Auch eingefleischte Anhänger der Demokratie sind mittlerweile der Meinung, dass es um sie nicht gut bestellt ist.
Solche Diagnosen fallen auf den fruchtbaren Boden einer sich verdüsternden öffentlichen Meinung. Diese spiegelt die negativen Erfahrungen mit den Krisenkaskaden der jüngeren Vergangenheit wider sowie den Umstand, dass sich die Zukunftserwartungen eingetrübt haben. Die Demokratie wird geplagt durch die Gleichzeitigkeit von Erfahrungsverschlechterung und Erwartungseintrübung. Mit zwei Begriffen des Historikers Reinhart Koselleck ausgedrückt: Nicht nur der Erfahrungsraum, sondern auch der Erwartungshorizont der Demokratie hat sich verdunkelt.
Die öffentliche Meinung – und weit mehr noch die lebensweltliche, im Privaten geäußerte – ist hierzulande derart skeptisch eingestellt, dass der "Wir schaffen Demokratie!"-Diskurs zur Revitalisierung des Glaubens an die Zukunft dieser Herrschaftsform manchmal etwas Gespenstisches an sich hat. Der weiterhin existierende optimistische Diskurs über die Vorzüge demokratischer Herrschaft ist zwar keineswegs verstummt, aber er wirkt doch meist pflichtschuldig oder zweckoptimistisch bemüht – und nur selten authentisch oder inspirierend. Das wirft die Frage auf, ob der Glaube an die Sache der Demokratie wirklich noch so tief verankert ist, wie uns engagiert-appellative Sachbücher, öffentliche Erklärungen von Politikern und die Ergebnisse der Demoskopie nahelegen.
Zwei Einwände
Gegen den Demokratiepessimismus werden meist zwei Einwände formuliert. Der erste lautet: Das alles könnte stimmen, aber solange keine attraktivere und leistungsfähigere Alternative auf den Plan tritt, wird die Demokratie Bestand haben. Und davon seien wir schließlich weit entfernt. Schon der britische Premierminister Winston Churchill soll gewusst haben, dass die Demokratie die schlechteste aller Herrschaftsformen ist – mit der Ausnahme aller anderen bislang ausprobierten. Der Einwand läuft also darauf hinaus, dass die Demokratie, realistisch betrachtet, eigentlich die beste Herrschaftsform ist. Und was erwiesenermaßen das Beste ist, das bleibt bestehen.
Aber stehen Bürgerschaft und Eliten auf demselben Stand des geschichtlichen Bewusstseins wie einst Churchill? Die ernüchternden Ergebnisse der empirischen Forschung zum Niveau des politischen Wissens legen nahe, dass ein Teil der Bürgerschaft relativ wenig darüber weiß, wie die Demokratie institutionell funktioniert, was ihre grundlegenden Prinzipien sind oder welche Programme die Parteien zur Wahl stellen – und folglich auch darüber, was demokratische von undemokratischen Herrschaftsformen unterscheidet.
Ein zweiter Einwand gegen den pessimistischen Diskurs über die Krise der Demokratie lautet: Demokratie gibt es nur im Plural. Wer "die Demokratie" in der Krise wähnt, verliert aus dem Blick, dass weltweit eine Vielzahl heterogener demokratischer Regime existiert, die aufgrund ihrer je eigenen institutionellen Struktur, regionalen Einbettung, sozioökonomischen Basis, kulturellen Prägung und historischen Entwicklungspfade über unterschiedliche Potenziale zur Widerstandsfähigkeit gegenüber systemischen Krisen und antidemokratischen Herausforderern verfügen.
Das demokratische Credo
Wenn die Zukunft unsicher ist und man wenig über sie wissen kann: Was lässt sich über unseren gegenwärtigen Ist-Zustand sagen? Ich schlage vor, ihn als einen Zustand der demokratischen Malaise zu bezeichnen. Die Malaise besteht darin, dass sich die beschriebenen negativen Erfahrungen mit der jüngeren Vergangenheit und die düsteren Erwartungen gegenüber der Zukunft nicht mit den herrschenden Annahmen über die Demokratie in Einklang bringen lassen – und zugleich keine Aussicht auf eine Änderung dieses Umstands besteht. Kurz formuliert: Das demokratische Denken büßt seine Wirklichkeitstauglichkeit ein. Die eigentümliche Verunsicherung, die unseren Zeitgeist prägt, ist auch eine Folge der durch diese Prozesse ausgelösten Orientierungslosigkeit und Entfremdung.
Dem demokratischen Denken kann man sich über das begriffliche Konstrukt eines Idealtyps nähern, den ich das "demokratische Credo" nenne. Es handelt sich hierbei nicht um eine kohärente Weltanschauung, sondern um eine Mischung aus gesellschaftlich kursierenden, in der Selbstbeschreibung des politischen Regimes verwendeten, kulturell verankerten und sich auf die Verfassung beziehenden Theorieelementen über die Demokratie und deren Funktionsweise. Dieses Credo besteht nicht aus wissenschaftlichen Theorien, sondern aus politischen Alltagstheorien und Ansichten, die eine diffuse Auffassung davon ausdrücken, was Demokratie sein kann und sein sollte. Es umfasst:
Ein liberales Element: Ihm zufolge kann Demokratie dafür sorgen, dass die Individuen in gleicher Weise frei ihre je eigenen Anliegen und Interessen verfolgen können, in ihrer Privatautonomie geschützt werden und Rechtssicherheit genießen. Die gleiche Freiheit kommt darin zum Ausdruck, dass die Bürger ihre Rechte nutzen, zugleich aber die damit einhergehenden Pflichten respektieren.
Ein republikanisches Element: Dieses setzt den Akzent auf das gemeinsame Handeln der Bürgerschaft als Ganzer und verbindet mit Demokratie die Idee der kollektiven Ausübung von Volkssouveränität. Das hierdurch ausgedrückte Ideal ist die sich direktdemokratisch selbst Gesetze gebende Bürgerschaft. Die realistische, ernüchternde Version hiervon ist, dass die Bürgerschaft herrschende Eliten und Repräsentanten periodisch mittels Wahlen abstrafen beziehungsweise in ihrem Kurs bestärken kann.
Ein soziales Element: Demokratie wird hierdurch auf ein Mindestmaß an Fairness und sozialer Sicherheit verpflichtet, worunter auch die bürgerschaftliche Kohäsion zählt. Es geht damit nicht nur um die Wohlfahrt von Individuen, deren Familien und den persönlichen Nahbereich, sondern auch um den sozialen Zusammenhalt im Ganzen, die intersubjektive Wohlfahrt der gesamten Bürgerschaft und eine basale Fairness im Umgang miteinander.
Ein gouvernementales Element: Es thematisiert Demokratie als einen Staats- und Regierungsapparat. Die Demokratie kann und soll öffentliche Probleme lösen und eine gute Regierungstätigkeit gewährleisten, die primär im Sinne des Willens der Mehrheit der Bürgerschaft verstanden wird. Zugleich zeigt sie sich als politisches System lernfähig, indem sie aus vergangenen Fehlern lernt und sich zukünftig selbst verbessert.
Zu dieser Liste ließen sich noch weitere Elemente hinzufügen, etwa solche der Deliberationstheorie von Jürgen Habermas. Deren Anhänger könnten einwenden, dass zur Demokratie auch der vernünftige Austausch von Argumenten gehöre und es ein wesentliches Element dieser Regierungsform sei, dass in ihr mit hoher Rationalität diskutiert wird und sich die politischen Entscheidungen an den Ergebnissen einer Meinungs- und Willensbildung orientieren, die in begründeter Weise "die Vermutung der Vernünftigkeit"
Damit dieses Credo wirklichkeitstauglich ist und nicht zum bloßen Wunschdenken verkommt oder in der Enttäuschung endet, weil es an dem Prüfstein der Alltagserfahrung scheitert, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss die politische Wirklichkeit, auf die sich das Credo bezieht, in ihren Grundzügen von den Bürgern verstanden werden können. Und zweitens muss diese Wirklichkeit Eigenschaften aufweisen, die sich mit den demokratischen Glaubensartikeln in Einklang bringen lassen. Findet sich das, was man im Sinne des Credos erwartet, in dieser Wirklichkeit wieder? Wie ich im Folgenden anhand einiger, hier nur schlaglichtartig beleuchteter Tendenzen argumentieren werde, gibt es Anzeichen dafür, dass sich die politische Wirklichkeit in einer Weise fortentwickelt, die diesen beiden Bedingungen zuwiderläuft und die oben aufgeführten Elemente des demokratischen Credos unplausibel werden lässt.
Überdifferenzierung
Die nach dem Zweiten Weltkrieg formulierte soziologische Modernisierungstheorie war der Auffassung, dass die moderne Gesellschaft als eine Art Gesamtpaket begriffen werden kann, deren einzelne Komponenten sich wechselseitig ergänzen und stützen. Empirische Wissenschaft, marktwirtschaftlicher Kapitalismus, autonome Subjektivität, liberale Demokratie – all das muss nicht überall entstehen, aber wenn es entstanden ist, fügt es sich ineinander und gehört zusammen.
Ein wesentliches Kennzeichen von Modernisierung ist Differenzierung. Diese macht sich nicht nur sozial bemerkbar, sondern verändert auch das politische Leben. Die Politik wird vielgestaltiger, indem sie unterschiedliche Ebenen, Organisationen, Akteure und Netzwerke hervorbringt und sich immer weiter ausdifferenziert. Sinnfällige Anzeichen hierfür sind, neben der in der Literatur eingehend behandelten internationalen Verflechtung und Europäisierung, zum einen die wachsende Zahl von Politikfeldern, also gesellschaftliche Bereiche und Sachverhalte, über die politisch entschieden werden muss und die herrschaftlich reguliert werden, und zum anderen die steigende Zahl politischer Parteien und Bewegungen, die sich in den politischen Prozess einbringen.
Man kann dies mit Blick auf Demokratie und aus der Perspektive der Bürgerschaft als eine "Überdifferenzierung" bezeichnen, weil dadurch die Komplexität der Politik steigt. Für alle Outsider, die nicht aktiv an den Politiknetzwerken beteiligt sind, wird es zunehmend schwierig bis unmöglich, den Überblick zu behalten und den Gesamtprozess zu verstehen. Und selbst hinsichtlich einzelner Politikfelder sind es in der Regel nur noch die Experten, die in "ihrem" Feld wissen, was darin vor sich geht und wem die jeweils getroffenen Entscheidungen zugutekommen. Dieser Umstand verletzt die Bedingung der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit von Politik, was nur so lange kein Problem ist, wie es im Alltag einigermaßen fair zugeht und ein diffuses Normalitätsgefühl vorherrscht beziehungsweise, weiter unten auf der sozialen Stufenleiter, ein hinnehmbares Maß an Unzufriedenheit.
Aber auch für die Regierenden und die politische Klasse bringt Überdifferenzierung Probleme mit sich, weil sie die Verhandlungskosten bei der Entscheidungsfindung erhöht und das Regieren erschwert. Der bei Angela Merkel von der öffentlichen Meinung noch einigermaßen akzeptierte, bei Olaf Scholz nun aber weithin kritisierte Regierungsstil des Abwartens, Auf-Sicht-Fahrens und ad hoc kurzfristige Krisenreparatur Betreibens hat sicher mit der deutschen politischen Kultur und unserem politischen System zu tun, er ist aber auch eine Folge dieses strukturellen Problems der Nicht-Regierbarkeit. Ein Slogan wie "Take back control!", mit dem die britische UKIP-Partei den Brexit begründete, greift das Unbehagen auf, das aus dem Mangel an demokratischer Regierungsmacht im Dienste der Lösung öffentlicher Probleme resultiert. Die ernüchternde Erfahrung mit dem Austritt der Briten aus der Europäischen Union lässt es freilich fraglich erscheinen, ob sich die ausdifferenzierte Struktur des politischen Lebens, die Eliten und Insider begünstigt, wieder auf ein demokratiekompatibles Maß zurückstutzen lässt.
Postdemokratische Subjektivität
Modernisierung heißt auch: Wandel der Subjekte. Die Veränderung von Subjektformen wird hierzulande intensiv diskutiert,
Lässt sich dieser Prozess umkehren oder in demokratiekompatible Bahnen lenken? Das berühmte "Böckenförde-Diktum" wird zumeist so auf die Demokratie übertragen, dass diese von Voraussetzungen lebe, die sie selbst nicht erzeugen kann.
Die gegenwärtigen, sichtbar hastig und projektförmig zusammengeschusterten, zum Teil auch einseitig ausgerichteten Ansätze zur Demokratiebildung helfen hier wohl nicht weiter, denn sie kommen spät, und sie sind nicht hinreichend institutionalisiert. Zudem drohen sie – jenseits der Partizipationsaristokraten aus den privilegierten Milieus, die sich ohnehin bereits als Vorbild und Musterdemokraten verstehen –, als ein illegitimer Loyalitätsgenerator und heuchlerischer Übergriff einer um ihre Legitimität besorgten politischen Klasse gedeutet zu werden.
Ende des demokratischen Kapitalismus
Ein wesentlicher Legitimationsfaktor für die hiesige Form der Demokratie ist das glaubhafte, da lebensweltlich spürbare Versprechen der allmählichen Hebung des Lebensstandards der Mehrheit der Bürgerschaft – samt Aussicht auf weitergehende Verbesserungen für die folgende Generation. Man kann die institutionelle Gestalt dieses Versprechens als "demokratischen Kapitalismus" bezeichnen, obwohl der Kapitalismus und seine ehedem dominante Organisationsform des Betriebs in dieser Form der politischen Ökonomie nicht demokratisiert worden sind. Es handelt sich um ein Kompromissmodell, in dem die Aussicht auf materielle Verbesserung und die Akzeptanz des Laufs der Dinge im kapitalistischen Alltag miteinander verbunden worden sind. Und trotz aller Kritik, die an diesem Modell und seinen durchaus heterogenen Varianten geübt werden kann, wurde selbst von den allerkritischsten der kritischen Beobachter zu Beginn der Hochphase dieses Modells dessen Befriedungswirkung nicht in Abrede gestellt. Im Gegenteil war es damals ironischerweise gerade dessen integrative Macht, die im Fokus der Kritik stand.
Trotz des immens gestiegenen gesellschaftlichen Reichtums stechen heute jedoch die desintegrativen Tendenzen der politischen Ökonomie ins Auge, die auf ein Ende des demokratischen Kapitalismus hindeuten. Anzeichen hierfür sind die Zunahme der sozialen Schließung, die wachsende Zahl junger Menschen, die das Wohlstandsniveau der Elterngeneration nicht erreichen werden, eine massive Ungleichheit der Lebenschancen (und der Lebenserwartung) und die fehlende Aussicht auf eine inklusive wie faire Form des Wirtschaftslebens in der Zukunft.
Entscheidend ist, was oben rauskommt
Dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl wird die legendäre Erkenntnis zugeschrieben, dass entscheidend sei, "was hinten rauskommt". Das hat ihm Spott eingebracht, denn wegen seiner Doppeldeutigkeit ist der Satz unfreiwillig komisch. Davon abgesehen bringt er aber bloß die Binsenweisheit zum Ausdruck, dass Regierungen an ihren Ergebnissen und Leistungen gemessen werden (sollten). Demokratie fußt nicht zuletzt auf dem Glauben, dass gut regiert wird und man im Alltag von den Ergebnissen demokratischer Herrschaft profitiert.
Mit Blick auf den Prozess, den ich als das Ende des demokratischen Kapitalismus bezeichnet habe, ist Kohls Satz weiterhin gültig. Nur müsste er ergänzt werden: Ebenso entscheidend ist, was oben rauskommt. Denn eine bisher eher wenig beachtete Folge des Endes des demokratischen Kapitalismus ist das Anwachsen der Oberklasse und damit der Aspiranten um politische Macht. Wie schon Machiavelli wusste, will der popolo meist nur in Ruhe leben, während die grandi dazu neigen, immer mehr Macht und das Prestige, das sie verleiht, anhäufen zu wollen. Wächst die Oberklasse, weil immer mehr Ressourcen in die oberen Etagen der gesellschaftlichen Hierarchie wandern, kann es zum Gedrängel um die höchsten Ämter und Ränge innerhalb der Machtelite kommen.
Dieses Phänomen ist in Öffentlichkeit und Wissenschaft lange Zeit unbeachtet geblieben, da man in den Sozialwissenschaften dazu tendiert, eher die Mitte der Gesellschaft in den Blick zu nehmen.
Die Eliten sind zwar durch den Aufstieg des Populismus zu einem öffentlichen Thema geworden, aber das oben erwähnte Problem, auf das jüngst der Sozialforscher Peter Turchin hingewiesen hat, wird bislang nicht hinreichend diskutiert.
Eine naheliegende Lösung für dieses Problem wäre, sowohl den Fluss von Machtressourcen nach unten zu lenken als auch die Zahl der privilegierten Aspiranten auf Machtpositionen zu verringern – und vor allem die Oberklasse zu dezimieren. Letzteres war das Erfolgsgeheimnis besonders langlebiger Diktatoren, wie Turchin zeigt. Im Prinzip – nicht in den Methoden – wäre es auch ein naheliegender Ansatz, um dem demokratischen Credo hierzulande wieder mehr Plausibilität zu verschaffen.