Stellen wir uns eine typische deutsche Mittelstadt vor: 50.000 Einwohner:innen, weder strukturstark noch -schwach. Das städtische Schwimmbad ist bereits seit 20 Jahren geschlossen, es wurde durch ein Erlebnisbad ersetzt. Die Parkpflege musste vor einer Weile reduziert werden, genau wie der Bustakt und die Öffnungszeiten der zwei Jugendclubs – der kommunale Haushalt war zu angespannt. Das Einkaufszentrum verliert immer mehr Läden, zum Shopping fährt man lieber in die nächstgelegene Großstadt, den Rest erledigen Lieferdienste. Und die Wohnviertel in der Stadt entmischen sich zunehmend, die schicken Einfamilienhäuser stehen weit entfernt von den ärmeren Neubausiedlungen der 1970er Jahre.
Demokratie fehlt Begegnung
Wo begegnet man sich in dieser Stadt? Wo laufen sich Menschen über den Weg, die in vielem nicht sind wie man selbst? Wo findet das Erleben von Gesellschaft statt? Wie der Stadt im Beispiel geht es den meisten Kommunen: Viele Begegnungsorte sind in den vergangenen Jahrzehnten weniger geworden, obgleich es regionale Unterschiede gibt. In strukturschwachen Regionen, etwa Ostbrandenburg, Mecklenburg, der Pfalz oder Ostbayern, gibt es neben einer ökonomischen auch eine „territoriale Ungleichheit“: Begegnungsorte fehlen hier mehr als anderswo.
Dieses Fehlen ist auf eine Reihe langsamer, manchmal schleichender Prozesse zurückzuführen. Viele Kommunen waren und sind überschuldet. Spätestens seit den 2000er Jahren, vielerorts schon früher, wurde an staatlichen Infrastrukturen, die Begegnungsräume umfassen, gespart. Das zeigt sich etwa am Beispiel öffentlicher Frei- und Schwimmbäder: Ihr Betrieb ist teuer, die Eintrittspreise sind oft hoch subventioniert. Durch steigende Energiepreise, Fachkräftemangel und Sanierungsstau verschwinden immer häufiger die einfachen Frei- und Hallenbäder; an ihrer Stelle eröffnen aufwendige Erlebnisbäder mit entsprechend höheren Eintrittspreisen. Und gerade im ländlichen Raum sind die Fahrtwege oft lang.
Auch Bibliotheken verschwinden, zumindest, was die Standorte angeht. Der Trend geht zur Stadt- und weg von der Bezirksbibliothek, hin zum Bibliotheksbus, der seine Runden dreht. Die gute Nachricht: Es wird nicht weniger gelesen, die Ausleihen sind weiter auf hohem Niveau.
Individualisierung der Lebensgestaltung
Der Abbau öffentlicher Infrastrukturen trifft auf eine Gesellschaft, die immer individualistischer geworden ist. Fitnessstudio statt Sportverein, Aktivismus statt Partei, „Retreat“ statt Kirche – Menschen puzzeln sich ihre Lebensgestaltung immer stärker anhand ihrer eigenen Interessen zusammen. Die großen Massenorganisationen der alten Bundesrepublik – Kirchen, Gewerkschaften und Parteien – verlieren weiter an Mitgliedern. Aber das ist nicht alles: Auch Sportvereine haben Probleme, Nachwuchs für ihre Vereinsstrukturen zu finden. Das trifft vor allem das Land – und gerade hier sind sie oft integrierender Faktor für die lokale Bevölkerung. Auch das sonstige ehrenamtliche Engagement verändert sich, es wird projekt- und anlassbezogener, weniger stetig. Das alles basiert auf einem zentralen Vorteil liberaler Demokratien: Menschen können ihr Leben so gestalten, wie es ihnen beliebt, solange sie die Freiheit anderer dadurch nicht einschränken. Aber diese Individualisierung hat nichtintendierte Folgen für unser Zusammenleben.
Und unsere Nachbar:innen? Werden uns immer ähnlicher, wie die Daten zu deutschen Großstädten zeigen. So wohnen wohlhabende Menschen immer häufiger in der Nähe von Wohlhabenden, Armut gruppiert sich wiederum in anderen Vierteln. Spannenderweise ist die teuerste deutsche Großstadt, München, etwas gleicher als andere – weil die Mittelschicht aufgrund steigender Mieten aus der teuren Innenstadt in ärmere Stadtquartiere weiter außerhalb ziehen muss.
Dies wiederum hat Auswirkungen darauf, wem wir begegnen: im Hausflur und beim Einkaufen, aber auch im Klassenzimmer oder beim Elternabend in der Schule. Wie sollen wir Verständnis für Armut oder Mehrsprachigkeit entwickeln, wenn wir nicht im Alltag mit ihnen konfrontiert sind, wie unterschiedliche kulturelle Hintergründe als bereichernd verstehen, wenn wir sie nicht erleben? Insbesondere Schulen spielen hier eine Schlüsselrolle, sind aber aufgrund homogenisierter Wohnviertel und Schulflucht der wohlhabenderen Teile der Gesellschaft immer weniger durchmischt. Die Folge des Abbaus staatlicher Infrastrukturen, von Individualisierungsprozessen und fehlender Durchmischung im Wohnumfeld: Wir begegnen zunehmend Menschen, die so sind wie wir. Und diese soziale Homophilie ist auf Dauer ein Problem für Demokratien.
Vertrauen in Demokratie
Dafür ist eine andere Variable für Demokratien essenziell: Vertrauen. Dieses wiederum lässt sich leichter verspielen als herstellen. Vertrauen innerhalb einer Demokratie kann sich in unterschiedlichen Dimensionen zeigen: Die anderen werden sich schon an die gemeinsam gefassten Regeln halten, darum kann ich Abstriche bei meinen Forderungen machen – das ist das interpersonelle Vertrauen. Darüber hinaus müssen Menschen den Institutionen ihres Gemeinwesens vertrauen. Politik sollte nicht als (zu) korrupt, die Wirtschaft nicht als zu geldgierig erlebt werden; Gerichte müssen nachvollziehbar gerecht entscheiden, Medien transparent berichten. Und auch Staat und Politik müssen den Bürger:innen vertrauen, dass sie die gefassten Regeln einigermaßen einhalten werden.
In all diesen Dimensionen zeigt sich in Deutschland ein erschreckender Abbau an Vertrauen. Dabei war letzteres lange stabil; zu Beginn der Coronapandemie im Sommer 2020 war das Vertrauen in die Exekutive sogar gestiegen. Aber dann ist etwas passiert: Das Vertrauen sank unerwartet stark. Die große Erhebung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung zeigt deutlich: 2023 nahm der Zusammenhalt über alle neun Dimensionen gesellschaftlichen Lebens ab. Besonders in den Aspekten „Solidarität und Hilfsbereitschaft“ und „Identifikation“ waren Verluste zu verzeichnen. Die Autor:innen der Studie stellen fest, dass die Gruppen der Eingebundenen und die der Entfremdeten sich immer weiter voneinander entfernen.
Ist Deutschland also polarisiert, womöglich sogar in zwei große Gruppen geteilt? Eigentlich nicht, sagen Studien. Die Haltung der Deutschen ist zu den meisten Themen moderat. Das trifft selbst auf vermeintlich kontroverse Themen wie Migration oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu. Aber während die Annahmen über sich selbst und das nahe Umfeld positiv sind, vermuten viele Menschen von anderen Schlechteres. Beispielsweise halten viele Befragte sich selbst für leistungswillig in Bezug auf die eigene Lohnarbeit, trauen anderen aber zu, sich in die soziale Hängematte zu legen. Diese „Vertrauensfrage“, wie sie die Soziolog:innen Jutta Allmendinger und Jan Wetzel nennen, stellt sich in vielen Bereichen.
Dieser Mangel an Vertrauen hat auch damit zu tun, dass der Austausch zwischen Menschen fehlt, die sich voneinander unterscheiden. Denn Vertrauen entsteht auch in der niedrigschwelligen, alltäglichen Begegnung miteinander. Demokratie fehlt, kurz gesagt, Begegnung. Nicht nur, weil die Orte sich verändert haben, einige von ihnen verschwunden sind, sondern auch, weil Demokratie Begegnung braucht, damit Vertrauen entstehen kann. In einer diversen Gesellschaft ist das umso stärker der Fall, weil die Menschen so verschieden sind.
Dabei haben vor allem Begegnungsorte im Alltag großes Potenzial, das zu ändern. Straßen und Bahnen, Cafés und Kneipen, Büros und Schulen – das alles sind Orte, die Menschen täglich nutzen (müssen), sie sind oft ohne größere Hürden zugänglich. Hier mischt sich Gesellschaft, hier trifft sie sich. Sie sind konstitutiv für das Erfahren von Gesellschaft, für Sozialisation, Lernen und Selbstwirksamkeit. Dabei geht es nicht darum, dass die volle Bandbreite gesellschaftlicher Diversität sich täglich an jedem Ort trifft. Es geht darum, dass Menschen irritiert werden, weil sie Menschen treffen, die anders sind, anders aussehen, sich anders verhalten als man selbst. Es geht darum, zu erfahren und zu akzeptieren, mit wem man in einem Gemeinwesen lebt.
Begegnungsorte der Deutschen
Dass Alltagsorte zusammenbringen, zeigt auch eine weitere Studie von „More in Common“. Was sind die Begegnungsorte der Deutschen? Supermärkte besuchen 88 Prozent der Deutschen regelmäßig, Cafés 54 Prozent, und auch Drogerien, Restaurants und Einkaufszentren werden von mehr als der Hälfte der Deutschen regelmäßig aufgesucht. Interessanterweise gibt es bei den meisten dieser Orte kaum Unterschiede über die in der Studie identifizierten Gruppen hinweg. Auch das unsichtbare Drittel ist an diesen Orten präsent.
Aber auch Straßen, der öffentliche Personennahverkehr oder Büros und Fabriken sind Orte, an denen unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Vor allem Straßen sind häufig unterschätzte Begegnungsorte. Natürlich: Sie sind dazu gebaut, um sich fortzubewegen – größtenteils aneinander vorbei. Darauf sind auch unsere Routinen auf Straßen ausgelegt. Aber sie ermöglichen etwas, das an vielen Orten meist unbemerkt geschieht: die zufällige, häufig flüchtige Wahrnehmung anderer. Darüber hinaus ermöglichen Straßen, so argumentiert der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, in Städten eine starke Kontrolle über die Preisgabe von Informationen und sind zugleich auch Schauplatz von Protest und Demonstrationen.
Begegnungsorte verstehen
Die zufällige Wahrnehmung ist zweifellos die häufigste Begegnungsform. Und sie kann irritieren. Menschen erscheinen, mit allen Sinnen wahrgenommen, vollständiger als die Abziehbilder im Kopf oder in den Medien, ein Lächeln oder eine freundliche Geste können einen Eindruck verändern. Die Masse macht’s: Nicht die einzelne Begegnung verändert unsere Stereotype, sondern die tägliche Wiederholung. Aber Begegnungsorte leisten mehr: Im ÖPNV ist man mindestens beim Einstieg auf Kooperation angewiesen, in der Kneipe oder dem Café kann man sich sprachlich austauschen, im Verein und in der Schule trifft man immer wieder dieselben Leute und das Ehrenamt ermöglicht es, gemeinsam für ein Ziel aktiv zu werden.
Dass digitale Medien dies alles nur rudimentär ersetzen können, hat spätestens die Coronapandemie gezeigt. Zwar sind die Digitalkompetenzen massiv gestiegen und viele Systeme besser, schneller und anwenderfreundlicher geworden. Eine Videokonferenz ersetzt aber keinen Bürotalk, eine Watchparty kein Zusammensein mit Freund:innen. Technische Verzögerung, ein fehlender gemeinsam geteilter Raum und die ausschnitthafte Wahrnehmung unseres Gegenübers macht es uns schwerer, Vertrauen zu fassen. Vielleicht werden digitale Medien eines Tages auch jenseits spezialisierter Nischen der Wahrnehmung von Angesicht zu Angesicht nahekommen. Bis dahin wird aber noch einige Zeit vergehen.
Was also tun? Vertrauen verlieren geht schnell, es aufzubauen ist dagegen ein langer Prozess. Unsere alltäglichen Begegnungen spielen eine Rolle dabei, wem wir wie vertrauen. Aber: Die goldenen 1970er, mit Massenorganisationen und einem Schwimmbad in jedem Ort, kommen nicht zurück. Gesellschaftliche Begegnungsinfrastrukturen verändern sich. Das muss nicht per se schlecht sein. Aber die Art, wie Begegnungen sich verändern – sie sind heute homogener, individualistischer – ist ein Problem für Demokratie. Die Neukonfiguration von Begegnungen vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: derer der Ideen, der Konzepte, der Politik und der Narrative.
Beispiele aus der Praxis
Dass es viele Ideen gibt, mehr Begegnung herzustellen, zeigen verschiedene Initiativen, die Neues ausprobieren wollen. Sie zeigen konkret, was denkbar und möglich ist. Drei Beispiele:
Große Kaufhäuser in der Innenstadt – das war einmal, wie Pleiten in den vergangenen Jahren zeigen. Heute stehen häufig große Immobilien in guter Innenstadtlage leer. Was also tun? Abreißen oder daraus Bürogebäude erschaffen ist oft keine Option. Viele Städte und Stadtteile nehmen sich in aufwendigen Beteiligungsprozessen dieser Frage an. Welche Institutionen brauchen wir in der Innenstadt? Welche Läden, welche Behörden, welche Flächen? In Hanau etwa hat die Stadt den ehemaligen „Kaufhof“ übernommen und gestaltet daraus nun den „Stadthof Hanau“ mit einer breiten Nutzungsmischung aus Handel, Kultur, Bildung und Begegnung.
Ähnlich, aber komplett neu gebaut, wendet sich die Zentralbibliothek von Helsinki, Oodi, der Stadtgesellschaft zu. Sie gilt als Vorzeigeprojekt und zeigt, was Bibliotheken alles sein können. Denn in Bibliotheken wird nicht nur gelesen. Neben Stillarbeitsplätzen gibt es Raum für Austausch, ein Café, Nähkurse und sogar einen 3D-Drucker. Bücher und digitale Medien sind natürlich auch zugänglich. Die Bibliothek macht vor, wie solche Orte entstehen können: Im Dialog mit den Nutzenden, nicht nur zentral geplant – und architektonisch außergewöhnlich. Ein lokal verankertes Vorzeigeprojekt, das sich stetig weiterentwickelt – denn die Nutzenden werden permanent in die Gestaltung des Ortes einbezogen. Immer wieder wird danach gefragt, was gebraucht wird und was nicht mehr.
Aber es muss gar nicht so groß gedacht werden: Frei stellbare Stühle, wie sie etwa im Jardin du Luxembourg, einem großen Pariser Park, herumstehen, können schon ausreichen. Die Besucher:innen gruppieren sie so, wie es passt, zum Tête-à-Tête, in kleinere oder größere Gruppen oder einzeln zum Lesen oder Beobachten. Sie sind flexibel, wie es auch Begegnungssituationen sind.
Diese drei Beispiele laden dazu ein, Begegnung neu zu denken. Es scheint ein grundsätzliches Bedürfnis nach Verständigung über Begegnung zu geben. Manifeste sind offenbar wieder in Mode. Im „Kirchenmanifest“ etwa wird die sich wandelnde Rolle von Kirchen – weniger Gotteshäuser, stärker Begegnungsorte – diskutiert.
Das „Manifest der freien Straße“ hingegen ist deutlich radikaler. Es möchte nichts weniger als die Straße von ihren Zwängen befreien, vor allem von ihrer Ausrichtung auf den motorisierten Verkehr. Anhand von sieben Thesen diskutiert es, wie Straßen zu Gesundheit, Mobilität, Nachbarschaft, Begegnung und mehr beitragen können. Straßen sollen etwa wieder zentraler Treffpunkt der Nachbarschaft sein, sicher für alle Verkehrsteilnehmenden, zur Gesundheit beitragen, durch Kunstinstallationen aufregende und anregende Orte werden und dadurch unsere Leben verbinden – aber, anders als bisher, nicht primär auf Grundlage von Autoverkehr.
All diese Transformationsbestrebungen funktionieren nicht ohne Politik. Politik schafft die Rahmenbedingungen für die Art, wie wir uns begegnen, ohne dass sie allzuständig wäre oder diese vorschreibt. Das beschränkt sich nicht nur auf die Überarbeitung der in die Jahre gekommenen Raumordnung Deutschlands, um abgehängte Regionen stärker zu beleben.
Wohnungspolitik
Aber noch ein weiteres Thema, das Begegnung massiv beeinflusst, lässt sich nur politisch bearbeiten: das Wohnen. Ein heikles Unterfangen in Deutschland, denn es hängt an der Frage des Immobilieneigentums. Dieses ist hierzulande – aus guten Gründen – stark geschützt. Zugleich organisierten sich, zunächst in Berlin und darauffolgend in anderen deutschen Städten, in den vergangenen Jahren zunehmend Bewegungen, die Zugang zu bezahlbarem Wohnraum für alle fordern.
Es gibt viele Beispiele, die zeigen, wie Durchmischung geht. Der Stadtstaat Singapur etwa macht zwei Dinge richtig, indem er auf eine Durchmischung der Wohnbevölkerung innerhalb der mehrheitlich staatlich verwalteten Häuser achtet. Und in neuen Häusern – in Singapur aufgrund des geringen Platzes meist Hochhäuser – werden Begegnungsflächen in den unteren Etagen gleich mitgeplant, die sogenannten void decks. So trifft man im Wohngebäude, im Kiosk oder beim Snack im Imbiss Menschen, die anders sind als man selbst – und trotzdem Nachbar:innen. Häufig gibt es zusätzlich einen Raum zum Co-Working, ein kleines Fitnessstudio und einige Bänke oder Stühle.
Für kluge Wohnungsbaustrategien braucht man aber gar nicht so weit zu schauen: In Wien schafft die Stadt ebenfalls bezahlbares Wohnen für viele, und auch die Wohnungsbaugenossenschaften in Deutschland, die aber nur einen kleinen Anteil am Wohnungsmarkt ausmachen, achten häufig auf eine gute Mischung ihrer Bewohner:innen und stellen darüber hinaus Begegnungsflächen zur Verfügung. Das Thema Wohnen ist eines der zentralen Ungleichheitsthemen der Bundesrepublik. Vielleicht würde es sich hier, mehr noch als bei anderen Themen, lohnen, auf das Instrument des Bürger:innenrats zurückzugreifen, um einen neuen Konsens in der Bevölkerung herzustellen, der die Interessen von Mieter:innen und Eigentümer:innen einbezieht, Fragen von Durchmischung, Bauformen, Bauwirtschaft und mehr berücksichtigt und sich darüber zu verständigen, wie „Deutschland“ eigentlich wohnen möchte. Für vielfältigere Begegnungen im Alltag wäre ein solcher Prozess allemal gut.
Ein weiterer Punkt ist wichtig: die Frage, wie wir die Begegnungsorte nennen wollen. Viele Projekte, die in irgendeiner Weise die Begegnung von Menschen fördern möchten, nennen sich genau so: Begegnungs- oder Demokratiecafé oder auch politische Bildungsorte. Das sind oft treffende Bezeichnungen, aber sie erreichen gleichzeitig nur Menschen, die damit etwas anfangen können. Wer Demokratie gut findet, wird auch die Zeit für eine Demokratiewerkstatt aufbringen. Wer gern mit Menschen in Kontakt kommt, wird sich zum Begegnungscafé anmelden. Und wer politisch interessiert und wissbegierig ist, wird politische Bildung gut finden.
Allein: Das unsichtbare Drittel fühlt sich dadurch kaum angesprochen. Auf diese Menschen käme es aber gerade an. Es lohnt sich daher, Begegnungsprojekte nicht nur anders zu benennen, sondern auch da anzudocken, wo die Menschen sowieso sind: an ihren Alltagsorten, an denen sie einkaufen, arbeiten, ihre Freizeit verbringen. Diese Orte sind niedrigschwellig, und sie verlangen erst einmal kein politisches oder demokratisches Engagement. Zugleich haben sie durch diese fehlende Designation das Potenzial, Menschen in Gesellschaft zu integrieren.
Krise und Resilienz von Demokratien
Warum diese Dringlichkeit, über Demokratie und Begegnung nachzudenken? Wir leben in stürmischen Zeiten. Zahlreiche Herausforderungen von außen – Klimawandel, Migration, Kriege, Pandemien, Digitalisierung – und von innen – populistische Parteien, handlungsunfähige Regierungen, Vertrauensverlust – setzen Demokratien einem Stresstest aus. Und diese Herausforderungen werden erst größer werden, bevor sie abnehmen.
Umso stärker müssen Demokratien resilienter werden, um diesem Druck standzuhalten. Und Resilienz – Widerstandsfähigkeit – müssen eben nicht nur die Institutionen der Demokratie zeigen. In liberalen Demokratien sind es gerade die Bürger:innen, die resilient gegenüber Veränderungen sein müssen – damit es das Gemeinwesen auch ist. Sonst sinken die Vertrauenswerte bei jeder Erschütterung immer weiter, sonst steigt die Zustimmung für populistische oder extremistische Parteien, werden Regierungen instabiler, sinkt das Vertrauen immer weiter. Ein Teufelskreis.
Für diese Resilienz braucht es Infrastrukturen. Wichtig sind alltägliche Begegnungsorte und tatsächliche Begegnungen. Wenn die Bürger:innen regelmäßig einen Ausschnitt der Menschen, mit denen sie eine Demokratie bilden, wahrnehmen, wenn sie in den Austausch mit ihnen gehen, andere Lebensrealitäten als legitim akzeptieren und funktionierende Modi der Konfliktaushandlung beherrschen, ist Demokratie in der Lage, sich flexibel an Herausforderungen von außen und innen anzupassen. Und nur, wenn dies auch lokal gelingt – etwa in der Mittelstadt im Beispiel vom Anfang – wird Demokratie auf Dauer auch im Großen gelingen.