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Gesellschaftsdienst für alle | Demokratie jenseits von Wahlen | bpb.de

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Gesellschaftsdienst für alle Ein Garant für mehr Zusammenhalt?

Rabea Haß Grzegorz Nocko

/ 14 Minuten zu lesen

Von den Ursprüngen im Zivildienst über Freiwilligen-Modelle bis hin zu Debatten um den Gesellschaftsdienst wird die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt skizziert.

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland sorgt sich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland die Corona-Pandemie als spaltend empfunden haben. Die Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“ bestätigt eine Tendenz der Polarisierung unter jungen Menschen. 22 Prozent der 14- bis 29-Jährigen gaben in der repräsentativen Umfrage an, sie würden die AfD wählen, wenn jetzt Bundestagswahl wäre. Ein vergleichbarer Rechtsruck im Wahlverhalten lässt sich bei allen Generationen in Deutschland und auch Europa beobachten.

Weitere Bedrohungen wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Eskalation im Nahen Osten, der globale Klimawandel und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich schüren Angst und Unsicherheit. Diese und ähnliche Herausforderungen, gepaart mit der zunehmenden Individualisierung und der Auflösung sozialer Bindungen, stellen den Zusammenhalt auf eine harte Probe. Vor diesem Hintergrund wurde die Debatte um einen Gesellschaftsdienst von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Juni 2022 erneut angestoßen und seither aus unterschiedlichen politischen Lagern aufgegriffen.

Sie dreht sich bisher zum großen Teil um die Frage, ob ein neuer Gesellschaftsdienst verpflichtend oder freiwillig sein sollte und vernachlässigt die entscheidenden Fragen nach dem Zweck eines Dienstes sowie dessen Umsetzbarkeit. Diskutiert werden unterschiedliche Modelle: von einer sozialen Pflichtzeit für alle, über ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für Jugendliche bis hin zu einem Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst. Gemeinsam ist all diesen Vorschlägen die Annahme, dass ein Gesellschaftsdienst den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbessern, die gemeinsamen Werte unseres demokratischen Zusammenlebens untermauern sowie die Resilienz unserer Gesellschaft stärken würde.

Grundlagen für ein demokratisches Zusammenleben

Eine Demokratie lebt von der Verantwortung jedes Einzelnen. Sie ist darauf angewiesen, dass Bürgerinnen und Bürger im öffentlichen Interesse handeln, auch wenn dies erkennbare individuelle Kosten und oft keinen klaren oder unmittelbaren persönlichen Nutzen mit sich bringt. Die folgenden Voraussetzungen tragen dazu bei: Identifikation mit dem Staat und Vertrauen in seine Institutionen; Gemeinschaftssinn und soziale Bindungen als Gefühl der Zugehörigkeit zu einem lebendigen und gut funktionierenden Gemeinwesen; eine gemeinsame Wertebasis, die auf dem Bekenntnis zu Menschenwürde, Pluralismus, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit fußt; Solidarität unter den Bürgerinnen und Bürgern sowie Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen; die Erfahrung von Selbstwirksamkeit sowie die Möglichkeit zur Partizipation; das Gefühl der Sicherheit und Stabilität und ein Grundwissen über demokratische Prozesse sowie ein Verständnis für gesellschaftliche und politische Zusammenhänge.

Kann ein Gesellschaftsdienst diese Grundlagen fördern und zur Stärkung unseres demokratischen Zusammenlebens beitragen? Je nach tagespolitischer Herausforderung wandelten sich die Erwartungen an einen solchen Dienst beinahe beliebig. Auch heute sind die Erwartungen an einen Gesellschaftsdienst hoch. Sie basieren auf wohlmeinenden Annahmen: Jede und jeder Dienstleistende würde langfristig engagiert bleiben; der Dienst wäre eine lebensprägende Erfahrung, würde Miteinander und Solidarität stärken, soziale Blasen überwinden und gesellschaftliche Konflikte mildern, wenn nicht sogar lösen. Es fehlt jedoch häufig an soliden Daten zur Bewertung der Wirksamkeit eines solchen Dienstes. Auch dürfte die konkrete Ausgestaltung einen großen Einfluss auf die tatsächliche Wirkung haben – beispielsweise darauf wie gerecht oder sinnstiftend ein Dienst wahrgenommen wird.

Vom Wehr- und Zivildienst zum Gesellschaftsdienst

Seit 1956 gilt in der Bundesrepublik die Wehrpflicht für junge Männer. Als Parlamentsarmee verfasst, soll die Bundeswehr das Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“ untermauern. Die Wehrpflicht galt in Zeiten des Kalten Krieges als wichtiger Baustein für die Landesverteidigung. So wäre im Ernstfall den Reservisten eine tragende Rolle zugefallen. Sinn und Zweck sind im Wehrpflichtgesetz klar geregelt: Die Ausbildung der Grundwehrdienstleistenden ist Grundlage für ihren Einsatz im Verteidigungsfall. Klar umrissene Hilfeleistungen im In- und Ausland sind in Artikel 5 und 6 des Gesetzes benannt. Der Zivildienst bot eine Alternative für junge Männer, die aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigerten. Er stellte eine maßgebliche Unterstützung für soziale Einrichtungen bereit und leistete einen wichtigen Beitrag zum sozialen Gefüge. Die Zivildienstleistenden arbeiteten etwa in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Behinderteneinrichtungen. Für Frauen bestand seit 1964 die Möglichkeit, sich über einen Freiwilligendienst einzubringen.

2011 wurde die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt, was gleichzeitig das Ende des Zivildienstes bedeutete. Dieser Schritt war das Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Veränderungen und nicht zuletzt eine Sparmaßnahme in Zeiten der Euro- und Finanzkrise. So war der eigentliche Zweck – die Landesverteidigung – in der damaligen Wahrnehmung ein unvorstellbares Szenario; die Wehrgerechtigkeit war nicht mehr gegeben, weil immer mehr Männer ausgemustert wurden, und der Fokus lag darauf, junge Leute möglichst schnell in Ausbildung und Beruf zu bringen.

Zwar sorgten sich einige vor einer Versorgungslücke in den Einsatzbereichen des Zivildienstes, jedoch gab es kaum öffentliche Diskussionen über die Pflichtdienste als Sozialisationsinstanz oder ihren Stellenwert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Freiwilligendienste, die sich als Alternative – ursprünglich vor allem für Frauen – zum Pflichtsystem entwickelt hatten, wurden zu diesem Zeitpunkt gestärkt. Der Zivildienst wurde teilweise durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt, die Bundeswehr führte einen Freiwilligen Wehrdienst ein. Beide Formate stehen Männern als auch Frauen offen. Im europäischen Vergleich hat kein anderes Land eine so ausdifferenzierte und traditionsreiche Struktur für Freiwilligendienste wie Deutschland.

Ehrenamtliches Engagement gilt als Motor der Demokratie. In Deutschland engagieren sich knapp 29 Millionen Menschen, das sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren. Individuen entscheiden sich freiwillig, ihre Zeit, Kompetenzen und Ressourcen kurz-, mittel- oder langfristig unentgeltlich für das Gemeinwohl einzusetzen. Freiwilligendienste stellen eine besondere Form des Engagements dar.

Während zivilgesellschaftliches Engagement spontan und relativ unreguliert stattfindet, zeichnen sich Freiwilligendienste durch spezifische Merkmale aus: Sie sind als Bildungs- und Orientierungszeit mit Anspruch auf Qualifizierung, pädagogische Begleitung und fachliche Anleitung ausgestaltet, operieren innerhalb eines gesetzlich geregelten Rahmens, haben einen definierten Zeitraum und ein klares Tätigkeitsprofil, das arbeitsmarktneutrale Hilfstätigkeiten mit einem Mehrwert für die Gemeinschaft umfasst. Analog zum Wehrdienst sollte sich ein Gesellschaftsdienst an einer übergeordneten Zielsetzung orientieren und klar benennen, welchen Beitrag er für das Gemeinwohl leistet.

Status quo

Derzeit leisten knapp 100.000 Menschen pro Jahr eine Freiwilligendienst im Zivilen (rund 90.000) oder bei der Bundeswehr (rund 10.000). Etwa 90.000 sind junge Erwachsene zwischen 16 und 27 Jahren. Allerdings stellen sie keinen Querschnitt der Gesellschaft dar. So sind in den zivilen Freiwilligendiensten mehr Frauen (60 Prozent) als Männer (40 Prozent) vertreten. Die Jugendlichen sind besser ausgebildet als der gleichaltrige Durchschnitt. Bei der Bundeswehr entsprechen die Freiwilligen zwar in etwa dem Bildungsdurchschnitt, dafür sind aber 82 Prozent männlich.

Grundsätzlich wäre die Bereitschaft, einen solchen Dienst zu leisten, bei jungen Menschen deutlich höher. Doch es scheitert oft schon am Wissen über diese Möglichkeiten. Zudem schrecken besonders in den zivilen Diensten das niedrige Taschengeld, das kaum ein eigenständiges Leben ermöglicht, sowie fehlenden Qualifikationsnachweise insbesondere Menschen mit niedrigem Bildungsgrad ab. Denn es gibt kaum Möglichkeiten, das Erlernte im Anschluss, etwa für eine Lehrzeitverkürzung oder ähnliche ausbildungsbezogene Vorteile, zu nutzen.

Die Dienste werden von den jungen Menschen vorwiegend als (berufliche) Orientierung und sinnvoll empfundene Überbrückung, beispielsweise zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, genutzt. Als Lerndienst ausgestaltet, beinhalten alle Formate auch verpflichtende Bausteine zur politischen Bildung. Meist erfolgt der Dienst in Vollzeit und dauert zwischen 6 und 23 Monaten. Die individuelle Weiterentwicklung nimmt einen großen Stellenwert ein und wird unter den Motiven für einen Dienst höher gewichtet als das Anliegen, etwas für andere zu tun.

Erfolgskriterien

Damit ein Gesellschaftsdienst den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, muss er von den Bürgerinnen und Bürgern als sinnvoll und gerecht wahrgenommen werden. Die folgenden Kriterien sind dabei in Betracht zu ziehen: Um gerecht im Sinne einer fairen Lastenverteilung zu sein, sollten alle Mitglieder der Gesellschaft – abhängig von den Voraussetzungen und Möglichkeiten – zur Erfüllung eines Dienstes beitragen. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass alle (verpflichtend) einen Dienst ableisten, sondern beispielsweise durch höhere Steuern zu einem fairen Vergütungssystem beitragen oder Ausgleiche für Dienstleistende, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt, als gerecht akzeptieren. Insgesamt sollte der Dienst als Teil der staatsbürgerlichen Pflichten akzeptiert sowie als Bereicherung für das eigene Leben sowie das Gemeinwohl verstanden werden.

Um gerecht im Sinne von gerechtfertigt zu sein, müssen die Aufgaben im Rahmen des Dienstes einen klar erkennbaren Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft leisten. Die Tätigkeiten stehen im Einklang mit den gemeinsamen Werten der Gesellschaft. Die Ziele und Nutzen des Dienstes sind dabei transparent und nachvollziehbar kommuniziert.

Und um gerecht in Bezug auf die individuelle Belastung zu sein, darf der Dienst keine unnötigen Belastungen schaffen und nicht übermäßig in die Lebensplanung eingreifen, beispielsweise durch Wahlfreiheit mit Blick auf Zeitpunkt und Ort des Einsatzes.

Darüber hinaus sollten die Dienstmodelle dazu beitragen, sowohl die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger untereinander als auch die Verbindung zwischen Individuen und dem Staat zu fördern. Die folgenden drei Ansätze können hierbei unterstützend wirken. Erstens: Menschen aus unterschiedlichen Milieus begegnen sich, was in anderen Kontexten so nicht gelingt. Zweitens lassen sich Ungleichheiten reduzieren: Indem Männer vermehrt in Berufe mit traditionell weiblicher Prägung (etwa in der Pflege) eingebunden werden, gewinnen sie ein besseres Verständnis und eine höhere Wertschätzung für diese Berufsfelder. Drittens wird die institutionelle Öffnung gefördert: Tendenziell geschlossene Organisationen wie das Militär werden geöffnet, indem Bürgerinnen und Bürger Teil von ihnen werden und sich ihre Lebenswelten verzahnen („Staatsbürger in Uniform“). Daraus lassen sich wesentliche Aspekte für die praktische Umsetzung und die Entwicklung eines neuen Gesellschaftsdienstes für alle ableiten.

Sinnstiftung und Bedarfsorientierung

Schon heute bieten zivile und militärische Freiwilligendienste ein breites Spektrum an sinnstiftenden Tätigkeiten an. Diese umfassen Einsatzstellen in Bereichen wie Kultur, Sport, Umweltschutz, Altenhilfe, Heimat- und Katastrophenschutz und dienen gemäß den gesetzlichen Regelungen dem Gemeinwohl. Sie sind arbeitsmarktneutral gestaltet: Freiwillige dürfen keine hauptamtlichen Arbeitskräfte ersetzen. Ein Großteil der unterstützenden Aufgaben erfordert jedoch eine intensive Einarbeitung und ein umfassendes Grundwissen, weshalb kurze Dienstzeiten oder wenige Wochenstunden nicht praktikabel sind. Unter idealen finanziellen Rahmenbedingungen könnten die Träger bis 2030 ihr Angebot verdoppeln, aber die heutigen Strukturen würden nur begrenzt mehr Dienstleistende verkraften.

Angesichts des großen Bedarfs, insbesondere im Zivil- und Katastrophenschutz sowie in den Kommunen, ist es notwendig, das Portfolio an Tätigkeiten grundlegend zu erweitern und neu zu denken. Es sollten Unterstützungsleistungen definiert werden, die mit wenig Vorkenntnissen und für kurze Zeiträume übernommen werden können. Verlässliche Strukturen und klare Ansprechpersonen sind entscheidend, um solche Hilfsleistungen effektiv zu koordinieren. Ein Katalog an zeitlich intensiven, aber anlassbezogenen Tätigkeiten könnte ebenfalls entwickelt werden.

Projekte wie die Mobile Helfer-Initiative des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe oder die „Saving Life“-App in Schleswig-Holstein, bei denen sich Interessierte registrieren und qualifizieren können, zeigen bereits erfolgreiche Modelle. Sie zeigen, wie Bürgerinnen und Bürger mit wenig bis keiner Vorqualifizierung in Notlagen helfen können. Erfolgt eine Erstqualifizierung, stärkt diese zugleich die Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung in Krisen und Katastrophen, wie es auch der Deutsche Städtetag fordert.

Denkt man die Ausgestaltung des Dienstes anhand konkreter Bedarfe weiter, zeigt sich, dass es einige Tätigkeitsprofile gibt, die eher einen punktuellen Einsatz oder stundenweise Aufgaben über mehrere Jahre fordern. Daher gilt es, das heutige System der Freiwilligendienste zu ergänzen und auch solche Einsatzbereiche zu erschließen, die nicht in Vollzeit über 6 bis 12 Monate konzipiert sind. Flexible Modelle mit Teilzeitansätzen oder Lebenszeitkonten würden zudem eine breitere Zielgruppe ansprechen, da sich der Dienst auch mit einem Studium, Integrationskurs oder einer Altersteilzeit im Beruf verbinden ließe.

Denn im Sinne der wechselseitigen Identifikation und Toleranz unter Bürgerinnen und Bürger wäre ein generationenübergreifendes Modell gewinnbringender für das demokratische Zusammenleben als ein Dienst mit dem Fokus auf eine bestimmte Alterskohorte. Im ersten Schritt könnte ein Gesellschaftsdienst hier in Übergangsphasen ansetzen. Das können selbstgewählte Auszeiten sein, ebenso Brüche im Leben wie sie durch Arbeitslosigkeit, das Ende oder den Abbruch einer Ausbildung oder eines Studiums entstehen können. Einsatzoptionen sollten klar kategorisiert werden, um unter anderem den benötigten Zeitumfang, die erforderliche Expertise und die Eignung für Minderjährige abzudecken.

Das Konzept des lebenslangen Lernens spielt eine entscheidende Rolle bei Zivil- und Freiwilligendiensten. Dabei findet das Lernen durch pädagogische Begleitung, wie Supervision und Mentoring, am Arbeitsplatz bei der Erfüllung der Aufgabe selbst, durch soziale Interaktion in einem neuen Umfeld sowie in Trainings und Workshops und durch Selbststudium und Reflexion statt, sprich im Rahmen der (fachlichen) Vor- und Nachbereitung auf die Aufgabe.

Obwohl der Bildungsaspekt im Dienst bedeutend ist, sollte er die Hauptaufgabe nicht überlagern. Dies lässt sich verdeutlichen, indem man den Wehrdienst als Vergleich heranzieht, bei dem die Qualifizierung eine Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgabe ist und nicht das alleinige Ziel. Hier besteht ein konzeptioneller Unterschied zu den Freiwilligendiensten.

Eine Differenzerfahrung, also die Begegnung und Auseinandersetzung mit Personen unterschiedlicher Milieus und Generationen, findet nachweislich in der praktischen Tätigkeit selbst statt. Diese Selbstwirksamkeitserfahrung ist wiederrum prägend für die Entwicklung sozialer Verantwortung und gesellschaftlichen Engagements.

Auch ein Reservisten-Konzept – also eine langfristige Möglichkeit, die erworbenen Kompetenzen einzusetzen – ist in den aktuellen Freiwilligendiensten nicht vorhanden. Es würde jedoch die soziale Verantwortung und das Gefühl der Selbstwirksamkeit verbessern. Vor diesem Hintergrund ist es für den Erfolg künftiger Gesellschaftsdienste im Sinne gesellschaftlicher Wirkung für alle von hoher Relevanz, das im Dienst erworbene Wissen nachhaltig zu verankern; beispielsweise dadurch, dass man immer wieder (freiwillig) in Notlagen oder bei besonderem Bedarf die erworbenen Kompetenzen einsetzen und/oder diese im Rahmen von regelmäßigen Online-Angeboten auffrischen und ausbauen kann.

Weiterentwicklung als Daueraufgabe

So wie in Schweden beim Zivil- und Wehrdienst jährlich genau die Stellen besetzt werden, die in den Organisationen einen Mehrwert schaffen, sollten in Deutschland für einen Gesellschaftsdienst kontinuierlich Stellenprofile definiert werden, die bestimmten Kriterien entsprechen und dem Gemeinwohl dienen. Dies würde den Kern des Dienstes langfristig stärken. Aufgabenfelder und Anforderungen an Dienstmodelle können sich mit der Zeit ändern. Beides gilt es kontinuierlich abzugleichen.

So kann zeitweise in einer Kommune ein hoher Bedarf an Digitalisierungslotsen bestehen, während eine andere Region für Klimaanpassungsmaßnahmen helfende Hände braucht. Es gilt, kontinuierlich auszuhandeln, wo die Grenze zur Arbeitsmarktneutralität verläuft. Ein Beispiel ist der bevorstehende Personalengpass im öffentlichen Dienst, wenn in den kommenden zehn Jahren etwa ein Viertel der Beschäftigten in Rente geht. Wäre das eine „außergewöhnliche Situation“ oder gar „Notlage“, um die Grenze der Arbeitsmarktneutralität – zumindest zeitweise – zu verschieben?

Es gilt, immer wieder zu überprüfen, ob der Dienst die selbstgesteckten Ziele erreicht. Führt der Dienst zu einem größeren Zusammenhalt in der Gesellschaft? Oder spaltet er gar weiter, weil Dienstleistende unterschiedlich stark von ihrem Einsatz profitieren oder belastet werden? Werden Zielgruppen in einem Freiwilligenmodell systematisch benachteiligt? Faktenbasierte Entscheidungen müssen hier das Mittel der Wahl sein und setzen eine kontinuierlich und qualitativ hochwertige Evaluation von Beginn an voraus.

Zeitgemäße Umsetzung

Die konkrete Ausgestaltung des Dienstes von der Bewerbung über die Qualifizierung bis hin zum Matching mit einer passenden Einsatzstelle sollte die Bürgerinnen und Bürger begeistern und auf schlanke, stark automatisierte Verfahren aufbauen. Der Prozess sollte konsequent digital ablaufen, sodass Interessierten nach Eingabe von Eckdaten wie Interessen, Verfügbarkeit und eventuellen Vorkenntnissen sofort passende Einsatzoptionen vorgeschlagen werden können. Die Einsatzoptionen sollten dabei klar kategorisiert werden, um den benötigten Zeitumfang, die erforderliche Expertise für die Einarbeitung sowie die Eignung für bestimmte Zielgruppen (etwa Minderjährige oder Mehrsprachige) abzudecken.

Um eine regelmäßige Auseinandersetzung mit der Frage, was man für die Gesellschaft leisten kann oder will, zu fördern, sollten bestehende Interaktionen mit dem Staat genutzt werden. Dies könnte durch öffentliche Kampagnen oder bei der Ummeldung des Wohnsitzes und Beantragung eines neuen Passes geschehen. Ziel ist es, Menschen zu ermutigen, sich als potenzielle Helfende zu registrieren.

Eine zentrale Matching-Agentur könnte also die Lösung sein. Sie soll unter einem gemeinsamen Dach die Daten und Kategorien aller Einsatzstellen und Träger bündeln, während sie gleichzeitig die Vielfalt der heutigen Landschaft erhalten und um flexible Optionen erweitern würde. Ob diese Aufgabe von einer staatlichen oder privatwirtschaftlichen Dienstleistung übernommen wird, bleibt auszuhandeln. Heute gibt es – aus der Historie der Freiwilligendienste gewachsen – zahlreiche unterschiedliche Informationsplattformen, was die Orientierung erschwert und viele Ressourcen im Betrieb erfordert. Eine Dachmarke, unter der sich alle Angebote wiederfinden, wäre ein zentraler Baustein für mehr Sichtbarkeit und Wertschätzung.

Ausblick

Ein Gesellschaftsdienst für alle stößt in der deutschen Bevölkerung auf große Resonanz. In einer aktuellen Umfrage sprechen sich knapp drei Viertel der Deutschen für einen Pflichtdienst aus. Aufbauend auf der Bestandslandschaft der Freiwilligendienste ließe sich schrittweise ein Dienst für alle etablieren, der um flexible Modelle, neue Tätigkeitsbereiche sowie eine starke Dachmarke ergänzt werden könnte. Damit ein solcher Dienst den hohen Erwartungen – insbesondere zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – gerecht würde, bedarf es einer zeitgemäßen Umsetzung und Fingerspitzengefühl. Die Verhältnismäßigkeit ist zentral: Was wollen und können wir kurz- und langfristig mit einem Gesellschaftsdienst erreichen und was ist dafür für den aktuellen Zeitpunkt das beste Mittel beziehungsweise Modell? Diese Fragen nachvollziehbar zu klären, ist Voraussetzung für eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung und Grundlage für eine positive Wirkung in Hinblick auf unser demokratisches Zusammenleben.

Vom Ziel abgeleitet kann die Frage nach der Pflicht beziehungsweise Freiwilligkeit entschieden werden – am Bedarf orientiert anstatt dogmatisch aufgeladen und in dem Bewusstsein, dass es um Nuancen der Ausgestaltung und nicht um starre Positionen geht. Abhängig von den Umsetzungsperspektiven können grundsätzliche Pflichtelemente wie eine Informations- oder Rückmeldepflicht sinnvoll sein. Auch die Überlegungen zu einer gerechten Ausgestaltung eines Gesellschaftsdienstes – wie beispielsweise dessen Auswirkung auf die Rente – sind zentral. Vergessen sollte man nicht, dass die Grundsatzfrage nach Pflicht beziehungsweise Freiwilligkeit vor allem eine politische Entscheidung darstellt und erst nach der Klärung der Ziele und des Zwecks sinnvoll ist. Der Politikwissenschaftler Sven Altenburger argumentiert, dass der Gesellschaftsdienst in der Langzeitperspektive als eine Reinvestition in die Gemeinschaft und den öffentlichen Sektor betrachtet werden sollte. Diese Investition „könnte als Schlüsselelement in einem moralischen und institutionellen Balanceakt zwischen Individuum und Gemeinschaft, Markt und Staat dienen. Angesichts der erheblichen Unsicherheiten, die derzeit über der Zukunft internationaler Konflikte, der öffentlichen Gesundheit und des sozialen Zusammenhalts liberal-demokratischer Gesellschaften schweben, stellt die Stärkung staatlicher Kapazitäten und die Förderung öffentlicher Güter einen entscheidenden Handlungsweg dar.“

Bei der Umsetzung und Konkretisierung lohnt es sich schließlich immer wieder, nach Europa zu schauen. Von unseren Nachbarn zu lernen, Erfahrungen auszutauschen und auf erprobte Modelle anderer Länder zurückzugreifen. Denn dies wäre ein weiterer Garant für eine gelungene Umsetzung. Mehr Mut zu Europa bei der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ohnehin dringend geboten – das gilt auch für einen Gesellschaftsdienst.

hat am Institut für Soziologie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zum Freiwilligen Wehrdienst promoviert. Zudem hat sie von 2011 bis 2014 an der Hertie School in Berlin zu nationalen und internationalen Freiwilligendiensten geforscht.

promovierte an der TU Berlin im Bereich der Bildungswissenschaft mit dem Schwerpunkt europabezogene politische Bildung. Seit fast 20 Jahren ist er im Stiftungswesen tätig und blickt auf eine langjährige Tätigkeit als Trainer in der politischen Bildung zurück.