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Ziviler Ungehorsam | Demokratie jenseits von Wahlen | bpb.de

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Ziviler Ungehorsam Irritation und Impuls für den demokratischen Rechtsstaat

Samira Akbarian

/ 15 Minuten zu lesen

Radikale Protestformen wie die der „Letzten Generation“ interpretieren die Verfassung auf ihre Art und eignen sich demokratisch legitime Praktiken an. So verstanden ist ziviler Ungehorsam Ausdruck einer lebendigen Demokratie, indem er die Grenzen ebenjener aufzeigt.

Klimaaktivist*innen der „Letzten Generation“ betiteln ihre Plakate regelmäßig mit der Formulierung „Art. 20a GG = Leben schützen“. Sie rekurrieren damit auf ebenjenen Verfassungsartikel, der den Staat in die Pflicht nimmt, „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ zu schützen. Aus der eher programmatisch anmutenden Norm leiten sie konkrete Forderungen ab, sei es der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen oder eine klimaorientierte Agrarwende. Klimagerechtigkeit, also die ungleiche Lastenverteilung des Klimawandels, bedeute, dass Menschen im Globalen Süden nicht nur künftig, sondern schon jetzt unter den Versäumnissen der im Globalen Norden lebenden Menschen leiden. Schlimmer noch: Das gleiche Schicksal werde alle künftigen Generationen und unabhängig von ihrem Wohnort ereilen. In einem Brückenschlag mahnen die Aktivist*innen zugleich die Abhängigkeit der Freiheit und Gleichheit von unserem jetzigen Umgang mit dem Klimawandel an. Sie fordern die Regierung und die Öffentlichkeit innerhalb der politischen Gemeinschaft zum Handeln auf und propagieren eine andere, aus ihrer Sicht bessere, Interpretation des Artikel 20a Grundgesetz. Und sie tun dies mit ihren eigenen Mitteln, indem sie sich auf die Straße setzen, sich festkleben und: Gesetze brechen.

Sie sind damit nicht allein. Denn auch Anhänger*innen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump brachen 2021, angestachelt von der Lüge der „geklauten Wahl“, das Recht in der nach ihrem Dafürhalten „richtigen“ Absicht, gerade durch die Erstürmung des Kapitols Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Ein Narrativ, das man in Deutschland nur zu gut und zu wach erinnert. Denn kurz zuvor, inmitten der Covid-19-Pandemie, suchten die sogenannten Querdenker in erschreckend ähnlicher Symbolik ein „richtiges“ Ziel mit gleichen Mitteln durchzusetzen – auch wenn man es hierzulande nicht weiter schaffte als bis vor die Treppen des deutschen Reichstagsgebäudes.

So unangemessen es wäre, das eine mit dem anderen in ein unbesehenes Gleichnis zu setzen, eint die oben genannten Proteste aber ein gemeinsames Merkmal: Jede Bewegung nimmt für sich in Anspruch, trotz der Wahl ihrer Mittel in der Sache doch legitim zu sein. In der politischen Theorie und Geschichte, aber mittlerweile auch in der aktuellen Diskussion wird ein solcher Rechtsbruch, der von einer Richtigkeitsüberzeugung getragen wird, als „ziviler Ungehorsam“ bezeichnet. Der Rechtsbruch drückt den Dissens mit der Regierung, der Politik und zum Teil auch der Wirtschaft aus. Doch wie entscheiden wir, welche Richtigkeitsüberzeugung wahrhaftig „richtig“ und welcher Ungehorsam legitim, also „zivil“ ist? Und wie unterscheiden wir Bezugnahmen auf Demokratie und Verfassung, die diesen widersprechen, von denen, die zu ihrer Erneuerung und Weiterentwicklung beitragen?

Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation

Um diese Fragen zu beantworten, schlage ich vor, den zivilen Ungehorsam als eine Form der Verfassungsinterpretation zu verstehen. Diese These lässt sich aus zwei Perspektiven – nämlich aus der Perspektive der Interpretation und derjenigen der Verfassung – näher beleuchten.

Die erste Perspektive fokussiert das Interpretationsverständnis. Der Begriff der „Interpretation“ soll in diesem Zusammenhang hervorheben, dass die Gesetze nicht in Stein gemeißelt sind. Sie lassen sich verändern, durch die Gesetzgebung, aber auch durch ihre Interpretation. Insbesondere die Verfassung ist interpretationsoffen. Ziviler Ungehorsam zeigt uns diese Umstände auf; er verdeutlicht, dass alles auch anders sein kann, dass Gesetze und zentrale Begriffe der Verfassung, wie beispielsweise die der „Versammlungs-“ oder „Gewissensfreiheit“, auch anders ausgelegt werden können als die derzeit „herrschende Meinung“.

Diese Funktion des Ungehorsams lässt sich wiederum genauer fassen. Der zivile Ungehorsam kann aus rechtsstaatlicher Sicht erstens konkrete Interpretationsvorschläge für eine konkrete Verfassung machen. Exemplarisch zeigt sich dies am eingangs erwähnten Beispiel des „Art. 20a GG = Leben schützen“. Aus ethischer Sicht können Ungehorsame aufgrund ihrer eigenen normativen Vorstellungen Angebote für eine normative Ordnung der Zukunft machen und so langfristig die Verfassungsentwicklung beeinflussen. Und in einer radikaldemokratischen Dimension ermöglicht der Ungehorsam überkommene Interpretationen – nicht zuletzt des Begriffs „zivil“ selbst – zu hinterfragen und damit verkrustete Diskursstrukturen aufzubrechen. Dabei wird deutlich, dass die Demokratie eine grundlose Ordnung ist: Sie kann nicht auf Gott, die absolute Wahrheit oder auf die objektive Vernunft gebaut werden. In einer Abwandlung der vielzitierten Erkenntnis des Verfassungsrechtlers und -richters Ernst-Wolfgang Böckenförde könnte man auch formulieren: Die Demokratie „lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewährleisten kann“.

Dieses weite Interpretationsverständnis und die damit zusammenhängende Fundamentlosigkeit der Demokratie weisen allerdings auch eine Gefahr auf, der sich eine Theorie zivilen Ungehorsams als Verfassungsinterpretation stellen muss. Die zweite Perspektive nimmt daher die Verfassung in den Blick. Denn es bedarf eines Kriteriums, mit dem entschieden werden kann, welche Interpretationen mit dem demokratischen Rechtsstaat vereinbar sind, ohne dabei selbst Gefahr zu laufen, letzte Wahrheiten zu verabsolutieren. Dieses Kriterium stellt meines Erachtens die Verfassung bereit, nicht nur im Rahmen der 146 Artikel des Grundgesetzes, sondern auch als eine Ordnung von Freien und Gleichen, die ebendiese Freiheit und Gleichheit schützt und damit den Interpretationen Grenzen setzt. Die Verfassung steckt somit erst den Ermöglichungsraum für eine demokratische Gemeinschaft ab, in dem im oben genannten Sinne „interpretiert“ werden kann.

Freiheit und Gleichheit als Grenzen

Damit die so verstandene Verfassung diese Funktion erfüllen, also eine „offene Gemeinschaft der Verfassungsinterpreten“ einrichten kann, dürfen die Begriffe der Freiheit und Gleichheit selbst nicht völlig interpretationsoffen bleiben, sondern müssen konkretisiert werden. Dabei können diese Begriffe für ein demokratisches Verständnis nicht völlig voneinander getrennt werden. Freiheit und Gleichheit bedingen sich in der Demokratie gegenseitig. Diese Einsicht lässt sich am deutlichsten mit einer Referenz auf Hannah Arendts Vorstellung eines „Rechts auf Rechte“ verdeutlichen. Ausgangspunkt ihrer Überlegung ist die „Aporie der Menschenrechte“, ein unauflösbarer Widerspruch moderner Menschenrechtserklärungen wie der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 oder der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Diese begründen Rechte allein durch das Mensch-Sein und postulieren sie als universell und unwiderruflich. Doch jene Rechte bleiben leer, wenn sie nicht durchgesetzt werden können, was wiederum eine politische Gemeinschaft, also in der Regel einen Staat, voraussetzt, der diese Rechte gewährt. Arendt betont, dass Menschen ohne eine Staatsbürgerschaft auf ihre bloße Existenz als Menschen reduziert würden und damit faktisch rechtlos seien, weil sie nicht in der Gunst der territorialen Schutzmacht eines Nationalstaates stünden. Staatenlose würden daher in eine Art „Naturzustand“ zurückfallen, in dem sie auf die Mildtätigkeit anderer angewiesen seien und sich nicht auf Rechte berufen könnten.

Arendt fordert daher ein „Recht, Rechte zu haben“, sprich das Recht, Mitglied einer politischen Gemeinschaft zu sein. Dieses Recht gehe allen anderen Rechten voraus, da es die Voraussetzung dafür sei, dass Menschen überhaupt Rechte haben und durchsetzen könnten. Für unsere Zwecke ließe sich formulieren, dass die Möglichkeit, als Rechtsunterworfene das Recht zu beeinflussen oder in einer Verfassungsgemeinschaft an der Verfassungsinterpretation mitwirken zu können, erst einmal voraussetzt, überhaupt Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein. Interpretationsangebote, die Menschen aufgrund ihrer Identität oder Ethnie aus einer solchen Gemeinschaft ausschließen wollen, sind mit einem entsprechenden Freiheits- und Gleichheitsverständnis nicht vereinbar.

Für den Kontext des zivilen Ungehorsams ist aber noch eine zweite Begriffsbestimmung nötig, die uns dabei hilft, nicht nur die Inhalte, sondern insbesondere auch die Mittel des zivilen Ungehorsams zu bewerten. Diese Bewertung setzt ein Verständnis der menschlichen Verletzlichkeit und der sich daraus ergebenden gegenseitigen Verantwortung voraus. Während Denker wie Thomas Hobbes die menschliche Souveränität gerade daraus ableiten, dass jeder Mensch den anderen töten könne, dreht Philosoph*in Judith Butler diesen Gedanken um: Für Butler sind wir gleich, weil wir alle verletzlich sind. Diese gemeinsame Verletzlichkeit führt zu gegenseitiger Abhängigkeit und Verantwortung, nicht zu individueller Souveränität. Daraus folgt für Butler, dass Gewalt ethisch niemals gerechtfertigt sein kann, da Gewalt diese Verantwortung verleugnet.

Butler interpretiert Gewaltlosigkeit nicht als völlige Abwesenheit von Aggression, sondern als bewusste Umlenkung von Aggression zur Verteidigung von Gleichheit und Freiheit. Butler plädiert dafür, die eigene Verletzlichkeit in öffentlichen Protesten und Aktionen des zivilen Ungehorsams zu nutzen, um politisch zu intervenieren, ohne andere auszuschließen. Diese Praxis betont die grundsätzliche Verletzlichkeit aller Menschen und zeigt damit auch ihre fundamentale Gleichheit auf.

Aus diesem Verständnis von Verletzlichkeit und Gewaltlosigkeit wird deutlich, weshalb zu differenzieren ist, ob man sich auf die Straße setzt und festklebt oder die Straße mit einem Traktor blockiert. Die Klimaaktivist*innen der „Letzten Generation“ wandeln von außen einwirkende Gewalt durch den Einsatz der eigenen Verletzlichkeit in eine Form des kraftvollen Protests um. Die Bauernprotestler*innen hingegen verwenden nicht die eigene Verletzlichkeit als Mittel des Protestes, sondern schlicht ein Fahrzeug, das noch größer, schwerer, mächtiger und raumeinnehmender ist als die Fahrzeuge, die es blockiert. Ähnliches gilt für Gehsteigbelästigungen vor Beratungsstellen für Schwangerschaftsabbrüche, die ebenfalls nicht die eigene Vulnerabilität als Mittel einsetzen, sondern vielmehr die vulnerable Position der ungewollt Schwangeren ausnutzen, um sie von einem Abbruch abzuhalten.

Integration: Ziviler Ungehorsam rechtsstaatlich

Ausgehend von dieser Konkretisierung des Freiheits- und Gleichheitsverständnisses können wir das Verständnis des zivilen Ungehorsams als Verfassungsinterpretation weiter ausdifferenzieren. Auf der ersten, rechtsstaatlichen Ebene definiert Philosoph John Rawls mittels eines liberalen Verständnisses zivilen Ungehorsam als eine „öffentliche, gewaltlose, gewissensgeleitete, aber politische gesetzwidrige Handlung, die in der Regel eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik anstrebt“. Diese Definition orientiert sich an den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats, wie etwa dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Indem sich die Akteure des zivilen Ungehorsams öffentlich und symbolisch ausdrücken und bereit sind, die strafrechtlichen Konsequenzen ihrer Handlungen zu tragen, unterstreichen sie ihre Loyalität gegenüber dem Rechtsstaat und fordern die staatlichen Institutionen und die Gesellschaft auf, ihre politischen Entscheidungen kritisch zu überprüfen.

In diesem Kontext dient ziviler Ungehorsam dazu, in einem grundsätzlich gerechten demokratischen System die Diskrepanz zwischen „gerecht“ und „fast gerecht“ zu überwinden. Solche Aktionen sollen die durch den Staat selbst verursachten Ungerechtigkeiten sichtbar machen und auf Korrekturen drängen. Die zivil Ungehorsamen agieren hierbei zur Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats, wie das historische Beispiel der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt. Schwarze Bürger*innen forderten ihre verweigerten Rechte ein, indem sie sich gegen Gesetze zur Rassentrennung auflehnten und so „Testfälle für die Verfassung“ schufen, die zu neuen rechtlichen Interpretationen und Regelungen führten.

Ein weiteres Beispiel für die integrative Wirkung dieses Verständnisses bietet wiederum Artikel 20a Grundgesetz. Aktivist*innen trugen durch gerichtliche Verfahren zur Aufwertung dieses Artikels und damit auch des Klimaschutzes bei und beeinflussten damit die Rechtsprechung und Gesetzgebung. So kam es in einigen Fällen zu Freisprüchen wegen Hausfriedensbruch bei Stalleinbrüchen oder Waldbesetzungen, da Gerichte die Auffassung der Aktivist*innen teilten, dass ein „rechtfertigender Notstand“ vorlag, der ihre Handlungen legitimierte. Sowohl die Ziele (Klimaschutz und Tierschutz) als auch die Methoden des Protests (Was ist gerechtfertigt? Was fällt unter die Versammlungsfreiheit?) wurden dadurch neu interpretiert. Diese Aktionen verdeutlichen, dass die Verfassung als „lebendiges“ Dokument verstanden wird, an dessen Auslegung die Bürger*innen in einer offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpret*innen aktiv teilnehmen können.

Infragestellung: Ziviler Ungehorsam radikaldemokratisch

Eine solche offene Gesellschaft der Verfassungsinterpret*innen setzt aber voraus, dass alle, die unter den Gesetzen leben und ihnen unterworfen sind, auch Zugang zu dieser Gesellschaft haben. Demokratische Ordnungen schließen jedoch auch notwendigerweise bestimmte Gruppen aus. Ein offensichtliches Beispiel dafür ist der Ausschluss durch die Staatsangehörigkeit: Nicht jede*r, der*die den Gesetzen eines Staates unterworfen ist, darf auch an der Entscheidung über diese Gesetze teilhaben. Blicken wir auf die Situation von Geflüchteten, dann sehen wir, dass nationale Grenzen und Staatsbürgerschaft aber nicht nur zur Gewährleistung von Rechten, sondern auch zum Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft führen. Aber auch innerhalb der Rechtsgemeinschaft reichen Institutionen und Wahlen nicht aus, um alle Stimmen abzubilden. Zu Beginn der Fridays for Future-Bewegung waren es daher nicht zufällig vor allem minderjährige, nicht wahlberechtigte Schüler*innen, die für ihre Zukunft protestierten. Die Black Lives Matter-Bewegung zeigt schon im Namen, dass obwohl gleiche Rechte gewährt werden, nicht alle Menschen gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können und dass bestehende Strukturen zu Ungleichheiten in der Vernehmbarkeit der Stimmen führen. Protestformen des zivilen Ungehorsams können helfen, diese Repräsentationsdefizite aufzuzeigen, zu verändern und die diskursiven Verhältnisse durch Störung des öffentlichen Raums zu irritieren.

Ziviler Ungehorsam wird daher von radikaldemokratischen Ansätzen zum Teil als zu systemkonform angesehen, da er in einem liberalen und deliberativen Verständnis ein Stabilisierungs- und Integrationsmoment des demokratischen Rechtsstaats sein kann. Politische Entscheidungsprozesse sollten danach nicht nur auf institutionelle Wahlen und Repräsentation beschränkt sein, sondern bedürften direktdemokratischer Teilnahme, nicht zuletzt durch Proteste. So betonen diese Theorien die Bedeutung von politischen Konflikten. Im Gegensatz zu liberalen Ansätzen, die Konflikte als zu vermeidende Störungen betrachten, sieht die Radikaldemokratie in ihnen eine notwendige Voraussetzung für demokratische Prozesse. Pluralität wird als eine Stärke verstanden, die ermöglicht, dass unterschiedliche Stimmen Gehör finden. Radikale Demokratietheorien stehen in der Regel Verfassungen und Verfassungsgerichten kritisch gegenüber, da diese Konflikte dem öffentlichen und politischen Zugriff entziehen können, indem sie sie zu Verfassungsfragen objektivieren.

Dem tritt die These des zivilen Ungehorsams als Verfassungsinterpretation entgegen. Den Impuls aus der radikaldemokratischen Forschung aufnehmend, kann diese These den politischen Konflikt nicht außerhalb, sondern innerhalb der Verfassung verorten. So können mithilfe des radikaldemokratischen Ungehorsams die Bedingungen hinterfragt werden, unter denen eine Teilnahme an der angeblich offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpret*innen überhaupt möglich ist. Eine radikale Form des Ungehorsams könnte in diesem Kontext die illegale und öffentlich unter Protest durchgeführte Überschreitung von Staatsgrenzen sein. Diese Aktion verdeutlicht, dass Freiheit und Gleichheit in einer demokratischen Gesellschaft davon abhängen, ein teilhabeberechtigtes Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Andere Protestformen, wie die Black Lives Matter-Demonstrationen, zielen auf die Herstellung von Sichtbarkeit und Hörbarkeit. Der zivile Ungehorsam in diesen Bewegungen schafft so eine Teilnahme, die ihnen sonst aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse verwehrt bliebe. Dies gelingt ihnen vor allem, indem sie durch zivilen Ungehorsam Machtverhältnisse thematisieren und eine Veränderung anstoßen.

Hoffnung: Ziviler Ungehorsam ethisch

Aus der dritten, der ethischen Perspektive weist der zivile Ungehorsam über den bestehenden demokratischen Rechtsstaat hinaus in die Zukunft. Ziviler Ungehorsam erfüllt auf dieser Ebene eine „präfigurative“ Funktion. Er verwirklicht im Jetzt den Traum von einer normativen – „besseren“ – Ordnung der Zukunft. So formulierte Martin Luther King Jr. 1963 in seiner berühmten Rede „I have a dream“ die Vision einer vom Rassismus befreiten, egalitären Gesellschaft, die zum Zeitpunkt seiner Rede wie eine Utopie erschien. Ähnliches gilt für den Kampf gegen die Sklaverei, deren Abschaffung zu Beginn der abolitionistischen Bewegung noch in ferner Zukunft lag. Der in diesem Sinne von ethischen Motiven angeleitete zivile Ungehorsam folgt dabei nicht primär der Ordnung des staatlichen Rechts, sondern der eigenen normativen Ordnung. Diese kann sich aus dem Gewissen, aus religiösen oder aus weltanschaulichen Überzeugungen ergeben, die man mit anderen teilt.

Diesem Umstand folgt der häufig geäußerte Vorwurf gegenüber zivil Ungehorsamen, sie würden sich anmaßen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Doch wenn man, meiner These folgend, ihr „Wahrsprechen“ als eine Form der Verfassungsinterpretation versteht, zeigt sich die Situation in zweifacher Hinsicht anders. Erstens sind Verfassungsordnungen auf den Mut zur Wahrheit angewiesen. Als Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen ausrief: „How dare you?“ („Wie könnt ihr es wagen?“), forderte sie dazu auf, die politische Gemeinschaft und ihre Verantwortung für die Welt ernst zu nehmen und sich den drängenden Herausforderungen zu stellen. Ohne diese Ernsthaftigkeit und die Visionen, die durch den zivilen Ungehorsam zum Ausdruck kommen, bleiben zentrale Verfassungsbegriffe wie „Versammlungsfreiheit“, „Gewissensfreiheit“, „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“ oder „Klimaschutz“ ohne echten Inhalt. Der zivile Ungehorsam in seiner ethischen Dimension liefert Sinnangebote, aus denen Institutionen ihre Verfassungsinterpretationen schöpfen. Zweitens ist es ein Kernanliegen liberaler Verfassungen, den Bürger*innen ein authentisches und gutes Leben nach ihren eigenen moralischen Überzeugungen zu ermöglichen. Entscheidend ist dabei, dass in diesen Kämpfen die Hoffnung auf eine andere, eine bessere Zukunft in die Verfassung gelegt wird und nicht beispielsweise in die Revolution. Auch das Formulieren von Träumen und Visionen durch zivilen Ungehorsam kann insoweit in den demokratischen Rechtsstaat einfließen.

Da in der Demokratie keine Wahrheit als singulär absolut gesetzt werden kann, brauchen wir Wahrheiten im Plural. Dabei bedeutet ein pluralistisches Verständnis von Wahrheit nicht, dass Wahrheit und Lüge als gleichwertig betrachtet werden. Der Philosoph Bruno Latour betont, dass es in der Demokratie weniger um unantastbare „Fakten“ (matters of fact) geht, sondern vielmehr darum, Wahrheit als matter of concern zu verstehen – als ein gemeinsames Anliegen, das uns alle betrifft. Diese Form der Wahrheit erfordert unser persönliches Engagement und darf nicht leichtfertig durch „alternative Fakten“ ersetzt oder verleugnet werden. Gerade dieses Engagement und dieser Mut zur Wahrheit, welche nicht zu verwechseln sind mit der zwangsweisen Durchsetzung einer vermeintlich singulären und absoluten Wahrheit, ist es, was die Menschen seit Jahrtausenden am zivilen Ungehorsam fasziniert.

Ausblick

Vor dem Hintergrund der dargestellten Gefahren und Potenziale des zivilen Ungehorsams für Demokratie und Rechtsstaat möchte ich noch einmal zusammenfassen, warum die Bezeichnung von zivil Ungehorsamen, insbesondere von Klimaaktivist*innen, als „Extremisten“, „Chaoten“ und „Kriminelle“, sowie die Überlegung, die Strafgesetze zu verschärfen, um zivilen Ungehorsam zu unterbinden, fehlgehen und dem Phänomen des zivilen Ungehorsams nicht gerecht werden.

Durch die oben genannte Diffamierung von Aktivist*innen wird legitimer Protest erstens in die Nähe von kriminellem oder gar extremistischem Verhalten gerückt. Dies stellt eine unzulässige Gleichsetzung dar und kriminalisiert gewaltlose politische Meinungsäußerungen, die für eine lebendige Demokratie essenziell sind.

Die Verschärfung der Strafgesetze, um zivilen Ungehorsam zu unterbinden, kann zweitens die Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit erheblich einschränken. Diese sind wesentliche Bestandteile einer demokratischen Ordnung, die es den Bürger*innen ermöglichen, ihre Stimme zu erheben, Kritik zu üben und am politischen Diskurs teilzunehmen. Wenn diese Rechte durch härtere Gesetze beschnitten werden, wird die demokratische Teilhabe erschwert. Die Stigmatisierung von Aktivist*innen und die Drohung mit härteren Strafen dienen nicht zuletzt der Einschüchterung. Menschen, die sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen wollen, könnten sich davon abschrecken lassen, ihre Meinung frei zu äußern oder sich zu engagieren.

Wenn Aktivist*innen pauschal als radikal oder gefährlich dargestellt werden, wird drittens der Fokus von den Inhalten ihrer Anliegen auf ihre vermeintliche Gefährlichkeit verschoben. Dies führt dazu, dass wichtige gesellschaftliche Debatten über die Ursachen und Ziele ihres Protests unterdrückt oder marginalisiert werden. Die öffentliche Diskussion wird damit verengt und es wird verhindert, dass gesellschaftliche Probleme konstruktiv angegangen werden.

Zuletzt ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass ein Rechtsstaat sich dadurch auszeichnet, die Freiheits- und Bürgerrechte zu schützen. Wenn zivilgesellschaftliche Akteure als Extremist*innen behandelt werden, weil sie sich politisch engagieren, wird dieses Prinzip der Rechtsstaatlichkeit untergraben. Im Namen von Demokratie und Rechtsstaat droht das (Straf-)Recht sich damit gegen ein demokratisches und rechtsstaatliches Ausdrucksmittel zu wenden.

„Ziviler Ungehorsam“ ist ein politischer Kampfbegriff, da ein Rechtsbruch durch diese Bezeichnung eine moralische und politische Legitimation erfährt. Daher ist er missbrauchsanfällig. Von den Pervertierungen des Begriffs auf den Rundumschlag gegen zivil Ungehorsame zu schließen, wird der Bedeutung des zivilen Ungehorsams als Reflexionsmoment für den demokratischen Rechtsstaat nicht gerecht. Als Verfassungsinterpretation verstanden trägt er dazu bei, notwendige Erneuerungen in der Demokratie voranzutreiben, Repräsentationsdefizite sichtbar zu machen und neue zukunftsweisende Leitbilder für die Verfassungsinterpretation anzubieten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag fasst zentrale Thesen meines Buches „Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams“, München 2024, und meiner Doktorarbeit „Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation“, Tübingen 2023, zusammen. Letztere wurde mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung 2023 (1. Platz, Sektion Geisteswissenschaften) ausgezeichnet. Der Beitrag greift zum Teil auf Abschnitte meines Wettbewerbsbeitrags für diesen Preis zurück. Für wertvolle Hinweise danke ich Alexander Benecke und Clara Liebmann.

  2. Im Original spricht Böckenförde vom „freiheitlich-säkularisierten Staat“. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 20135, S. 92.

  3. Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation, in: Juristenzeitung 10/1975, S. 297–305.

  4. Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2011, S. 394–410.

  5. Ebd., S. 404.

  6. Ebd., S. 401.

  7. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M. 1984, S. 94.

  8. Vgl. Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen, Berlin 2023.

  9. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 201921, S. 401.

  10. Ebd., S. 410f.

  11. Jürgen Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Peter Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt/M. 20153, S. 29–53.

  12. Für ein Transkript der Rede: Externer Link: http://www.americanrhetoric.com/speeches/mlkihaveadream.htm.

  13. Vgl. Michel Foucault/Ulrike Reuter (Hrsg.), Das Wahrsprechen des Anderen. Zwei Vorlesungen von 1983/84, Frankfurt/M. 1988.

  14. Vgl. Bruno Latour, Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, in: Critical Inquiry 2/2004, S. 225–248.

  15. So der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, im Interview mit Bild-TV, 2.11.2022, abrufbar unter Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=Rb-gc4he53U.

  16. Siehe dazu auch Maximilian Pichl, Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat, Berlin 2024.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Samira Akbarian für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im September 2024 erschien ihr Buch "Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams" im Verlag C.H. Beck.