversprechen nicht einlösen kann. Zudem blockiert der noch amtierende Präsident Andrzej Duda, der auf eine relativ stabile PiS-Wählerschaft von etwa 30 Prozent rekurriert, die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit.
Damit stellt sich die Frage, was in diesem Kontext eine Guerilla-Demokratie bedeuten könnte. Sie umfasst demokratische Initiativen, Aktivitäten und Unterfangen, die von den Bürgerinnen und Bürgern selbst ausgehen und nicht direkt Parteien oder quasi-politischen Vereinen zugeschrieben werden können. Ein zentraler Aspekt ist ihre Sichtbarkeit, der Rückzug in soziale Medien mit ihren thematischen Foren und Echokammern ist nicht zuträglich. Dies soll nicht bedeuten, dass digitale Räume an sich problematisch wären; Recherche- und Hacker-Kollektive wie Anonymous oder Bellingcat gehen erfolgreich gegen Desinformation vor. Unter der Tusk-Regierung haben gesellschaftliche Proteste in der Erwartung nachgelassen, dass eine Aufarbeitung der PiS-Verfehlungen zügig erfolgt und die Bürgerrechte rasch wiederhergestellt werden. Diese Top-down-Perspektive ist nachvollziehbar, denn nur Institutionen des Staates können den Machtmissbrauch durch autoritäre Akteure aufarbeiten und die Gewaltenteilung erneuern. Doch das erweist sich jetzt als politische Sisyphosarbeit. Deshalb dürfen gesellschaftliche Akteure nicht in einer Erwartungshaltung verharren – ohne das aktive Engagement der Bürgerinnen und Bürger können auch konsolidierte Demokratien nicht überleben.
Fazit
In etablierten Demokratien herrscht eine trügerische Sicherheit, dass „es“ – der autoritäre Angriff – „hier“ nicht geschehen wird und, wenn doch, nach einer korrigierenden Wahl der Status quo ante wiederhergestellt werden kann. Heute geht es weltweit um nicht weniger als das Überleben freiheitlicher Demokratien. Totalitäre Diktaturen gibt es nur wenige, aber es herrscht vielerorts ein Schwebezustand vor, in dem Grundrechte ausgehöhlt werden und konventionelle Partizipation erschwert wird. Eine „wehrhafte Demokratie“ (Karl Loewenstein) verteidigt sich „von oben“ mit den Mitteln des Staates, etwa mit Parteiverboten, gegen autoritäre Angriffe.
Der Ausgang der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September 2024 zeigt, wie gefährdet auch hierzulande eine Demokratie ist, die sich allein auf den Mehrheitswillen stützt und daraus einen automatischen Regierungsauftrag ableitet. Den beansprucht in Thüringen die AfD, die mittels einer Sperrminorität von über 30 Sitzen auch ohne die Übernahme der Landesregierung einschneidende Möglichkeiten der Obstruktion und Blockierung des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses, der Haushaltsberatungen und der Besetzung des Landtagspräsidiums hat. Beobachter wie jene vom „Thüringen-Projekt“ haben rechtzeitig darauf hingewiesen und auf Schutzmaßnahmen vor allem für das Landesverfassungsgericht gepocht.
Diese Warnungen sind größtenteils verhallt, sodass die AfD mit ihrer Sperrminorität aus der Opposition heraus etwa die Neubesetzung der in der beginnenden Legislaturperiode allesamt frei werdenden Richterstellen beeinflussen oder bis zu einer mittelfristig eintretenden Beschlussunfähigkeit infrage stellen kann. Das Landesverfassungsgericht könnte in seiner Fähigkeit beschädigt werden, undemokratische Manöver in der Landespolitik zu verhindern. Auch bei anderen Neubesitzungen der Justiz, für die eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, geht künftig nichts mehr ohne Zustimmung der AfD. In Sachsen verpasste die AfD die Sperrminorität nur knapp.
Dass die Justiz ein erstes Hauptangriffsziel rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien ist, zeigen die geschilderten Fallbeispiele Polen und Ungarn. Das nächste Ziel dürften Einrichtungen des Staats- und Verfassungsschutzes und der politischen Bildung sein, ebenso Kultureinrichtungen, öffentlich-rechtliche Medien und die universitäre Lehre und Forschung. Alle diese Institutionen sind seitens der AfD bereits massiv angefeindet worden; sie passen nicht in ihr Konzept der Volksdemokratie und werden attackiert und diffamiert.
Die Reaktionen von SPD, Grünen, FDP und Union auf die Landtagswahlen waren ernüchternd. Sie haben die von der AfD und dem linksnationalen BSW propagierte Causa Migrationspolitik auf einmal wiederentdeckt. Die CDU hielt zwar am Ausschluss der deutlich geschwächten Linkspartei als Koalitionspartnerin fest, ließ aber opportunistisch eine Koalitionsoption mit dem BSW durchblicken, wohl wissend, dass in Thüringen eine (knappe) Regierungsmehrheit nur mit beiden Parteien plus der SPD möglich würde. Die Bundes-CDU hatte zudem einen Putin-freundlichen Wahlkampf zugelassen, in dem ostdeutsche CDU-Politiker die AfD und das BSW bei der Anbiederung an den Kreml zu überbieten versuchten – etwa bei der Frage, wer schneller Gaslieferungen aus Russland wiederaufnehmen möchte. Diese Entwicklungen verweisen auf die Notwendigkeit der Guerilla-Demokratie, in der außerparlamentarische Kräfte Widerstand mobilisieren und die bedrohten Institutionen schützen.
ist Ludwig-Börne-Professor und Leiter des "Panel on Planetary Thinking" an der Universität Gießen. Neben Schwerpunkten in den Bereichen Klimawandel, Globalisierung und Erinnerungskulturen erforscht er Prozesse der Demokratisierung und Autokratisierung.
ist Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Seine Arbeitsgebiete sind Demokratietheorie, demokratische Bürgerschaft und Nationalismus.
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