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Bürgerräte in Theorie und Praxis | Demokratie jenseits von Wahlen | bpb.de

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Bürgerräte in Theorie und Praxis

Daniel Oppold

/ 13 Minuten zu lesen

Bürgerräte sind en vogue, aber nicht immer wird richtig verstanden, wie sie funktionieren. Weder sind sie Konkurrenzveranstaltungen zur repräsentativen Demokratie, noch Allheilmittel gegen deren Krisen. Ihre Stärken liegen auf anderem Gebiet.

Bürgerräte sind per Los zusammengesetzte Gremien, die Empfehlungen zum Umgang mit einem Thema erarbeiten. Beauftragt werden sie in der Regel von einem gewählten Organ oder einer Behörde. Dieser Auftraggeber nimmt die Empfehlungen des Bürgerrates entgegen und lässt sie in die politische Entscheidungsfindung einfließen. Diese Minimalbeschreibung umfasst bereits die wichtigsten Merkmale von Bürgerräten: die Rekrutierung der Teilnehmenden per Zufallsauswahl, den verständigungsorientierten Modus der Zusammenarbeit innerhalb des Gremiums sowie dessen beratende Funktion für die repräsentative Demokratie, die durch ein geeignetes Prozessdesign umgesetzt wird.

Bürgerräte haben in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt. Mittlerweile sind Anwendungsfälle in fast allen modernen Demokratien und darüber hinaus dokumentiert. Zu den meistbeachteten Leuchtturm-Prozessen zählen die Citizens’ Assemblies in Irland, die Convention Citoyenne pour le Climat in Frankreich oder die Bürgerräte nach dem „Vorarlberger Modell“ in Österreich. Sogar im internationalen Raum wurde das Prinzip als Global Assembly im Kontext der 26. UN-Klimakonferenz 2020/21 mit Menschen aus allen Teilen der Welt erprobt – wenngleich ohne Auftrag eines weltpolitischen Gremiums. Die große Mehrheit der weltweiten Anwendungen findet allerdings auf der kommunalen Ebene statt.

In Deutschland haben Bürgerräte bereits auf allen politischen Ebenen getagt, und auch in der breiten Bevölkerung wird ihr Einsatz befürwortet. Zuletzt hat der vom Bundestag beauftragte „Ernährungs-Bürgerrat“ viel Aufmerksamkeit erzeugt und etwa die Debatten über einen „Tierwohlcent“ sowie kostenloses Mittagessen in Schulen befeuert. Unbestrittener Vorreiter in Deutschland ist das Land Baden-Württemberg, wo die dort als „Bürgerforen“ betitelten Bürgerräte bereits seit 2011 genutzt werden. Als Kernbestandteil der von Ministerpräsident Winfried Kretschmann ausgerufenen „Politik des Gehörtwerdens“ wird diese Form der Bürgerbeteiligung gezielt ausgebaut und durch eine eigene Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung betreut. 2021 wurde in Baden-Württemberg mit dem Gesetz über die dialogische Bürgerbeteiligung eine rechtliche Grundlage für Bürgerforen geschaffen. Und seit Kurzem unterstützt eine neue Servicestelle Kommunen, Behörden und staatlich beherrschte Unternehmen bei der Umsetzung solcher Prozesse.

Handlungsspielräume von Bürgerräten

Im politischen und medialen Diskurs über Bürgerräte sind immer wieder Missverständnisse zu beobachten. Ein erstes wurzelt in der Unklarheit des Begriffs der Bürgerbeteiligung. Wenn von ihr die Rede ist, denken die meisten Menschen intuitiv an Wahlen oder direktdemokratische Abstimmungen. Jenseits dessen gibt es aber viele weitere Möglichkeiten, sich in den politischen Prozess einzubringen. Unter einen breit verstandenen Begriff der „Bürgerbeteiligung“ fallen etwa Demonstrationen, Petitionen, Bürgerbegehren oder das Engagement in einer Bürgerinitiative genauso wie Anhörungen im Rahmen des Planungsrechts, Informationsveranstaltungen, Bürgerhaushalte, Zukunftswerkstätten oder auch Bürgerräte.

Etabliert hat es sich deshalb, von „dialogischer Bürgerbeteiligung“ zu sprechen, wenn Bürgerräte und verwandte Verfahren gemeint sind. Sie eint der Zweck, „Bedürfnisse, die innerhalb der Bevölkerung für ein konkretes Thema oder Vorhaben bestehen, zu erkunden“. Als informelle Prozesse sollen sie ergebnisoffene Dialoge zwischen Bürgerschaft und der Politik ermöglichen, um die Kernproblematik eines Konfliktes auszuleuchten. Ziel dialogischer Beteiligung ist es, das Erfahrungswissen der Bürgerschaft für die Abwägung politischer Fragen zugänglich zu machen. Bürgerräte als spezielle Spielart dialogischer Beteiligung sind darauf ausgelegt, gemeinwohlorientierte Empfehlungen zu erarbeiten, statt nur persönliche Anliegen zu vertreten.

Eine weitere Quelle für Missverständnisse ist der Bürgerratsbegriff selbst. Die Varianz seiner Gestaltung ist groß: Auf Bundesebene abgehaltene Bürgerräte dauern etwa oft mehrere Monate. Innerhalb dieser Zeit treffen sich die Teilnehmenden (durchschnittlich 160 Personen) immer wieder, um Experten, Betroffene oder Interessenvertreter anzuhören und basierend darauf Empfehlungen zu erarbeiten. Im Falle des „Vorarlberger Modells“ dagegen nehmen nur 12 bis 15 Personen teil, die in anderthalb Tagen ihre Empfehlungen erarbeiten. Mittlerweile haben sich unterschiedliche Modelle entwickelt, die sich durch eine eigenständige Bezeichnungen voneinander abgrenzen. Und manchmal nennt sich etwas „Bürgerrat", das die oben definierten Grundsätze gar nicht erfüllt.

Ein weiteres Missverständnis hat mit den Zielen und Zwecken von Bürgerräten zu tun. Ein Bürgerrat zielt nicht darauf ab, Gemeinderäte oder Parlamente zu ersetzen. Im Gegenteil: Alleiniger Zweck der allermeisten Modelle ist die Erarbeitung von Empfehlungen zur Unterstützung der repräsentativen Demokratie. Dennoch sind etwa Gemeinderäte vielerorts skeptisch und befürchten einen Machtverlust oder Konkurrenz durch Bürgerräte. Diese Missverständnisse fußen auf den genannten begrifflichen Abgrenzungsschwierigkeiten. Dabei wird übersehen, dass ein Bürgerrat überhaupt nur durch die Beauftragung aus einem gewählten Gremium heraus wirksam werden kann. Dieser Auftrag und das damit verbundene Bekenntnis zum anschließenden Umgang mit den Empfehlungen des Rates sind die Grundlage des Gesamtprozesses, in den Bürgerräte eingebettet sein müssen. Fehlt die Beauftragung, hat ein Zufallsgremium keinen Anspruch darauf, dass seine Ergebnisse politisch beachtet werden. Es bleibt den Initiatoren solcher Prozesse dann oft nur, den Ergebnissen mit einer geeigneten Kampagne Gewicht zu verleihen. Hierbei wird dann häufig argumentiert, dass man das Zufallsgremium und seine Empfehlungen anhören müsse, weil seine Zusammensetzung per Los bereits eine unabhängige Legitimationsgrundlage sei. Diese Argumentation verfängt aber nur selten. Meist laufen diese Prozesse stattdessen Gefahr, ignoriert zu werden, was bei den Beteiligten wiederum Frust auslöst und das Misstrauen gegenüber Bürgerräten in der Politik steigert.

Zu den Missverständnissen rund um Bürgerräte gehört auch ihre Überhöhung als „Gegenmittel“ für die multiplen Krisen der Demokratie. Erwünschte Nebenwirkungen der Räte, wie die Steigerung der Zufriedenheit mit der Demokratie und ihren gewählten Hauptakteuren, dürfen jedoch nicht mit den primären Zielen eines Bürgerrates verwechselt werden. In der Tat treten diese Nebenwirkungen allenfalls dann ein, wenn Bürgerräte zweckgemäß eingesetzt werden und sich deswegen inhaltlich auf politische Diskurse auswirken. Ähnliche Missverständnisse werden auch durch radikale Verfechter des Zufallsprinzips befeuert, die der Meinung sind, dass Bürgerräte mehr Legitimation als konsultative Gremien besäßen. Ein Losgremium ist allerdings nicht geeignet, um verbindliche Entscheidungen zu treffen – zumindest solange nicht, wie die politische Entscheidungsfindung den Prinzipien freiheitlich demokratischer Rechtsstaaten genügen soll. Zentral ist hier die Verantwortungslücke: Eine Rückkopplung zur tatsächlichen Verteilung der politischen Ansichten in der Bevölkerung wäre nicht gegeben, wenn nur das Los über die Zusammensetzung eines Entscheidungsgremiums entscheiden sollte, da das Los Individuen auswählt, nicht aber Fürsprecher oder Repräsentanten. Zentrale Kontrollmechanismen der Gewaltenteilung wären somit außer Kraft gesetzt. Dialogische Bürgerbeteiligungsprozesse sind durchaus in der Lage, Schwachstellen und blinde Flecken der repräsentativen oder direkten Demokratie auszugleichen. Ersetzen können sie deren immanente Stärken und Funktionalitäten jedoch nicht.

Zufallsauswahl

Gleichwohl ist das Prinzip der Zufallsauswahl ein Alleinstellungsmerkmal von Bürgerräten: Die Rekrutierung der Teilnehmenden per Los soll eine besondere Legitimationsgrundlage für die beabsichtigten Funktionen und Wirkungen ebenjener schaffen. Dabei ist es keineswegs eine neue Idee, den Zufall in demokratischen Prozessen zu nutzen. In der Tat ist das Losprinzip ur-demokratisch und wurde bereits in der Polis des Stadtstaats Athen im antiken Griechenland genutzt. Damals wurden die Richter der Volksgerichte und die Mitglieder der Bule, die in ihren Kompetenzen mit heutigen Parlamenten vergleichbar ist, zeitweise per Los besetzt. Obwohl damals für die Losauswahl nur Männer mit Bürgerrechten in Frage kamen und somit nur eine kleine, homogene Elite überhaupt ausgelost werden konnte, ist das demokratische Potenzial des Losens groß: Es garantiert Chancengleichheit. In der Theorie kann das Los sicherstellen, dass eine möglichst vielfältige Gruppe von Personen zusammengestellt wird.

Während in gewählten Gremien meist mehrheitlich ältere Männer mit höherem Bildungsabschluss sitzen, haben in Zufallsgremien prinzipiell alle dieselben Chancen auf eine Teilnahme. Auch im Vergleich mit selbstrekrutierten Gruppen, wie sie etwa bei offenen Beteiligungsprozessen oft zu beobachten sind, haben Zufallsgremien diesen Vorteil, denn sie vermeiden die Verkürzung auf Partikularinteressen. Das Los verspricht somit, beide Logiken – die der ungleichen Repräsentation wie auch die der Selbstrekrutierung – durchbrechen zu können. Die Mitglieder eines Zufallsgremiums sollen sich nicht als Fürsprecher oder Vertreter einer Position oder Interessengruppe verstehen, sondern als Individuen. Parteipolitische Präferenzen, Weltanschauungen oder Identitätspolitik stehen deshalb im Hintergrund. Stattdessen wird der Blick auf die zu diskutierende Sache frei.

Das Los kann auf diese Weise Offenheit für einen konstruktiven Austausch und eine gemeinwohlorientierte Abwägung von Argumenten rund um ein Thema schaffen. Um die beabsichtigte deliberative Gesprächsqualität sicherzustellen, hilft das Zufallslos ebenso. Die fehlende Versteifung auf eine Sichtweise ermöglicht es, die Kraft des besseren Argumentes anzuerkennen und die eigene Perspektive zu erweitern.

In der Praxis gestaltet sich die Nutzung des Zufallsprinzips allerdings etwas komplexer als in der Theorie. Grund dafür ist die Freiwilligkeit, die der Einladung zur Mitarbeit in einem Bürgerrat zugrunde liegt. Die Rückmeldequoten liegen erfahrungsgemäß zwischen 3 und 7 Prozent – abhängig unter anderem davon, wie persönlich die Einladung erfolgt und wie intensiv das Beteiligungsthema in der Öffentlichkeit diskutiert wird. In der Folge ist es notwendig, die durch die Freiwilligkeit der Teilnahme entstehenden Verzerrungen auszugleichen. Denn leider tendieren nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise dazu, die Einladung anzunehmen oder abzulehnen. Im Gegenteil: Personengruppen, die auch sonst wenig beteiligungsaffin sind, nehmen Einladungen zu Bürgerräten seltener an als beteiligungserfahrenere Bürgerinnen und Bürger.

Unter den vielen Möglichkeiten, mit dieser Problematik umzugehen, hat sich speziell die „zweistufige kriterienbasierte Zufallsauswahl“ bewährt, um den theoretischen Zielen der Zufallsauswahl möglichst nahe zu kommen. In einem ersten Schritt wird dabei definiert, wie der demografische Mix der Zufallsgruppe aussehen soll. Gute Praxis ist es, Quoten für Geschlecht, Altersgruppen, Wohnort, Migrationshintergrund und Bildungsstand zu definieren, die sich an den tatsächlichen Verteilungen in der Gesamtbevölkerung orientieren. Anschließend wird eine große Zahl von Personen aus den Melderegistern ausgewählt und eingeladen. Dabei wird die Anzahl der Eingeladenen so groß gewählt, dass sich deutlich mehr Personen zurückmelden, als Plätze im Zufallsgremium zur Verfügung stehen. Mit der Rückmeldung der Eingeladenen können weitere persönliche Daten, etwa zum Bildungsstatus oder Migrationshintergrund, abgefragt werden, die aus den Melderegisterdaten nicht hervorgehen. In einem zweiten Schritt ist es dann möglich, eine zweite Zufallsauswahl aus den Rückmeldungen vorzunehmen. Dieses Vorgehen garantiert eine möglichst hohe Diversität der Zufallsgruppe und schwächt unerwünschte Verzerrungen ab, die durch die Freiwilligkeit der Teilnahme entstehen.

Deliberation

Ein zweites Kernmerkmal von Bürgerräten ist ihr Anspruch, eine „deliberative“ Diskursqualität innerhalb der Teilnehmergruppe zu ermöglichen. Sie soll dazu führen, dass Bürgerräte nicht nur Ergebnisse hervorbringen, die auch eine Meinungsumfrage liefern könnte. Deliberation ist als ergebnisoffene, „verständigungsorientierte Beratschlagung“ zu verstehen, bei der sich die Gesprächsteilnehmer gegenseitig zuhören und gemeinsame Schlüsse ziehen. Ein deliberatives Gespräch unterscheidet sich grundsätzlich von Diskussionen, Debatten oder Verhandlungen, deren Ziel es ist, andere von einem eigenen Argument oder einer Sichtweise zu überzeugen. Der Philosoph Jürgen Habermas prägte dafür das Bild einer „idealen Sprechsituation“, in der es keine externen und internen Zwänge gibt. Das bedeutet unter anderem, dass alle Gesprächsteilnehmenden gleich gut mit dem Thema vertraut sein sollen, jederzeit verstehen (wollen), was ihr Gegenüber sagt und in der Lage sind, eigene Sichtweisen zu verändern. Idealerweise spielt dabei auch die verfügbare Zeit keine Rolle, und alle Teilnehmenden sind gleich eloquent.

In der Praxis kann nur versucht werden, sich der idealen Sprechsituation anzunähern – wobei sie nie ganz erreicht werden kann. Eine Zufallsauswahl kann wichtige Grundvoraussetzung dafür schaffen. Entscheidend aber ist die Art und Weise, wie die Teilnehmenden zusammenarbeiten. In Bürgerräten kommen zu diesem Zweck professionelle Moderationsteams zum Einsatz. Ihre Aufgabe ist es, mit Regeln, Interventionen und geeigneten Methoden den fairen Rahmen zu schaffen, den ein quasi-deliberatives Gespräch benötigt. Die Moderation ist hierbei sehr vielfältig: Es kommen kreative Kleingruppenarbeiten, Einheiten im Plenum, Befragungen von Experten, kreative Aufgaben und viele weitere Methoden zum Einsatz. Meist liegt diese Gestaltung in den Händen der Moderierenden, die damit eine Schlüsselfunktion innehaben. Da die Beratung innerhalb des Zufallsgremiums üblicherweise hinter verschlossenen Türen stattfindet, um den notwendigen geschützten Rahmen zu schaffen, wird die Moderation umso wichtiger.

Gesamtprozessdesign

Bürgerräte sind sehr voraussetzungsvoll und sollen durch die Verzahnung mit Prozessen der repräsentativen Demokratie und dem öffentlichen Diskurs wirksam werden. Voraussetzung dafür ist, dass sie einberufen werden – etwa von einem Gemeinderat. Obwohl der Auftrag keiner Garantie gleichkommt, dass die Empfehlungen umgesetzt werden, schafft er eine verlässliche Grundlage dafür, dass im Nachgang eine ernsthafte Befassung mit den Ergebnissen stattfindet und diese sich auf die Entscheidungsfindung zu einem Thema auswirken können. Bürgerräte sollen aber auch im öffentlichen Diskurs wahrgenommen werden, um ihre erwünschten Nebenwirkungen zu entfalten. Hierfür spielen einerseits öffentliche Auftakt- und Abschlussveranstaltungen, aber auch digitale Beteiligungsschritte eine wichtige Rolle. Bevölkerung und Medienvertreter können so einen Einblick in den Prozess erhalten. Auch die Beteiligung von Interessenvertretern, sogenannten Stakeholdern, ist wichtig. Ein Beispiel, wie diese Verzahnung in der Praxis ausgestaltet werden kann, ist der Gesamtprozess rund um Bürgerforen, die in Baden-Württemberg zum Einsatz kommen.

Standardablauf eines Bürgerforums in Baden-Württemberg (© Servicestelle Dialogische Bürgerbeteiligung Baden-Württemberg)

Dieser Prozess besteht aus vier Schritten (Abbildung): erstens dem sogenannten Beteiligungsscoping, in dessen Rahmen Stakeholder eine Themenlandkarte entwerfen und klären, welche Experten oder Positionsvertreter dem Bürgerforum Inputs liefern sollen. Die Themenlandkarte dient später als Arbeitsgrundlage des gelosten Bürgerforums und wird in einem zweiten Schritt vor dessen Start im Rahmen einer Online-Beteiligung von der Bevölkerung und allen Interessierten ergänzt. Anschließend tagt im dritten Schritt das Bürgerforum und erarbeitet seine Empfehlungen. Diese werden dann viertens in einer öffentlichen Übergabe den Auftraggebern überreicht.

Die Entwicklung eines passenden Gesamtprozessdesigns ist für Bürgerräte essenziell. In vielen Kommunen und Behörden, die einen solchen Prozess umsetzen möchten, fehlt allerdings die dafür notwendige Beteiligungsexpertise und Kapazität für die organisatorische Umsetzung. In Baden-Württemberg ist mit der Einrichtung der Servicestelle Dialogische Bürgerbeteiligung (SDB) eine deutschlandweit bislang einmalige Infrastruktur geschaffen worden, um die Umsetzung von Prozessen der Bürgerbeteiligung zu fördern. Die SDB berät Kommunen, Behörden und staatlich beherrschte Unternehmen kostenlos rund um Fragen der Bürgerbeteiligung. Sie hilft, zu klären, welche Beteiligungsschritte im Einzelfall passend sind, und bietet außerdem an, die Prozessverantwortung zu tragen. Denn oft ist ein Auftraggeber mit einer Doppelrolle konfrontiert: Er ist einerseits für die Fairness des Verfahrens verantwortlich und hat andererseits meist Eigeninteressen, die er darin vertreten will. Die SDB kann helfen, diese Situation zu vermeiden und damit die Legitimität des Verfahrens zu steigern.

Ausblick

Bürgerräte sind längst der Erprobungsphase entwachsen. Verantwortliche vor Ort erkennen immer häufiger einen direkten Nutzen dieser Räte für ihre Arbeit und die demokratische Streitkultur. Denn gerade bei kontroversen Diskursen, die oft von wenigen, besonders lauten Stimmen verzerrt werden, können sie helfen, die Debatte zu versachlichen. Bürgerräte können aber nur dann gut funktionieren, wenn ihr Mehrwert für die Bearbeitung eines konkreten Problems klar ist. Eine Universal-Lösung für alle möglichen Probleme des demokratischen Systems sind sie nicht. Für konkrete und strittige Probleme, die oft ähnlich gelagert sind, funktionieren sie aber erstaunlich zuverlässig.

Eine große Zukunftsherausforderung für Bürgerräte – und die dialogische Bürgerbeteiligung generell – ist es, erstere auf geeignete Weise zu institutionalisieren. Ziel muss dabei sein, ihre Nutzung zu vereinfachen und eine hohe Prozessqualität zu sichern. Die baden-württembergischen Strukturen bieten hier Orientierung, auch in anderen Bundesländern und im Ausland finden sich interessante Institutionalisierungen. So hat zuletzt Hamburg die Möglichkeit zur Nutzung von Bürgerräten gesetzlich verankert. Das österreichische Bundesland Vorarlberg hat zur Ermöglichung von Bürgerräten im Jahr 2011 sogar seine Verfassung angepasst. In Oregon, USA wurden ebenfalls 2011 Citizens’ Initiative Reviews gesetzlich verankert. Eine der weitreichendsten gesetzlichen Regelungen hat Ostbelgien 2019 vorgenommen, wo Bürgerräte fest in die politische Entscheidungsfindung eingebaut wurden. Von diesen Entwicklungen gilt es zu lernen und Schlüsse für gangbare Institutionalisierungspfade in Deutschland zu ziehen.

Wichtig ist es dabei, Überregulierungen zu vermeiden – in erster Linie, um Weiterentwicklungen nicht zu behindern, aber auch, weil dialogische Bürgerbeteiligung, anders als etwa direktdemokratische Prozesse, in der Praxis adaptiv bleiben muss. Nicht jeder Herausforderung kann mit standardisierten Modellen wie einem Bürgerforum begegnet werden. Geeignete Prozessdesigns zu entwickeln, erfordert allerdings beteiligungsfachliche Kompetenzen und Grundhaltungen, die in vielen Verwaltungen bislang noch Mangelware sind. Externe Beratung kann dies nicht vollständig kompensieren. Dem Bereich der Aus- und Weiterbildung des Verwaltungspersonals kommt deshalb größte Bedeutung zu. Gleiches gilt auch für die Ausbildungsmöglichkeiten für Moderierende. Auch hier fehlt bislang eine ausreichende Infrastruktur von hochwertigen Angeboten, die verlässlich mit dem Wissensstand in Forschung und Praxis verknüpft ist.

Entscheidend für die Zukunft von Bürgerräten wird jedoch die Entwicklung des demokratiepolitischen Diskurses sein. Die aufgezeigten Missverständnisse rund um die funktionalen Unterschiede direkter, repräsentativer und dialogischer Demokratie gefährden die weitere Entwicklung dialogischer Beteiligungsformen. Auf Bundesebene sind solche Missverständnisse wieder vermehrt zu vernehmen, seit sich dort der parteiübergreifende Konsens zur Erprobung von Bürgerräten aufgelöst hat. Eine wichtige Rolle zur Versachlichung der Debatte können die Erfahrungen von Auftraggebern, Organisatoren und Beteiligten von Bürgerräten spielen – und nicht zuletzt auch die Wissenschaft, die im Bereich der empirischen Beforschung von Bürgerräten noch viele Antworten schuldig bleibt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eigene Definition auf Grundlage von Matt Ryan/Graham Smith, Defining Mini-Publics, in: Kimmo Grönlund/André Bächtiger/Maija Setälä (Hrsg.), Deliberative Mini-Publics. Involving Citizens in the Democratic Process, Colchester 2014, S. 9–26.

  2. Für einen Überblick siehe Externer Link: https://sfb1265.github.io/mini-publics/.

  3. Vgl. Nicole Curato et al., Global Assembly on the Climate and Ecological Crisis: Evaluation Report, Centre for Deliberative Democracy and Global Governance, Canberra 2023.

  4. Vgl. Angelika Vetter/Frank Brettschneider, Demokratiezufriedenheit und Institutionenvertrauen in Baden-Württemberg, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 4/2023, S. 583–607.

  5. Vgl. Ulrich Arndt, Der Volksentscheid zu „Stuttgart 21“ und die Folgen – Beginn der „Politik des Gehörtwerdens“ in Baden-Württemberg, in: Hermann Heußner et al. (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, Reinbek 20244, S. 379–390.

  6. Vgl. Ulrich Arndt, Das Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg. Eine Wegmarke für die Bürgerbeteiligung, in: DVBl – Deutsches Verwaltungsblatt 11/2021, S. 705–711.

  7. Siehe Externer Link: http://www.servicestelle-buergerbeteiligung.de.

  8. Vgl. §1 Abs. 1 des Gesetzes über die dialogische Bürgerbeteiligung (DBG).

  9. Vgl. Cristina Lafont, Deliberative Demokratie nach der digitalen Transformation, in: APuZ 43–45/2023, S. 11–17.

  10. Vgl. Nicolina Kirby et al., Evaluation des Bürgerrats Deutschlands Rolle in der Welt. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Evaluation, Potsdam 2021.

  11. Siehe Externer Link: http://www.buergerrat.net/at/vorarlberg.

  12. Vgl. Volker M. Haug, Partizipationsrecht. Fundierung und Vermessung eines Rechtsgebiets, Baden-Baden 2024, S. 515f.

  13. Vgl. ebd., S. 517f.

  14. Vgl. Kathrin Kühn/Uli Hufen, Braucht Ostdeutschland mehr Bürgerräte?, 27.6.2024, Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/parteiendemokratie-in-der-krise-braucht-ostdeutschland-mehr-buergerraete-dlf-a3f61f3f-100.html.

  15. Dazu ausführlich: Hubertus Buchstein, Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU, Frankfurt/M. 2009.

  16. Vgl. John Gastil/Peter Levine, The Deliberative Democracy Handbook. Strategies for Effective Civic Engagement in the Twenty-First Century, San Francisco 2005, S. 272.

  17. In Baden-Württemberg geregelt in §2 DBG (vgl. Anm. 8).

  18. Vgl. Manfred Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010⁵, S. 237.

  19. Vgl. Jürgen Habermas, Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik. Eine Replik, in: Peter Niesen/Benjamin Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, Frankfurt/M.–Berlin 2007, S. 406–459, hier S. 433.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Daniel Oppold für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler und arbeitet an der Servicestelle Dialogische Bürgerbeteiligung Baden-Württemberg. Zuvor war er am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam tätig, wo er insbesondere Bürgerräte beforscht hat.