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Freiheit, Kapitalismus und Demokratie | Demokratie in Gefahr? | bpb.de

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Freiheit, Kapitalismus und Demokratie Essay

Lea Ypi

/ 14 Minuten zu lesen

Freiheit ist ein Schlüsselbegriff nahezu aller Konzeptionen von Demokratie. Allerdings hat die politische Linke die Deutungshoheit über den Begriff verloren. Wie könnte eine solide Idee von Freiheit für die Linke aussehen – und wie könnte man sie zurückgewinnen?

Es gibt einen Schlüsselbegriff, auf den sich alle Konzepte von Demokratie berufen, so unterschiedlich die Methoden und Ansätze weltweit auch sein mögen: die Freiheit. Allerdings ist die globale Linke bei diesem Thema in letzter Zeit etwas in Verlegenheit geraten. Freiheit ist ein Begriff, bei dem es der politischen Rechten viel leichter fällt, ihn für sich zu beanspruchen, indem sie die Individualrechte den allgemeinen gesellschaftlichen Normen gegenüberstellt.

Im Folgenden möchte ich darüber nachdenken, wie eine solide Idee von Freiheit für die Linke aussehen könnte und warum es notwendig ist, sie auf internationaler Ebene wieder zurückzugewinnen – anstatt zu versuchen, ohne sie auszukommen. Und ich möchte diese Frage in einer Art und Weise stellen, die uns dazu zwingt, sowohl über die Mikro- als auch über die Makroebene von historischen Entwicklungen nachzudenken: Inwiefern beeinflussen und beschneiden weltgeschichtliche Ereignisse das Leben einzelner Menschen, die mit ihnen konfrontiert sind? Inwiefern bemühen sich politische Institutionen um den Aufbau gewisser moralischer Ideale und scheitern dann an der Realisierung?

Wollen wir Fortschritte erzielen, müssen wir uns mit zwei verschiedenen Arten des Scheiterns auseinandersetzen: Die sozialistischen Staaten haben es nicht geschafft, die von ihnen versprochene Freiheit zu verwirklichen, und die liberalen kapitalistischen Institutionen schaffen es nicht, die Freiheit über privilegierte Eliten und eine Handvoll größtenteils westlicher liberaler Gesellschaften hinaus auszuweiten. Entgegen der landläufigen Meinung, dass es dem Sozialismus nur um Gleichheit und Gerechtigkeit gehe und der Liberalismus im Gegensatz dazu auf Freiheit ausgerichtet sei, ist die sozialistische Tradition seit Marx tatsächlich derselben Idee von Freiheit verpflichtet, die philosophisch gesehen den Kern des Liberalismus bildet. Sie versteht die Freiheit bloß noch radikaler und zeigt in verschiedenen Hinsichten die Grenzen liberaler Theorien auf, die den Freiheitsbegriff auf bestimmte Kategorien von Menschen beschränken: auf die Bürgerinnen und Bürger eines bestimmten Staates oder auf die Vertreter einer bestimmten sozialen Klasse.

Freiheit in Theorie und Praxis

Wir sollten Sozialismus und Liberalismus jedoch nicht nur als reine Gedankengebäude betrachten, sondern auch über die Widersprüchlichkeiten in der Erfahrung von Freiheit nachdenken, über das Spannungsverhältnis zwischen den moralischen Idealen, die wir hochhalten, und der Interpretation dieser Ideale durch die bestehenden Institutionen.

Nehmen wir das Beispiel der Personenfreizügigkeit. Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal mit meiner Großmutter aus Albanien in den Westen gereist bin. Ich war ungefähr elf Jahre alt, und es war etwas ganz Neues, dass Albaner ins Ausland reisen durften. Man hatte uns immer gesagt, dass wir nicht reisen konnten, weil unser Staat uns nicht reisen ließ und wir keinen Pass besaßen. Doch dann fiel die Berliner Mauer, der Kalte Krieg war zu Ende, der Staatssozialismus wurde aufgegeben. Fast über Nacht begann der Staat, jedem, der wollte, einen Reisepass auszustellen. Nur mussten wir feststellen, dass es mit dem Pass nicht getan war: Man brauchte außerdem ein Visum, für das nicht der eigene Staat zuständig war, sondern ein anderer. Plötzlich lag es also nicht mehr an unserem Staat, dass wir nicht reisen durften, sondern das Hindernis lag irgendwo außerhalb. Wir realisierten, dass wir auch deshalb nicht reisen konnten, weil ein anderer Staat es uns nicht erlaubte. Aber wenn Reisefreiheit ein sinnvoller Begriff sein soll, dann muss er sowohl in Bezug auf die Ausreise als auch in Bezug auf die Einreise gelten: Es muss die Freiheit sein, sowohl das eigene Land verlassen als auch ein anderes Land betreten zu dürfen. Wenn man mir sagt, es stehe mir ganz frei, meinen Hörsaal zu verlassen, ich aber auf den Flur gehe und feststelle, dass dort alle anderen Türen verschlossen sind, kann ich mich dann wirklich frei bewegen? In genau dem historischen Augenblick, in dem die sozialistischen Staaten des Ostens aufhörten, ihre Bürgerinnen und Bürger an ihren Grenzen zu erschießen, begannen die kapitalistischen Länder des Westens, mit Booten auf ihren Meeren zu patrouillieren. Die Migranten starben immer noch. Nur die Farbe der Uniformen hatte gewechselt, und die Flaggen, unter denen die Verbrechen verübt wurden.

Ich komme auf Migration zu sprechen, weil sich an diesem Thema in den heutigen liberalen Demokratien viele Debatten entzünden und weil Migration ein gutes Prisma ist, um zu untersuchen, was an den vorherrschenden Auffassungen von Freiheit falsch ist: dass die Freiheit nämlich für die einen gilt, für andere aber nicht. Migration ist aber auch ein Brennglas, mit dem sich ganz allgemein die Beziehung zwischen Freiheit und Fortschritt untersuchen lässt. Wir sind heute so stark miteinander verflochten, dass die Auswirkungen davon, dass Menschen in einem Teil der Welt unter Ungerechtigkeit leiden, auch in anderen Teilen der Welt zu spüren sind. Migrationsbewegungen sind nur eine Folge davon. Die Vorstellung, dass wir einfach die Grenzen dichtmachen oder die Freiheit nur an einem Ort, in einem einzelnen Staat oder einer Gruppe von Staaten, für eine bestimmte Gruppe von Menschen verwirklichen können, kann schon allein deshalb nicht funktionieren. Wir müssen die Freiheit als globale Freiheit und die Demokratie als globale Demokratie begreifen. Aber wie genau?

Freiheit in der Krise

Die Krise der Demokratie, die wir momentan erleben, hat eine merkwürdige Spannung ans Licht gebracht. Zum einen hat sie sämtliche Globalisierungstheorien infrage gestellt, die – oft mit einiger Vorfreude – das Ende des Nationalstaats und den Tod der nationalen Souveränität vorhersagten. Zum anderen zeigt sich nun, wie weit sich die Demokratie von der einzigen Vorstellung von Souveränität entfernt hat, die den Staat moralisch attraktiv macht und demokratisch legitimiert: der Volkssouveränität – der Vorstellung also, dass wir gleichberechtigte Urheber der Gesetze sind, denen wir uns unterwerfen müssen.

Das moderne Ideal der Demokratie beruht auf einem ganz besonderen Legitimationskonzept. Es unterscheidet sich sowohl von dem der Antike, in der die Stadtgemeinde der Ursprung der moralischen Normen war, als auch von dem des Mittelalters und der frühen Neuzeit, als man sich auf das göttliche Recht der Monarchen berief. Der moderne Begriff von Legitimation ist eng mit dem der Freiheit verbunden: Er wird für die Erklärung herangezogen, warum in Freiheit und Gleichheit geborene Individuen bereit sind, ihre gesetzlose Freiheit des Naturzustands aufzugeben und gegen eine Freiheit einzutauschen, die im Zusammenschluss mit anderen Menschen entsteht und durch Gesetze geregelt ist. Diese der Demokratie zugrunde liegende Legitimierung erklärt auch, warum der Staat, und nur der Staat, im Notfall die Befugnis hat, ausgerechnet jene Dinge vorübergehend auszusetzen oder einzuschränken, zu deren Schutz er doch eigentlich existiert: die Freiheit, sich zu bewegen, sich mit anderen zusammenzuschließen oder bei Wahlen seine Stimme abzugeben.

Solche Freiheiten sind in den Gründungsdokumenten der meisten bestehenden liberalen Demokratien rechtlich festgeschrieben. Um die Krisen zu bewältigen, die wir in jüngster Zeit erlebt haben – Finanzkrise, Pandemie, Kriege –, wurden die meisten dieser Freiheiten, wenn nicht sogar alle, im Rahmen von Notmaßnahmen zeitweise ausgesetzt oder eingeschränkt. Ausnahmezustände sind in der Regel Kurzzeitphänomene, aber sie sagen auch etwas Wichtiges über die allgemeine Lage aus. Notstandsregelungen schaffen einen Präzedenzfall für eine neuartige Machtkonzentration in den Händen einiger weniger: der wissenschaftlichen Experten, der Nachrichtendienste sowie der wirtschaftlichen und politischen Eliten, die sich auf die Autorität des Staates stützen, um den Gehorsam aller zu fordern, aber seinen Schutz nur wenigen zukommen lassen.

Die Frage der Freiheit stellt uns daher vor die Herausforderung, im Lichte unserer historischen Erfahrungen neu über die Grundlagen unserer Demokratie nachzudenken. Das Scheitern des Sozialismus in Osteuropa hat uns gelehrt, dass einige Freiheiten nicht verhandelbar sein sollten: Redefreiheit, Gedankenfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Bewegungsfreiheit. Aber wir müssen den Schutz dieser grundlegenden Freiheiten an solide Garantien für gesellschaftliche Freiheiten koppeln, wie zum Beispiel die Entfaltungsfreiheit und die Freiheit, das eigene moralische Potenzial auszuschöpfen. Mit anderen Worten: Die erstgenannten Freiheiten dürfen nicht bedeutungsleer sein. Die Gedankenfreiheit ist wichtig, aber was ist sie wert, wenn die Menschen gar keinen Zugang zur Kultur haben? Was ist das für eine Gedankenfreiheit, wenn alles, worüber wir uns Gedanken machen, durch den Datenfluss von Algorithmen reguliert wird, die nur darauf ausgerichtet sind, dass private Unternehmen damit Gewinne erzielen?

Will man sich ernsthaft mit Freiheit auseinandersetzen, muss man also auch die Grundlagen der Demokratie neu denken. Zu diesem Zweck sollten wir uns die Beziehung zwischen Liberalismus und Kapitalismus ansehen und ihre Verbindung als ein geschichtliches Phänomen betrachten, samt der Versprechungen und Enttäuschungen, die sie mit sich gebracht hat.

Grenzen des Liberalismus

Unter Liberalismus kann man alles Mögliche verstehen, er darf nicht mit Kapitalismus in einen Topf geworfen werden. Der Kapitalismus ist ein Geflecht aus politischen und wirtschaftlichen Beziehungen; der Liberalismus hingegen ein Gerüst aus Ideen. Zwar wäre der Kapitalismus nicht der Kapitalismus, wenn er sich nicht auf liberale Theorien stützen könnte, aber nicht alle liberalen Theorien unterstützen den Kapitalismus. Es gab immer auch progressive Liberale, von John Stuart Mill bis John Rawls, die dem Kapitalismus kritisch gegenüberstanden und sich für alternative Formen der Gesellschaftsordnung wie die Eigentumsdemokratie oder den Sozialliberalismus aussprachen.

Dies bringt den Liberalismus in eine merkwürdige Position: Insofern er mit dem Kapitalismus Hand in Hand geht, ist er ein real existierendes historisches Phänomen. In dem Maße, in dem er von ihm abweicht oder ihm einen ideellen Überbau gibt, ist er hingegen ein gesellschaftliches Ideal. Mit der Politikwissenschaftlerin Judith N. Shklar gesprochen: Der Liberalismus hat eine Kernidee, nämlich die Freiheit, und er hat ein Kernversprechen: die Freiheit von Angst.

So wie ich es sehe, ist der Liberalismus nicht imstande, Angstfreiheit herzustellen, weil liberale Gesellschaften in ihrer Allianz mit kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen ihre ganz eigenen Pathologien hervorbringen. Zwar unterscheiden sich diese Pathologien von den Ängsten vor Despotismus oder Intoleranz, denen sich der Liberalismus entgegenstellt, sie sind aber auf eigene Weise destruktiv.

Sozialisten erklären die Pathologien des Liberalismus gerne mit den materiellen Umständen, in denen die Idee des Liberalismus entstand. Aber schon lange bevor die Sozialisten ihre Kritik formulierten, standen die Spannungen des Liberalismus, selbst in seiner idealen Form, seinen scharfsinnigsten Beobachtern deutlich vor Augen. Die intellektuellen Ursprünge des Liberalismus liegen in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts und in der Kombination dreier Elemente: einer eigenen moralischen Anthropologie, einer Wirtschaftstheorie und einer politischen Theorie. Alle drei brachten die liberalen Visionäre dazu, eine klare Vorstellung davon zu entwickeln, was Macht ist und wie sie ausgeübt werden sollte; sie ließen eine liberale Utopie entstehen, auf deren Verwirklichung wir noch immer warten. Doch in allen drei Bereichen zeigten schon frühe Kritiker die Probleme auf, die liberale Versprechungen zu dem machten, was sie bis heute sind: nichts als Versprechungen.

Betrachten wir zunächst die Anthropologie des Liberalismus. Die Befreiung des einzelnen Individuums vom Joch der Obrigkeit fand viel Beifall, und es entstand ein gefeiertes neues Ideal: die Zivilgesellschaft. Ihre Grundlage war der "doux commerce", wie Montesquieu es nannte, der allgemeine Beitrag des Handels zu materiellem Wohlstand und friedvollen Beziehungen zwischen den Menschen. Doch so sehr man auch begrüßte, dass nun das Individuum im Mittelpunkt stand (der Egoismus des Einzelnen sei sogar Quelle des Gemeinwohls, hieß es), gab es bereits im 18. Jahrhundert bedeutende Kritik an der Handelsgesellschaft und den von ihr hervorgebrachten zerstörerischen psychologischen Neigungen, die da wären: Selbstbezogenheit, Gier, Neid, Misstrauen, Gerangel um eigentlich überflüssige und luxuriöse Güter, Überbewertung des bloßen Scheins, Geltungsdrang, Bedürfnis nach äußerer Anerkennung, Rivalität, Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Schwächsten, ausbeuterisches Verhalten.

Schauen wir uns zweitens die Beziehung zwischen Wirtschaftstheorie und Staatstheorie an. Wie viele der frühen Kritiker feststellten, sangen die Liberalen zwar Hochgesänge auf die Handelsgesellschaft, brauchten aber den Staat, um ihr Fortbestehen zu gewährleisten. Die Liberalen schrieben sich die Erfindung der Menschenrechte und das universelle Ideal der Staatsbürgerschaft auf die Fahnen, die in der französischen und amerikanischen Revolution bejubelt wurden. Auch das Ende der an Grundbesitz gekoppelten Repräsentation und die Zerstörung der Autoritätsstrukturen des Adels und der Kirche verbuchten die Liberalen für sich. Doch dieses universelle Ideal war ständig durch den Konflikt zwischen den Anforderungen der Handelsgesellschaft und denen des Staates bedroht. Einerseits ist der Staat notwendig, um das Privateigentum und die Rechte und Pflichten sicherzustellen, die das Funktionieren der Handelsgesellschaft erst ermöglichen. Andererseits ist der Staat auf die Besteuerung und den Beitrag der Wohlhabenden zu seiner Finanzierung angewiesen, um Ordnung und Stabilität wahren zu können. Aber die Höhe der Besteuerung und der öffentlichen Ausgaben, die notwendig sind, damit die Ungleichheit nicht die Stabilität ins Wanken bringt, kann politisch eine derart spaltende Wirkung entfalten, dass das universelle Ideal bürgerlicher Solidarität Risse bekommt. Die alten Klassen- und Statusunterschiede treten wieder auf, nur in moderner Form. Um dieser Gefahr zu begegnen, lagert der Staat einen Teil seiner Probleme an das internationale Kredit- und Debitorenwesen aus, wodurch die Ungleichheit im eigenen Land notdürftig ausgeglichen werden kann, wenn auch um den Preis anarchischer Verhältnisse auf globaler Ebene.

Liberale Unfreiheit

Dies bringt uns zur dritten Quelle von Angst, die der Liberalismus produziert. Die klassischen Liberalen versuchten, die Rolle des Staates einzudämmen, und feierten die Zivilgesellschaft als eine spontane, nicht-hierarchische Struktur, in der alle gleich sind. Dieses Lob auf die Zivilgesellschaft war eingebettet in eine Stufentheorie der geschichtlichen Entwicklung, die von vielen Proto-Liberalen, darunter Adam Smith, Adam Ferguson und John Millar, vertreten wurde. Für Denker wie Smith besteht die Geschichte im Wesentlichen aus einer Abfolge von materiellen Beziehungen, die sich in unterschiedlichen Produktionssystemen ausdrücken: Zuerst gab es Jäger und Sammler, dann Viehzüchter, dann die Bauerngesellschaft, und als Kulminationspunkt nun die überlegene Handelsgesellschaft. Ein solches Hoffnungsnarrativ und die ihm jeweilig zugrunde liegende geschichtliche Stufentheorie ist jedoch vom Wesen her hierarchisch. Der Preis der liberalen Verheißung eines Triumphs der Zivilgesellschaft besteht aus einer Aburteilung von alternativen Lebensformen (etwa der Jäger und Sammler und der Ackerbauern) als minderwertige Stufen der historischen Entwicklung. In der Folge werden Menschen, die an diesen Gesellschaftsformen festhalten, auf aggressive Weise als primitiv, rückständig und umerziehungsbedürftig diffamiert. Auch hier erzeugt der Liberalismus seine eigene, unverwechselbare Angst, nämlich die Angst vor Kolonialismus und Imperialismus. Das ist keineswegs ein Kollateralschaden, es handelt sich nicht bloß um eine inkonsequente Anwendung liberaler Normen (wie wenn man bestimmte Rechte und Freiheiten für Menschen auf der einen Seite des Planeten einfordert, während man sie anderen verweigert). Es ist vielmehr ein wesentlicher Bestandteil des liberalen Sendungsbewusstseins, die Errungenschaften der Zivilgesellschaft all jenen Menschen angedeihen zu lassen, die selbst vermeintlich nicht in der Lage sind, sie zu verwirklichen.

Liberale zucken bei der Geschichte des Kolonialismus oft mit den Schultern, als hätte diese rein gar nichts mit ihren Idealen zu tun. Aber die Angst vor Kolonialisierung – wie auch vor Neokolonialismus in Form von Schuldenabhängigkeit, dem Diktat internationaler Institutionen, in denen liberale Länder des Westens das Sagen haben, oder "humanitären Interventionen" – ist kein bedauerlicher Nebeneffekt. Diese Angst ist das Ergebnis einer Geschichtstheorie, in der die liberale kapitalistische Gesellschaft die höchste Stufe eines Prozesses darstellt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, rückständige Menschen von ihrer eigenen Beschränktheit und Unterdrückung zu befreien.

All dies wirft die grundlegende Frage nach dem liberalen Verständnis von Freiheit auf und nach ihrem Verhältnis zur Macht. Liberale bemühen sich stets um eine Begrenzung von Staatsmacht, religiösen Autoritäten und jeder Form von kollektiver Organisation, die sich an die individuelle Freiheit heranmacht. In seinem steten Bestreben, Macht aufzuspalten, erzeugt der Liberalismus jedoch seine eigenen charakteristischen Machtstrukturen, seine eigenen Ängste und seine eigene Art von Unfreiheit. Liberale Machtstrukturen haben eher anonymen als personalen Charakter, sie treten eher spontan als geplant in Erscheinung, und die psychologischen Haltungen, die sie festigen, fördern eher Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit anstelle von offener Aggression. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ängste, die der liberale Kapitalismus erzeugt, weniger besorgniserregend oder weniger weit verbreitet wären als die Ängste, die der Liberalismus abzuschaffen versucht. Wenn überhaupt, dann sind sie vielleicht noch perfider. Wo Macht verteilt, spontan und anonym ist, ist es noch schwieriger, sich gegen sie zu behaupten.

Der politischen Rechten ist es gelungen, in diesen Diskursen die Themen zu setzen und uns glauben zu machen, dass die Konflikte, die wir erleben, auf den Gegensatz von liberal-kosmopolitisch versus kommunitaristisch reduzierbar sind. Bislang ist die Rechte damit durchgekommen, weil es ihr gelungen ist, Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass sich die Probleme des Kapitalismus auf Probleme der politischen Zugehörigkeit eindampfen lassen. Wenn man bloß eine Antwort auf die Frage fände, wer wo dazugehört, habe man die Konflikte unserer Zeit gelöst. Aber die Migrationsbewegungen sind, wie ich bereits ausgeführt habe, nicht Ursache der Probleme, sondern eher ein Symptom der Krise. Wenn politischer Fortschritt etwas mit der Herausforderung zu tun hat, die Fehler der Vergangenheit tunlichst zu vermeiden, dann kann Ausgrenzung nicht die Lösung sein. Eine progressive Alternative muss damit beginnen, die Begriffe infrage zu stellen, mit denen der Link zwischen Freiheit und Demokratie im alltäglichen Politikbetrieb diskutiert wird.

Was tun?

Damit wären wir beim Versagen der politischen Linken. Unter politischem Fortschritt werden heute abstrakte Gesetze und Rechtsansprüche verstanden, das heißt die Frage danach, wer die Gesetze formuliert und erlässt, wer einbezogen und wer ausgeschlossen wird. Im Namen des Fortschritts wird nur noch auf die Bedingungen der politischen Mitgliedschaft oder der Zugehörigkeit zu einer Gruppe geblickt. Migration wird als Problem wahrgenommen, weil man die Frage der politischen Zugehörigkeit für die Lösung hält. Kulturkämpfe werden so erbittert geführt, weil es in ihnen um die Kontrolle von Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen geht. Wenn die Linke nicht über Rechtsansprüche und Kulturfragen hinauskommt, um die Verbindung zwischen Demokratie und Kapitalismus neu zu denken, lässt sich schwerlich ausmachen, wie die vorgeschlagenen Lösungen auf lange Sicht nicht alle in irgendeiner Weise auf den Ausschluss von Menschen hinauslaufen sollen (und damit den Rechten in die Hände spielen).

Wie ist eine Erneuerung möglich? Hier sitze ich ein wenig zwischen den Stühlen. Einerseits glaube ich an das Projekt der Aufklärung in Form kritischer Geistesarbeit, an das Aufzeigen moralischer Doppelstandards, an das Aufdecken von Widersprüchlichkeiten zwischen dem Ideal der Freiheit und seiner Verwirklichung in unseren Institutionen. Außerdem glaube ich, dass Freiheit mit moralischer Handlungsfähigkeit verbunden ist: Mir geht es nicht um die Freiheit der längst vergangenen sozialistischen Welt oder um die Freiheit des problembehafteten Kapitalismus, sondern um ein Bewusstsein für unsere moralische Verantwortung gegenüber anderen, um die Pflicht, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und anzuerkennen, was wir künftigen Generationen schulden – und zwar in einer Weise, die einer echten Demokratie, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, auf globaler Ebene den Rücken stärkt.

Andererseits bin ich aber auch Materialistin. Wir leben in einer Welt der Ungerechtigkeit, die durch namenlose gesellschaftliche Strukturen stetig reproduziert wird, und in der die bestehenden Institutionen nur die vorherrschenden Machtverhältnisse widerspiegeln. Wenn wir also nicht kollektiv etwas an den materiellen Anreizen ändern, wenn wir den Markt nicht demokratisieren, wenn wir die politischen Institutionen nicht umgestalten, wird es immer eine Kluft geben zwischen der Welt, wie sie sich uns darbietet, und der Welt, wie sie sein sollte. Moralisch gesehen ist eine Welt voller Ungleichgewichte – in der Verteilung von Macht, von Bewegungsmöglichkeiten, von materiellen Ressourcen, von Wissensproduktion – keine freie Welt. Und eine Welt, in der nicht jeder frei ist, ist eine Welt, die für niemanden wirklich frei sein kann.

Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff, Dresden

ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics (LSE) und Professorin für Philosophie an der Australian National University in Canberra.