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Wie resilient ist unsere Demokratie?

Wolfgang Merkel

/ 17 Minuten zu lesen

Die liberale Demokratie steht unter Druck, ihre Qualität hat in den vergangenen Jahren weltweit teils signifikant nachgelassen. Gleichwohl sind Demokratien der Regression nicht hilflos ausgeliefert. Sie besitzen Resilienzpotenziale, die aber aktiviert werden müssen.

Demokratien sind zerbrechlich. Davon zeugen die beiden großen Autokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts (1922–1942; 1974–1985), die vor allem junge Demokratien hinweggespült haben. Die erste Welle führte krisen- und ideologiegetrieben zu faschistischen und stalinistischen Regimen in Europa. Die zweite Welle begrub die demokratischen Regierungsversuche in Lateinamerika und Asien unter sich. Ihre Akteure waren meist rechte, auf Law and Order bedachte Militärs. In beiden Wellen hatten die jungen demokratischen Regime den Wirtschaftskrisen, der Ideologie, der militärischen Macht, der internen Violenz und den radikalen Parteien wenig entgegenzusetzen. Die Demokratien erwiesen sich nicht als hinreichend resilient. Aber auch die zweite autokratische Gegenwelle erhielt eine demokratische Antwort. Mit dem Fall der letzten westeuropäischen Diktaturen in Portugal, Griechenland und Spanien 1974/75 begann eine 15 Jahre anhaltende Demokratisierung der Welt, die auch viele autokratische Regime in Lateinamerika, Asien und Afrika einstürzen ließ. Ihr Höhepunkt war das annus mirabilis 1989, als sich mit dem Kollaps des Sowjetimperiums viele Nachfolgestaaten auf den Weg zu Kapitalismus und Demokratie machten. Doch auch dies war keineswegs das "Ende der Geschichte". Die neue Demokratisierungswelle stagnierte um das Jahr 2000 herum und lief im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aus. Seit 2008 verlieren die politischen Regime der Welt Jahr für Jahr an demokratischer Qualität. Dies gilt auch für die besten rechtsstaatlichen Demokratien.

Regression

Allerdings erfüllt die seit 2008 anhaltende demokratische Regression nicht die klassischen Definitionskriterien einer Autokratisierungswelle. Dafür müsste sich eine statistisch signifikant höhere Zahl der Regimeübergänge von Demokratien hin zu Autokratien als vice versa erkennen lassen. Dies ist nicht der Fall. Dennoch werden wir gegenwärtig Zeugen von weniger dramatischen, aber dennoch unübersehbaren Demokratieverlusten politischer Systeme. Sie zeigen sich in so unterschiedlichen Ländern wie der Türkei, Polen, Ungarn, Italien, Brasilien, Israel oder den Vereinigten Staaten von Amerika. Die besten Zeiten der Demokratie, auch in ihrer entwickelten rechtsstaatlichen Form, scheinen zunächst vorbei zu sein.

Sechzehn Jahre des kontinuierlichen Qualitätsverlusts selbst der besten Demokratien markieren einen robusten Trend. Wir reden nicht mehr wie noch vor zwei Dekaden über den weltgeschichtlichen Triumph liberaler Ordnung oder die "Demokratisierung der Demokratie", sondern über deren Herausforderung, Gefährdung, Erosion oder Regression. Aber gerade dies ist das Neue und Überraschende: Die Erosion der demokratischen Qualität trifft nicht nur hybride Regime wie das Ungarn Orbáns, das Polen Kaczyńskis, Indien unter Modi oder die Türkei Erdoğans, sondern zunehmend auch reife, etablierte Demokratien wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Österreich und mit Abstrichen auch Deutschland.

Wie der Abwärtstrend der Demokratie begrifflich am treffendsten gefasst werden kann, darüber gibt es unter Demokratieforschern keine Einigkeit. Das ist keineswegs trivial, denn Begriffe beeinflussen Analysen und nähren Narrative, die wiederum Einstellungen der Bürger füttern und politische Entscheidungen prägen. Jahrelange öffentliche und wissenschaftliche Diskurse über die Krise der Demokratie bleiben haften und treiben die Entwicklung der Demokratie selbst. Insbesondere demokratietheoretische Abhandlungen bevorzugen kontrastreiche Begriffe und münden häufig in apodiktisch-negativen Gegenwarts- und Zukunftsdiagnosen. Dann ist von "Life and Death of Democracy", "End of Democracy", "Democracy in Retreat", "How Democracies Die", "Democracy Disfigured", "Crisis of Democracy" und, vorsichtiger, "Demokratie und Krise" die Rede. Aber selbst empirische Studien können sich dem Sog negativer Trendaussagen mittlerweile nur noch selten entziehen. Die Entwicklungsbeschreibungen lauten dann: Autokratisierung, Erosion und Regression. Nimmt man die aus der Medizin entlehnte Metaphorik der Krise ernst, ist zwar offen, ob Tod oder Genesung den Ausgang markieren, aber der Begriff birgt doch eine existenzielle Dramatik, die weder für Finnland, Dänemark, Kanada, Deutschland oder Frankreich noch für Großbritannien und nicht einmal die USA eine überzeugende Interpretation liefert. Belegen wir diese etablierten Demokratien alle gleichermaßen mit dem Begriff "Krise", dann ist dieser für Länder wie Ungarn, Bulgarien, die Philippinen oder Brasilien verbrannt.

Mein Plädoyer heißt deshalb: die Begrifflichkeit entdramatisieren und nicht undifferenziert von "der" Demokratie im Singular sprechen. Dies bedeutet nicht Entwarnung. Doch sollten wir bei aller Erosion oder Regression auch in der Lage sein, gegensätzliche Trends zu erkennen, die gleichzeitig, in ein und derselben Demokratie, auftreten. Denn die unterschiedlichen Varianten der Krisenliteratur haben eines gemeinsam: Sie fokussieren häufig einseitig auf die Krisenseite und viel seltener auf die Resilienz der Demokratie. Insofern haben wir es nicht selten mit einer halbierten Regimeanalyse zu tun. Im Übrigen sollten wir jenseits des beliebten Geschäfts, immer nur die Krisen zu beschreiben, auch darüber nachdenken, wo die Resilienzpotenziale stecken – und wie wir aus der zweifellosen Malaise der Demokratie herauskommen

Resilienz

Was aber ist "Resilienz", und wie lässt sich dieses Schlüsselkonzept unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen auf die Analyse demokratischer politischer Regime anwenden? Dazu definiere ich "demokratische Resilienz" als die Fähigkeit eines demokratischen Regimes, externe Herausforderungen und interne Stressoren zu absorbieren und sich den wandelnden funktionalen Bedingungen demokratischen Regierens dynamisch anzupassen, ohne in einen Regimewandel zu geraten oder seine definierenden Prinzipien, Funktionen und Normen aufzugeben oder zu beschädigen.

Grundsätzlich geht es darum, Institutionen, Akteure, Handlungen und systemische Output-Funktionen aufeinander zu beziehen. Die Art und Weise der Interaktion von Akteuren und Strukturen, insbesondere der Institutionen, entscheidet mit darüber, wie effektiv und demokratisch politische Regime auf externe Herausforderungen und aufziehende Krisen reagieren können (Abbildung).

In der Abbildung sind beispielhaft vier große Herausforderungen genannt, mit denen liberaldemokratische Systeme heute in der westlichen Welt konfrontiert sind. Dies sind keineswegs die einzigen. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine etwa zählt ebenso zu diesen Herausforderungen, für die Deutschland und die anderen europäischen Staaten demokratiekompatible Lösungen finden müssen.

Strukturen und Akteure

Vier institutionelle Ebenen beschreiben die fundamentalen Politikarenen. Ihre formellen wie informellen Normen ermöglichen den politischen wie gesellschaftlichen Akteuren eine demokratischen Grundsätzen verpflichtete, friedliche Interaktion. Ihr Doppelcharakter besteht darin, dass sie sowohl von Wettbewerb wie von Kooperation geprägt sind. Die Balance zwischen beiden entscheidet mit über die Qualität und Resilienz der Demokratie.

Ebene 1: Konstitutionelle Gewalten

Im Zuge von Globalisierung und Europäisierung hat sich in vielen demokratischen Staaten die Machtbalance zwischen Exekutive, Legislative und Judikative verschoben. Insbesondere die Exekutive hat von der anhaltenden "Denationalisierung" der Politikgestaltung profitiert, denn es sind vor allem die Regierungen, die die Beschlussfassung bei den G 7, G 20, der Welthandelsorganisation (WTO) oder der Europäischen Union (EU) bestimmen. Nationale Parlamente bleiben von diesen Entscheidungsarenen weit entfernt und haben infolgedessen einen schleichenden Machtverlust erlitten.

Verstärkt wird diese Machtverschiebung durch spezifische Politikmuster bei der Bekämpfung einschneidender Krisen wie der Finanzkrise 2008 oder der Covid-19-Pandemie. Im Falle der Corona-Pandemie zog die Exekutive in Deutschland wie in anderen europäischen Demokratien auf dem Verordnungsweg oder über notstandsähnliche Befugnisse weitere Entscheidungsgewalt an sich. Sie begründete dies meist mit einem der Krise geschuldeten Zeitdruck, der keine "zeitraubenden" Parlamentsdebatten zulasse. Die informellen Treffen der Ministerpräsidenten der Länder im Kanzleramt traten in der Entscheidungsproduktion teilweise an die Stelle des Bundestags. Demokratietheoretisch bedeutete dies, dass die Legitimationsquelle des partizipativen In- und Throughputs von Bürgern und Parlamenten zugunsten des Outputs, verstanden als Problemlösung durch die Exekutive, zurückgefahren wurde.

Mit Blick auf demokratische Resilienz muss es also nicht zuletzt darum gehen, die in Zeiten von Transnationalisierung und externen Krisen privilegierte Position der Exekutive durch gut funktionierende Legislativen und Judikativen wieder einzuhegen. Gerade das Parlament als der legitimierende Kern der repräsentativen Demokratie muss wieder gestärkt werden; für die Klimapolitik beispielsweise sollte die teilweise entparlamentarisierte Pandemiepolitik keine Blaupause sein. Die Judikative wiederum erwies sich in der Covid-19-Krise als resilienter als die Parlamente. Gerade die Verwaltungsgerichte verweigerten sich dem exekutiven Handlungs- und Geschwindigkeitsimperativ, indem sie immer wieder Verordnungen der Behörden aufhoben. Seit dem Ende der Pandemie scheinen die drei Verfassungsgewalten ihre Balance wieder gefunden zu haben. Allerdings hat eine rechtsstaatliche und demokratische Aufarbeitung der Corona-Politik bislang nicht stattgefunden. Für eine zukünftige Krisenpolitik muss gelten, dass politische Entscheidungen stärker an Grundrechte und die basalen demokratischen Normen rückgebunden bleiben – eine grundsätzliche Bedingung für die Resilienz der Demokratie.

Ebene 2: Parteien und Parteiensysteme

Die durchschnittliche Beteiligung der wahlberechtigten Bevölkerung an Bundestagswahlen betrug in Deutschland zwischen 2000 und 2023 75,3 Prozent. Damit liegt sie deutlich über dem Durchschnitt der nationalen Parlamentswahlen innerhalb der EU für denselben Zeitraum, der bei 67,3 Prozent lag. Das ist für Deutschland keine herausragende, aber doch eine deutlich überdurchschnittliche demokratische Legitimation über die Wahlurnen. Gleichzeitig zeigen Umfragen seit Jahren dramatisch niedrige Vertrauenswerte der Bürgerinnen und Bürger für politische Parteien. Viele Mitglieder haben in den vergangenen zwanzig Jahren den Parteien den Rücken gekehrt oder sind ihnen weggestorben. Nicht zuletzt die Wahlerfolge der Rechtspopulisten seit der Bundestagswahl 2017 deuten auf eine zunehmende Repräsentationsschwäche der etablierten demokratischen Parteien hin. Rechtspopulistische Parteien sind, in den Worten des spanischen Politikwissenschaftlers Juan Linz, typischerweise "semi-loyal" gegenüber der Demokratie, in manchen Ländern haben sie gar antisystemischen Charakter angenommen. Dies trifft auch auf Teile der AfD zu, vor allem in Ostdeutschland. Die demokratischen Parteien sollten daher darauf zielen, die Protestwähler der Rechtspopulisten zurück ins demokratische Lager zu ziehen und gleichzeitig die offen antidemokratischen Funktionäre der AfD zu isolieren.

Die AfD verbieten zu wollen, würde gleichwohl bedeuten, dem Illiberalismus mit illiberalen Methoden zu begegnen. Auch demokratietheoretisch wäre es nicht unproblematisch, etwa 20 Prozent des Elektorats die gewählte Repräsentanz zu nehmen; erhebliche Teile des demokratischen Souveräns würden so in ihren Wahlpräferenzen eingeschränkt. Nicht alles, was verfassungsrechtlich möglich ist, muss auch allen Kriterien demokratischer Legitimität standhalten. Zudem könnten sich die etablierten Parteien auf diese Weise zu schnell ihrer demokratischen Pflicht entledigen, ihre eigene Repräsentationsschwäche zu reflektieren und gegebenenfalls Reformen einzuleiten, die ihre Responsivität gegenüber dem Souverän verbessern. Der Vorteil funktionierender Demokratien, aus Wahlniederlagen lernen zu können, würde fahrlässig aufgegeben. Kein Zweifel: Der autoritäre Angriff auf die liberalen Komponenten der rechtsstaatlichen Demokratie geht in Deutschland gegenwärtig von der AfD aus. Der Ruf nach einem Parteiverbot oder nach der Verwirkung von Grundrechten zeigt gleichwohl ein illiberal verengtes Verständnis der wehrhaften Demokratie. Es stärkt diese nicht, sondern droht ihren liberalen Charakter zu erodieren.

Resiliente Demokratien benötigen starke, demokratieloyale und kooperationsbereite Parteien in Regierung und Opposition. Die demokratischen Parteien des Verfassungsbogens sind auf der Bundesebene eine feste conventio ad excludendum eingegangen. Von einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene ist die AfD auch deswegen meilenweit entfernt. Dies unterscheidet Deutschland von vielen anderen EU-Mitgliedstaaten. Zwischen 2000 und 2024 saßen rechtspopulistische Parteien in 28 Regierungskabinetten von 15 Ländern. Die koalitionäre "Brandmauer" gegenüber der AfD auch auf Länderebene durchzuhalten, wird schwieriger werden, würde die Demokratie insgesamt aber ebenfalls stärken. Allerdings dient auch die Überdramatisierung der rechtspopulistischen Gefahr nicht der demokratischen Resilienz, sondern erhöht vor allem die Präsenz der AfD in Medien und Öffentlichkeit. Der mit Rekurs auf Weimarer Verhältnisse wohlgemeinte Ruf "Wehret den Anfängen" ist deplatziert. Anders als in der Weimarer Republik nach 1930 gibt es in der Bundesrepublik Deutschland von 2024 keine klare zentrifugale Tendenz hin zu den antisystemischen Polen des Parteiensystems. Weder ist die AfD schlicht ein Wiedergänger der NSDAP, noch sind die Linke oder das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auch nur annähernd mit der stalinistischen KPD gleichzusetzen.

Ebene 3: Zivilgesellschaft und Diskurse

In den drei zurückliegenden Dekaden konnte die reale Zivilgesellschaft nicht mit der Karriere ihres idealisierten Begriffs Schritt halten. In der Theorie musste sie häufig als Residualheilmittel für alle denkbaren Malaisen der Demokratie herhalten. Die Empirie verzeichnete ihrerseits meist eine Flucht aus kleinen Vereinen und großen Verbänden. Gleichzeitig gewannen politische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die explizit politische Zivilgesellschaft an Stärke. Dies gilt auch für Deutschland. NGOs und Zivilgesellschaft haben ihre unbezweifelbare Kraft im Aktivismus sowie der extraparlamentarischen Kontrolle der Mächtigen und Herrschenden. Sie bilden als politische watchdogs den Kern der monitory democracy. Die breiten gesellschaftlichen Brückenfunktionen der klassischen Vereine und Verbände können diese politisierten NGOs jedoch kaum übernehmen, zumal sie vor allem von jungen, gebildeten Mittelschichten getragen werden.

Die Zivilgesellschaft besteht aber keineswegs nur aus diesen politisch wie sozial avantgardistischen Organisationen. Sie kann über diese hinaus in besonderen Situationen ein erhebliches Mobilisierungspotenzial aktualisieren. Die großen Demonstrationen gegen die nationalistische und fremdenfeindliche Rechte im Anschluss an ein obskures Treffen von Rechtsradikalen in Potsdam Ende 2023 zeigten, dass die sogenannte schweigende Mehrheit der Gesellschaft ihr Schweigen auch brechen und mit Entschiedenheit für die Demokratie eintreten kann. Man kann darin durchaus einen republikanischen Moment der demokratischen Zivilgesellschaft sehen: Es war die Antwort auf die dunkle Seite der Zivilgesellschaft, die sich längst in Deutschland gesammelt und organisiert hat. Pegida, Reichsbürger, rechtsradikale Vernetzung in der Fläche wie in sozialen Netzwerken brauchen in einer resilienten Demokratie auch jenseits der Vereinsverbote durch die Exekutive eine breite zivilgesellschaftliche Antwort.

Durch kollektives Handeln der Bürgerinnen und Bürger entsteht unter ihnen Vertrauen. Solch horizontales Vertrauen kann man als "soziales Kapital" betrachten, das als moralische Ressource für demokratische Gesellschaften äußerst wertvoll ist. In der politikwissenschaftlichen Diskussion wird in Anschluss an den Politikwissenschaftler Robert Putnam zwischen "bonding" und "bridging" social capital unterschieden. Gründet sich bonding social capital auf ethnische, religiöse, weltanschauliche, klassenspezifische oder sexuelle Identitäten, kann es zu einer Segmentierung der Gesellschaft führen. Zwar wird die Vertrauensbeziehung in einer identitären Ingroup enger, die Gräben zu anderen Ingroups dafür aber umso tiefer. Dieser Trend lässt sich in den USA beobachten, aber auch in Deutschland. Gefragt sind in pluralen, diversen und multiidentitären Gesellschaften hingegen Brücken zwischen den einzelnen Gruppen. Es ist das soziale Brückenkapital, das das gesamtgesellschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt.

Ebene 4: Politische Gemeinschaft

E pluribus unum oder zeitgemäßer diversity in community – das ist die Wunschformel demokratischer Gemeinschaftsbildung gerade im 21. Jahrhundert. Die westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften sind divers und von unterschiedlichen Identitäten geprägt. Dies bietet ein reiches Reservoir an kultureller Kreativität und demokratischem Pluralismus – zumindest dann, wenn es gelingt, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Identitäten in einer toleranten Gesellschaft zu vereinen. Nur dann können sich deren Mitglieder als wechselseitig anerkannt begreifen und einem größeren Ganzen zugehörig fühlen. Wenn aber Identitäten, seien sie nationalistischer, religiöser, sexueller oder weltanschaulicher Provenienz, intolerante Ausprägungen annehmen und keinen Sinn für das notwendig Gemeinschaftliche entwickeln, verliert die politische Demokratie ihre soziale Basis. Sie zerfällt.

Gerade in öffentlichen Diskursen sollten wir die unterschiedliche Relevanz wieder unterscheiden lernen, die zwischen der – durchaus wichtigen – Anerkennung beispielsweise geschlechtlicher Identitäten und dem flächendeckenden, gerechtigkeitstheoretischen Skandal existiert, dass die kapitalistische Demokratie der Ober- wie Unterschicht eine nicht legitimierbare "Bestandsgarantie" gibt: Die oberen 20 Prozent der Gesellschaft bleiben in aller Regel sozioökonomisch "oben", die unteren 20 Prozent in aller Regel "unten". Anerkennungs- und Verteilungsfragen schließen sich nicht aus und sollten schon gar nicht gegeneinander ausgespielt werden. Kritisch verweisen darf man jedoch auf die Schwerpunkte einer öffentlichen Debatte, die sich auf avantgardistische Identitätsfragen kapriziert, der Advokatur des unteren Bildungsdrittels und dessen traditionalistischen Wertvorstellungen jedoch nichts abgewinnen kann.

Braucht die politische Gemeinschaft für ihre resiliente Selbstbeschreibung ein Identitätsnarrativ? Ein nationalistisch-chauvinistisches, wie es die Rechtspopulisten aller Länder zu evozieren suchen, bestimmt nicht. Der Versuch, dieses zu schreiben, hat im vergangenen Jahrhundert nichts als eine Blutspur durch Europa gezogen. Dolf Sternberger und später Jürgen Habermas haben nicht zuletzt deshalb dem "dicken" ethnisch-nationalistischen Narrativ des völkischen Nationalismus das "dünne" Identitätsangebot des Verfassungspatriotismus entgegengestellt. Doch so demokratieaffin dieses Angebot auch sein mag: Es erscheint zu intellektuell, um den Menschen einer Massengesellschaft ein krisenfestes Zusammengehörigkeitsgefühl zu vermitteln. Zumindest muss es durch eine soziale Dimension ergänzt werden. Wenn es gelingt, die großen Transformationen der 2020er Jahre so zu organisieren, dass in einer offenen Gesellschaft über faire Institutionen und Verfahren eine gerechte Verteilung der Lasten, Güter und Lebenschancen möglich wird, dann könnte unsere Gesellschaft eine Art demokratische Sattelzeit für das 21. Jahrhundert erleben. Ich gebe zu: eine Utopie – aber immerhin eine schöne.

Resilienzfunktionen

Politische Akteure, insbesondere Regierungen, müssen innerhalb institutioneller Möglichkeitsstrukturen Probleme lösen und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger erfüllen: Sie müssen "liefern". Tun sie das nicht, erodiert nicht nur ihre eigene, sondern auch die Legitimität des gesamten demokratischen Systems. Um dies zu verhindern, sind von den politischen Entscheidungsträgern vor allem drei Resilienzfunktionen zu erfüllen: Sie müssen die Zukunft verstehen, Probleme lösen und fair entscheiden.

Die Zukunft zu verstehen und langfristig zu handeln, ist eine der Schwachstellen der Demokratie. Die relativ kurzen Legislaturperioden und zyklischen Wahlen suggerieren eine kurzfristige Wettbewerbslogik unter den Parteien. Politiken, bei denen wie etwa in der Klima- oder Umweltpolitik zunächst die Kosten anfallen und Erfolge sich erst längerfristig einstellen, nützen bei den nächsten Wahlen häufig der Opposition. Diese Konkurrenzlogik zwischen Regierung und Opposition kann in einer Demokratie nicht beliebig an- und ausgeschaltet werden. Regierungen können bei großen Reformprojekten jedoch versuchen, breite Policy-Koalitionen zu bilden. Dies gilt besonders für die Klimapolitik.

Klima- und Corona-Politik machen uns zudem darauf aufmerksam, dass die Wissenschaft in Zukunft eine noch größere Rolle bei der Politikformulierung spielen wird. Das Motto Follow the Science ist dennoch zu einfach. Denn in einer Demokratie tragen die gewählten Repräsentanten die Verantwortung für ihr Handeln, nicht "die" Wissenschaft, die es im Singular und der damit verbundenen Gewissheit auch gar nicht gibt. Stattdessen muss es darum gehen, sich der Wissenschaft zu öffnen und dennoch die politische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen. Um die Zukunft zu verstehen, braucht die resiliente Demokratie eine beständige, aber stets "lose Kopplung" der Teilsysteme Wissenschaft und Politik. Dadurch wird die Gefahr einer wechselseitigen Indienstnahme verringert.

Probleme lösen: Aus Umfragen und Survey-Experimenten lässt sich lernen, dass Bürgerinnen und Bürger gerade in Krisenzeiten dem Output gegenüber dem Input eine systemische Präferenz einräumen. Das heißt nicht, dass der partizipatorische Input oder die demokratischen Entscheidungsverfahren nicht mehr zählten. Wenn aber die Wahrnehmung in der Bevölkerung sich verstärkt, dass nachhaltige Problemlösungen verschleppt werden, weil "zu viele" Kontrollinstanzen, Vetoakteure, rechtsstaatliche Verfahren oder Kompromisse eindeutige Entscheidungen verhindern oder verzögern, sind Teile des Demos bereit, diese demokratischen Verfahren zu verkürzen oder gar auszuschalten, wenn dadurch ihren politischen Ergebniserwartungen entsprochen wird. Dies gilt über die politischen Milieus hinweg: Rechte und Konservative etwa lassen eine solche Haltung für die Migrationspolitik erkennen, Liberale für die Steuerpolitik und Linke und Grüne für die Klimapolitik oder LGBT-Belange.

Wird die Performanz einer Regierung als unzureichend wahrgenommen, gibt es in der Demokratie eine einfache Lösung: Man wählt bei nächster Gelegenheit die Opposition. Wird auch dieser nicht viel mehr Lösungskompetenz zugesprochen, wie das gegenwärtig in der Bundesrepublik der Fall zu sein scheint, wendet sich ein Teil der Wählerinnen und Wähler der radikaleren, häufig allenfalls semidemokratischen Opposition zu. Dafür schlicht die "Mediokrität" des politischen Personals verantwortlich zu machen, wäre jedoch zu einfach. Die großen Probleme der Gegenwart (Klima, Kriege, Migration) tragen supranationalen Charakter, ihre Lösung braucht Zeit. Wenn überhaupt, können sie nur über internationale Kooperation gelöst werden.

Fair entscheiden: Probleme müssen in einer Demokratie nicht nur effizient, sondern auch fair gelöst werden. In Zeiten großer Transformationen wie jener von der fossilen hin zur postfossilen Produktions- und Konsumptionsweise fallen in der Regel erhebliche wirtschaftliche und soziale Kosten an. In solchen Krisen findet häufig die alte Faustregel ihre Bestätigung, dass es die untere Einkommenshälfte der Gesellschaft ist, die subjektiv wie objektiv die größten Lasten zu tragen hat. Chancen und Risiken sind während solcher krisenhaften Übergangszeiten typischerweise ungleich verteilt. Wird das den unteren, vulnerablen Schichten bewusst, verweigern sie solcher Politik die Folgebereitschaft. Dass dies auch quer durch die sozialen Schichten geschehen kann, wurde am öffentlichen Widerstand gegen den ersten Entwurf des Gebäudeenergiegesetzes deutlich. Das überabeitete Gesetz konnte zwar verabschiedet werden, die sozialen und politischen Kosten sind allerdings noch gar nicht angefallen. Dies wird erst passieren, wenn die alten Öl- und Gasheizungen tatsächlich ausgetauscht werden müssen. Damit die Krisen- und Transformationskosten nicht zu ungleich verteilt sind, werden zukünftige Bundesregierungen mit Ausgleichzahlungen die demokratische Geduld der Bürger "subventionieren" müssen. In Zeiten knapper Kassen wird auch dies zu Konflikten führen.

Schluss

In Zeiten großer Transformationen, multipler Krisen und prosperierendem Rechtspopulismus wächst dem Staat und den politischen Eliten eine besondere Verpflichtung zu. Die Resilienz der Demokratie stellt sich nicht einfach qua normativer Überlegenheit gegenüber autoritären Regierungsweisen ein, sondern sie wird gerade in nächster Zukunft in erheblichem Ausmaß von der Leistungsbilanz der Regierungen abhängen. Diese muss von möglichst großen Teilen der Bevölkerung als effizient und fair wahrgenommen werden.

Das wird nicht einfach. Die Herausforderungen treffen in Deutschland aber auf eine Demokratie, die seit Langem zu den besten 15 Demokratien der Welt zählt. Nach 75 Jahren Grundgesetz und mit einer vitalen Zivilgesellschaft und einer der stärksten Volkswirtschaften weltweit ausgestattet, sind die normativen und ökonomischen Ressourcen vorhanden, um gut durch die schwierigen Zwanzigerjahre zu kommen. Gefragt sind Fairness und Regierungskunst. Diese zu wagen, wird nicht zur Erosion der Demokratie führen, sondern ihre Resilienz stärken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991, S. 13ff.; Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden 20102.

  2. Dieser Beitrag orientiert sich stark an Wolfgang Merkel, Demokratie und Resilienz, in: ders., Im Zwielicht. Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2023, S. 334–362, geht aber deutlich darüber hinaus, indem er das dort entwickelte theoretische Konzept der Resilienz konkret auf die Demokratie in Deutschland anwendet.

  3. Vgl. Varieties of Democracy (V-Dem), Externer Link: http://www.v-dem.net.

  4. Vgl. Huntington (Anm. 1), S. 15.

  5. Der Regierungswechsel von der semi-autoritären PiS (Recht und Gerechtigkeit) hin zur liberaldemokratisch geführten Mehrparteienregierung von Donald Tusk (Kabinett III, seit 2023) bedeutet nur den Start und nicht schon die Wiederherstellung liberaldemokratischer Verhältnisse in Polen.

  6. Vgl. u.a. John Keane, Life and Death of Democracy, London 2009; Joshua Kurlantzick, Democracy in Retreat, London–New Haven 2013; Christophe Buffin de Chosal, The End of Democracy, Milton Keynes 2014; Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, How Democracies Die, New York 2018; Nadia Urbinati, Democracy Disfigured. Opinion, Truth, and the People, Cambridge, MA 2014; Adam Przeworski, Crisis of Democracy, Cambridge 2019; Wolfgang Merkel (Hrsg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015.

  7. Vgl. Armin Schäfer/Michael Zürn, Die demokratische Regression, Frankfurt/M. 2021; V-Dem (Anm. 3).

  8. Vgl. Merkel (Anm. 2). Im Folgenden werden Passagen hieraus übernommen, vgl. insbes. S. 345ff. Siehe auch Anna Lührmann/Wolfgang Merkel (Hrsg.), Resilience of Democracies: Responses to Illiberal and Authoritarian Challenges, Democratization 5/2021 (Special Issue).

  9. Damit beziehe ich mich im Kern auf Fritz Scharpf und den von ihm und Renate Mayntz entwickelten "akteurzentrierten Institutionalismus". Vgl. Fritz W. Scharpf, Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Opladen 2000; Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt/M. 1995, S. 39–72.

  10. Vgl. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, Frankfurt/M. 1998.

  11. Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Wie resilient ist unsere "Politische Kultur"?, in: Der Staat 3/2021, S. 473–493.

  12. Vgl. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), PPEG Database 2024, Externer Link: https://ppeg.wzb.eu.

  13. Vgl. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1929; zur Gegenposition siehe Karl Löwenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights I, in: American Political Science Review 3/1937, S. 417–432.

  14. Vgl. Wolfgang Merkel, Die Fallstricke der wehrhaften Demokratie, 29.3.2024, Externer Link: https://verfassungsblog.de/die-fallstricke-der-wehrhaften-demokratie.

  15. Eigene Recherche. Da es kein offizielles Siegel rechtspopulistischer Parteien gibt, ist die reale Subsumption von politischen Parteien unter den Begriff "Rechtspopulismus" immer auch von subjektiven Einschätzungen bestimmt.

  16. Vgl. u.a. Robert Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; Michael Edwards (Hrsg.), The Oxford Handbook of Civil Society, Oxford 2011.

  17. Vgl. John Keane, Power and Humility: The Future of Monitory Democracy, Cambridge 2018.

  18. Vgl. Sascha Kneip/Wolfgang Merkel, Demokratische Legitimität. Ein theoretisches Konzept in empirisch-analytischer Absicht, in: dies./Bernhard Weßels (Hrsg.), Legitimitätsprobleme. Zur Lage der Demokratie in Deutschland, Wiesbaden 2020, S. 25–55.

  19. Vgl. Merkel (Anm. 2), S. 245ff.

  20. Vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1984.

  21. Vgl. Milan W. Svolik et al., In Europe, Democracy Erodes from the Right, in: Journal of Democracy 1/2023, S. 5–20.

  22. Nur 33 Prozent der Befragten waren im Mai 2024 mit der Arbeit der Ampelkoalition zufrieden. Aber ebenfalls nur 34 Prozent glaubten, dass eine Regierung unter Führung der Union es besser machen würde. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Mai 2024, Externer Link: http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2024/Mai_2024/.

  23. Vgl. V-Dem (Anm. 3).

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ist Professor (em.) für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor (em.) der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).