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Was ist Demokratie? Vom substanziellen Streit zum autokratischen (Miss-)Verständnis

Susanne Pickel

/ 14 Minuten zu lesen

Die Idee davon, was Demokratie ist oder sein soll, hat sich seit der Antike verfestigt. In jüngster Zeit mischen sich in (liberal-)demokratische Vorstellungen jedoch populistische und autoritäre Komponenten, wodurch die Legitimität der Demokratie zunehmend infrage steht.

Die Frage, was Demokratie bedeutet, ist nicht einfach zu beantworten. So klar manche Definitionen erscheinen, so variabel sind inhaltliche Gestaltungen um den Kern demokratischer Eigenschaften herum. Wann diese definitorische Gestaltungsfreiheit den demokratischen Rahmen verlässt, ist nicht immer eindeutig. Die Geschichte der Entwicklung des Konzepts "Demokratie" zeigt ein Ringen um den Begriff – und den Wandel konkreter Vorstellungen in Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles waren die ersten, die die Idee der Herrschaft des Volkes unter den Begriff "Demokratie" fassten (demos = Volk, kratein = herrschen). Allerdings verstand Aristoteles unter Demokratie eine verfehlte, schädliche Variante der Beteiligung Vieler; sein Idealbild einer guten Verfassung war die "Politie", die am ehesten den heutigen Standards einer Demokratie entspricht. Dort waren nicht das Volk beziehungsweise der "Plebs" zur direkten Herrschaft berufen, sondern die "Tüchtigen" und die "Vernünftigen" als Repräsentanten des Volkes.

Dieses Verständnis von Demokratie hat sich über die Schriften klassischer politischer Denker wie Rousseau, Hobbes, Locke, Montesquieu, Tocqueville oder die Autoren der Federalist Papers bis zum liberalen, repräsentativen Verständnis der Gettysburg Address Abraham Lincolns weiterentwickelt. Demokratie wird dort zum politischen Herrschaftssystem, das "of, by and for the people" ausgeübt wird.

Was also ist Demokratie?

Sowohl der antike Begriff der "Politie" als auch die zentralen Aspekte der "Herrschaft des Volkes" haben als Kernbestandteile eines modernen Demokratieverständnisses überlebt. Sie finden in unterschiedlichem Umfang Eingang in gegenwärtige Demokratiedefinitionen. Der Ökonom Joseph Schumpeter, einer der Väter der minimalistischen Demokratiedefinition, versteht Demokratien als Konkurrenzsysteme, deren funktionale Leistungsfähigkeit durch klare Führungsstrukturen, Entscheidungsbefugnisse und die Durchsetzungsfähigkeit der Regierenden gewährleistet wird. Die politischen Eliten werden durch einen zentralen politischen Prozess ausgewählt, kontrolliert und gegebenenfalls durch freie und faire Wahlen ausgetauscht; ansonsten bleibt der Einfluss des Volkes gering.

Andere Definitionen von Demokratie beachten auch die Bedingungen, unter denen Wahlen stattfinden, und berücksichtigen stärker die Rechte der Bürger:innen und die Konsequenzen des allgemeinen Wahlrechts. Der Demokratieforscher Robert Dahl zum Beispiel versteht unter einer "Polyarchie" oder "polyarchischen Demokratie" den Realtyp einer theoretisch beschriebenen idealen Demokratie. Polyarchien sind institutionelle Arrangements, die Wettbewerb um politische Ämter und Partizipation der Bürger:innen an der politischen Entscheidungsfindung ermöglichen. Sie variieren in ihrer institutionellen Gestalt zwar je nach historischem Kontext, setzen aber immer ein System bestimmter politischer Rechte und Institutionen sowie politische Kontrolle durch wettbewerbsorientierte Wahlen voraus. Darin unterscheiden sie sich unzweideutig von autokratischen politischen Systemen: Das Wahlrecht der Bürger:innen steht im Mittelpunkt der Demokratie, wird aber durch weitere institutionalisierte Rechte wie die Meinungs-, Informations- und Organisationsfreiheit, das Recht der Parteien, um Unterstützung zu werben, und die Kontrolle der Regierenden durch die Wähler:innen ergänzt.

In der Gegenwart dominieren solche Demokratiedefinitionen mittlerer Reichweite. Sie erscheinen zunächst umfangreich, reduzieren sich aber zumeist auf drei wesentliche Eigenschaften demokratischer politischer Systeme: Freiheit, Gleichheit und Kontrolle. Freiheit bezeichnet im Wesentlichen die von Dahl definierten politischen Freiheiten; Gleichheit meint zunächst politische Gleichheit, im liberalen und libertären Verständnis zudem Chancengleichheit, im sozialistischen soziale Gleichheit; Kontrolle bezieht sich auf die horizontale Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative und die vertikale Kontrolle der Regierenden durch Wahlen und/oder föderale Strukturen. Minimalistische und mittlere Definitionen beschreiben ausschließlich Institutionen und Prozesse der Demokratie, sie bringen also ein prozedurales Demokratieverständnis zum Ausdruck.

Die maximalistische Definition von Demokratie schließlich berücksichtigt auch die inhaltliche Ausrichtung der Politik und transportiert insofern ein substanzielles oder instrumentelles Demokratieverständnis. Wird dieses Verständnis geteilt, dann erwarten die Menschen von der Demokratie etwas, das sie für vorteilhaft für sich selbst (und andere) halten. Oft handelt es sich hierbei um Vorstellungen einer sozialen Demokratie mit umfangreichen sozialstaatlichen Sicherungen.

Normative Varianten

Um den Kern demokratischer Herrschaft "durch das Volk" und "für das Volk" sind diverse Modelle demokratischer politischer Systeme entstanden, die je nach inhaltlicher Ausrichtung variieren. Sie formulieren spezifische normative Ansprüche an die Demokratie und zeigen, wie Demokratie sein soll, damit sie eine gute Herrschaftsform ist (Abbildung 1).

Volksdemokratien streben die unbegrenzte Souveränität des Volkes an und sehen den Volkswillen als alleinige Grundlage für politische Entscheidungen. Vorausgesetzt wird, dass sich das Volk immer auf die richtige Entscheidung einigen kann und die Bürger:innen keine spezifischen Einzelinteressen vertreten.

Die liberale Demokratie, die auf individueller Freiheit und dem Schutz von Einzelinteressen basiert, gilt als Standardmodell einer demokratischen politischen Ordnung und wird oft mit einem "westlichen" Verständnis von Demokratie gleichgesetzt. Ihm werden nicht-westliche Verständnisse entgegengehalten, die weniger Wert auf bürgerliche Freiheiten legen und zum Beispiel dem Wert der (Volks-)Gemeinschaft Vorrang einräumen. Die liberale Demokratie betont den Pluralismus und den Interessenausgleich durch Aushandlungsprozesse. Um eine "Willensbildung des Volkes" auch angesichts der vielfältigen Interessen seiner Mitglieder herbeizuführen, stützt man sich zumeist auf Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip. Kontrollmechanismen und Vetorechte schützen Minderheiten vor einer zu starken Einschränkung durch die Mehrheitsinteressen.

Das libertäre Demokratiemodell priorisiert individuelle Freiheit noch stärker als das liberale Modell und reduziert die Rolle des Staates auf die Bereitstellung grundlegender Infrastrukturen. Minderheiten erfahren keinen Schutz, es gilt das Mehrheitsprinzip. Die Verantwortung für das Lebensschicksal wird allein dem Individuum zugewiesen. Es trägt alle Risiken, kann aber auch ohne Einschränkungen seinen Nutzen suchen und finden. Ein solches Demokratieverständnis, das den Aspekt der Freiheit absolut setzt, den der sozialen Gleichheit aber weitgehend ignoriert, führt in der Praxis oft zu sozialer Ungleichheit.

Die sozialistische Demokratie strebt nach Gleichheit und Solidarität durch Ressourcenumverteilung. Rechtsstaatliche Prinzipien und individuelle Freiheiten bleiben auch in der sozialistischen Demokratie erhalten. Bei der Verteilung der Ressourcen greift der Staat jedoch lenkend ein, um soziale Ungleichheiten der industriellen und postindustriellen Gesellschaft auszugleichen. Soziale und politische Gleichheit sind in diesem Modell die dominierenden Eigenschaften der Demokratie.

Das republikanische Modell setzt auf partizipative Selbstbestimmung und aktive Beteiligung der Bürger:innen am politischen Prozess und kritisiert das reine Repräsentationsprinzip. Individuen und Gruppen konkurrieren nicht in wettbewerblichen Auseinandersetzungen um Ressourcen und politische Macht, sondern die Entscheidungen werden im politischen Raum zwischen allen Akteuren im Diskurs ausgehandelt. Eine Reduktion der Mitbestimmung auf Wahlen lehnen Anhänger:innen dieses Modells ab. Sie wollen weitreichende Mitbestimmungsformen für alle Bürger:innen.

In partizipativen Demokratien spielen direkte Volksabstimmungen eine zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung. Sie ermöglichen ihren Bürger:innen, direkt über politische Fragen, Gesetzesänderungen oder wichtige politische Entscheidungen abzustimmen. Dazu können Verfassungsänderungen, Haushaltsfragen oder bestimmte politische Programme gehören. Die Mehrheit entscheidet, Quoren sind für die Beteiligung und eine qualifizierte Mehrheit möglich. Plebiszite können auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene stattfinden.

Feministische Ansätze schließlich sprechen die Geschlechterungleichheit in Demokratien an und fordern gleiche Teilhaberechte für Frauen und andere marginalisierte Gruppen. Staatliche Interventionen sind hier notwendig, um Ungleichheiten auszugleichen, auch wenn dies vorübergehend zu anderen Ungleichbehandlungen führen kann. Machtstrukturen und Diskurse werden kritisch betrachtet, die Ermächtigung zu politischem und partizipatorischem Handeln steht im Zentrum.

Um als demokratisch zu gelten, müssen alle Modelle den Kern der Demokratie – Freiheit, Gleichheit und Kontrolle – berücksichtigen und anerkennen. Die Auseinandersetzung um die "richtige" Gewichtung der unterschiedlichen Aspekte von Demokratie bleibt jedoch legitim, solange dieser Kern nicht durch eine ideologische Überbetonung einzelner Aspekte gefährdet wird. Je nach gesellschaftlichem Kontext kann diese Gewichtung unterschiedlich ausfallen.

Wann sind "Demokratien" nicht mehr demokratisch?

Die genannten Differenzierungen setzen voraus, dass die Minimalkriterien einer Demokratie erfüllt bleiben. Ist das nicht (mehr) der Fall, sprechen wir von defekten Demokratien, hybriden Regimen oder Autokratien. Wenn politische Systeme die Kernkriterien der minimalistischen Demokratiedefinition – freie und faire Wahlen – weitgehend erfüllen, umfangreiche bürgerliche Freiheiten und Rechte jedoch nur mit Abstrichen gewähren, spricht man von "elektoralen Demokratien". Die von der NGO Freedom House etablierte Bezeichnung verlangt "nicht nur faire Wahlverfahren und einen grundlegenden politischen Wettbewerb, sondern auch die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten wie der Versammlungsfreiheit".

Werden Wahlen nur unregelmäßig durchgeführt oder Parteien bei der Gründung, Betätigung oder im Wettbewerb um Wählerstimmen beschränkt, dann sind diese politischen Systeme keine Demokratien mehr. Häufig verletzen sie weitere Kerninstitutionen der Demokratie und schränken beispielsweise bürgerliche Freiheiten und politische Rechte ein, beschneiden das Wahlrecht für Teile der erwachsenen Bevölkerung, überlassen wirtschaftlichen oder militärischen Eliten, die nicht durch Wahlen legitimiert sind, Entscheidungsbefugnisse oder Vetorechte, umgehen bei der Entscheidungsfindung das Parlament oder wirken auf illegitime Art und Weise auf die Justiz ein. Solche Systeme tragen so viele Eigenschaften autokratischer politischer Systeme in sich, dass sie als "hybride Regime" oder "elektorale Autokratien" bezeichnet werden. Oft geben sie sich fantasievolle Adjektive als Eigenbezeichnung, um den Anschein zu erwecken, noch den Standards demokratischer Herrschaft zu entsprechen. Sie tun es nicht. Weder "illiberale" (Ungarn), "gelenkte und souveräne" (Russland) noch "nationale" Demokratien (Türkei) sind (vollständig) demokratische politische Ordnungen. Aus diesen und ähnlichen "Demokratie"-Formen werden auch durch die Betonung des "Nicht-Westlichen" keine Demokratien. So wie ein Tisch kein Stuhl ist, trifft die Bezeichnung Demokratie nicht zu, wenn die grundlegenden Definitionsmerkmale nicht vorhanden sind. Das Konzept wird überdehnt und verliert seine eigentliche Bedeutung und Funktion.

Das Kontinuum politischer Regime (Abbildung 2) reicht auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene von einer idealen Demokratie, die allen Merkmalen einer Demokratie vollumfänglich entspricht (aber eben unterschiedliche Schwerpunkte setzen kann) über defekte und elektorale Demokratien (die deutliche Einschränkungen der Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen aufweisen), offene und elektorale Autokratien (die zwar Wahlen durchführen, deren Wettbewerbscharakter aber ebenso einschränken wie politische Rechte und bürgerliche Freiheiten) bis hin zu geschlossenen Autokratien (die keine oder nur deutlich eingeschränkte Wahlen durchführen und kaum politische Rechte und bürgerliche Freiheiten gewähren).

Die Realität politischer Regime kann mithilfe der Daten des Freedom-House-Index veranschaulicht werden. Erreichen politische Systeme ausreichend hohe Werte für die Verwirklichung politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten und sind sie zugleich elektorale Demokratien, werden sie, unabhängig von ihrer konkreten inhaltlichen Ausprägung, als "frei" kategorisiert. Viele westliche Demokratien fallen in diese Kategorie. Die gewählten Beispiele zeigen die Bandbreite der Qualität der liberalen Demokratie innerhalb der EU, der westlichen Welt und einiger Nachbarstaaten auf. Die Gründungsmitglieder der EU sind alle freiheitliche Demokratien, aber auch später aufgenommene Staaten wie Spanien oder Rumänien erzielen hohe Werte. Polen hat die deutlichsten Einschränkungen im Wahlverfahren, die USA weisen insgesamt größere Demokratiedefizite auf.

Defekte und elektorale Demokratien werden als "teilweise frei" eingestuft. Ungarn fällt als einziges EU-Mitgliedsland in diese Kategorie: Seit 2022 haben sich die Werte für das Wahlregime nochmals verschlechtert, sodass das Land als elektorale, defekte Demokratie zu bezeichnen ist.

Offene und elektorale Autokratien sind ebenfalls "teilweise frei", erreichen aber nicht den Mindestwert für elektorale Demokratien. Innerhalb der EU gibt es keinen solchen Fall, aber Serbien fällt in diese Kategorie. Der EU-Beitrittskandidat ist nach Freedom House als elektorale Autokratie zu werten.

Geschlossene Autokratien sind "nicht frei", können aber unter Umständen noch eingeschränkt freie Wahlen abhalten. Die Türkei fällt trotz halbfreier Wahlen ebenso wie Russland mit unfreien Wahlen in diese Kategorie. Bis 2017 galt die Türkei noch als "teilweise freies" politisches Regime.

Was verstehen Menschen unter Demokratie?

Freedom House und andere Indizes zur Bestimmung der Qualität politischer Systeme betrachten die Länder vor allem unter konzeptionellen Gesichtspunkten. Ob eine Demokratie als Demokratie überleben kann, hängt jedoch nicht nur von ihrer institutionellen Gestaltung und deren Funktionsfähigkeit ab, sondern in starkem Maße auch von der Akzeptanz durch die Bürger:innen. Diese Anerkennung wird von der subjektiven Vorstellung beeinflusst, wie eine Demokratie sein sollte. Das Demokratieverständnis der Bürger:innen wirkt sich maßgeblich auf die Zufriedenheit mit dem politischen System des jeweiligen Landes aus. Viele Menschen haben oftmals nur eine oberflächliche Kenntnis von den Eigenschaften liberaler Demokratien und beziehen sich in ihren Bewertungen auf allgemeine Grundprinzipien. Individuelle Freiheit, insbesondere Meinungsfreiheit, spielt hier eine dominierende Rolle, aber auch autoritäre Attribute werden unter Umständen als demokratisch betrachtet oder (vorübergehend) akzeptiert.

Mithilfe der Daten des World Values Survey, einer international vergleichenden Studie zur Messung politischer Werte und Einstellungen, lassen sich liberale Vorstellungen von Demokratie von anti-liberalen (autoritären), nicht-liberalen (populistischen) und sozialen unterscheiden. Zu den Eigenschaften der liberalen Demokratie gehören nach diesem Konzept freie Wahlen und bürgerliche Freiheitsrechte, aber auch Geschlechtergleichheit. Der Wunsch nach Referenden und anderen direktdemokratischen Beteiligungsformen wird als Ausdruck einer partizipativen Vorstellung von Demokratie interpretiert (Volksdemokratie). Gehorsam gegenüber Autoritäten, die Akzeptanz von Eingriffen religiöser Instanzen in die Interpretation von Gesetzen oder der Wunsch nach einer Herrschaft des Militärs im Krisenfall beschreiben eine (anti-liberale) autoritäre Vorstellung von Demokratie. Die populistische (nicht-liberale) Variante wird durch hohe Erwartungen an wirtschaftliches Wohlergehen und Law-and-Order-Politiken erfasst. Wünsche nach ökonomischer Umverteilung, Einkommensgleichheit und sozialer Fürsorge schließlich bilden soziale Aspekte ab, die prinzipiell mit jedem Demokratieverständnis kombiniert werden können.

Der World Values Survey ermittelt die subjektive Bedeutung dieser Eigenschaften von Demokratie seit 2005 über eine wechselnde Anzahl von Ländern hinweg. Die Mittelwerte der einzelnen Komponenten weisen für die vergangenen knapp 20 Jahre Veränderungen in den Demokratieprioritäten der Bürger:innen aus; das Verständnis von Demokratie hat sich in Teilen gewandelt (Abbildung 3).

In den europäischen Demokratien halten die Bürger:innen nach wie vor alle Merkmale der liberalen Demokratie für wesentlich. Die entsprechenden Mittelwerte sind hoch und indizieren die hohe Bedeutsamkeit der jeweiligen Eigenschaft. Feministische Aspekte werden gleichbleibend unterstützt, in Deutschland steigt die Bedeutung sogar leicht an. Das partizipative beziehungsweise volksdemokratische Element der Referenden wird als sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie angesehen, erfährt aber nicht die gleiche Bedeutsamkeit wie die übrigen Charakteristika der liberalen Demokratie. Populistische, nicht-liberale Aspekte genießen jedoch ebenso eine gewisse Wertschätzung bei den Bürger:innen, wie auch die Sozialfürsorge, deren Bedeutsamkeit tendenziell aber eher abnimmt. Autoritäre Merkmale sind nahezu unerwünscht. Sie erzielen nur in den ostmitteleuropäischen Ländern etwas höhere Werte. Hervorzuheben ist hier die Entwicklung in Rumänien: Trotz recht guter Demokratiewerte bei Freedom House nimmt die Bedeutung der liberalen Freiheitsrechte seit 2005 teils dramatisch ab. Der Wert für freie Wahlen, bürgerliche Rechte und Geschlechtergleichheit sank bis 2017 um 1 bis 1,5 Skalenpunkte. Die Überzeugung, Demokratie sei eine politische Ordnung, die ihren Bürger:innen umfangreiche Freiheiten und Rechte einräumt, geht zunehmend verloren, verbleibt aber auf einem Niveau, das immer noch über dem der USA liegt. Dafür stehen populistische Komponenten hoch im Kurs, die Werte sind die höchsten innerhalb der demokratischen Länder. Die elektorale Demokratie Ungarn fällt vor allem bei der Wertschätzung populistischer Eigenschaften aus dem Rahmen der anderen EU-Mitgliedsländer.

Die westlichen Demokratien außerhalb der EU zeigen ein eher gleichbleibendes, leicht niedrigeres Niveau der Bedeutungszuschreibung liberaler politischer Eigenschaften. Geschlechtergleichheit sticht im Vereinigten Königreich heraus, der Wert ist einer der höchsten in den hier gewählten Beispielen. Die Wertschätzung von Umverteilung wiederum ist in den USA recht deutlich angestiegen (von 5,0 auf 5,7), insgesamt orientieren sich die Bürger:innen in den Ländern außerhalb Europas gleichwohl weniger an sozialen oder sozialistischen Demokratieaspekten; ihre Demokratien sind libertärer ausgeprägt. Anti-liberale und populistische Eigenschaften werden der Demokratie ähnlich häufig zugeschrieben wie in Europa.

Außerhalb der westlichen Demokratien verändert sich das Bild, das die Menschen von der Demokratie haben. In Serbien etwa zeigt sich eine durchweg geringere Wertschätzung gegenüber liberalen Aspekten, aber eine recht hohe gegenüber sozialen Inhalten. In der Türkei verlieren seit 2005 alle Merkmale der liberalen Demokratie an Relevanz, besonders die bürgerlichen Rechte und Freiheiten (minus ein Skalenpunkt) und der Wunsch nach Umverteilung. Innerhalb der russischen Bevölkerung wird liberalen Werten bereits 2005 eine geringere Bedeutung für eine Demokratie zugeschrieben. Diese sinken bis 2017 weiter ab, Forderungen nach Gehorsam und die Zustimmung zu populistischen Eigenschaften nehmen zu. Ausgehend von einem hohen Niveau verlieren soziale und sozialistische Charakteristika der Demokratie in Russland wie in der Türkei an Bedeutung.

Die liberale Demokratie ist also nach wie vor in den westlichen Ländern beheimatet. Diese bilden aber keinen homogenen Block, sondern unterscheiden sich sowohl in der faktischen Ausprägung bürgerlicher Freiheiten und politischer Rechte als auch hinsichtlich der Vorstellungen ihrer Bevölkerungen darüber, was Demokratie sein soll. Bürger:innen stellen sich unter Demokratie leicht vom Idealtyp abweichende politische und soziale Systeme vor. Außerhalb "des Westens" erfährt die Demokratie oft Deutungen, die nicht-demokratischen politischen Strukturen und den ideologischen Interpretationen der Herrschenden entsprechen. Hier dominieren autoritäre Elemente, liberale Werte sind weniger bedeutsam.

Autokratisches Missverständnis

Wie bei den Demokratiedefinitionen kommt es auch bei den Einstellungen der Individuen auf die "richtige" Mischung an. Werden zum Beispiel demokratische Kernaspekte nicht nur mit unterschiedlichen politischen Inhalten, sondern auch mit autokratischen Eigenschaften gemischt, handelt es sich nicht mehr um ein (rein) demokratisches Demokratieverständnis.

In Deutschland galt die Demokratie lange Zeit als unbestrittenes und wünschenswertes politisches System, fest verankert im Grundgesetz. Doch mit dem Aufkommen rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien und den Debatten über die angeblich von politischen Eliten gekaperte und dem Volk vorenthaltene Demokratie wird ihre Legitimität heute vielfach infrage gestellt. Besonders kritisch ist in diesem Zusammenhang die Befürwortung populistischer Merkmale.

Dies gilt umso mehr, wenn Bevölkerungsumfragen belegen, dass es sich bei den entsprechenden Demokratieverständnissen nicht mehr ausschließlich um inhaltliche Variationen der Demokratie, sondern um solche mit autoritären Beimischungen handelt. Etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung befürwortet ein Einparteiensystem, 10 Prozent einen starken, vom Parlament unabhängigen Führer und ebenfalls 10 Prozent unter bestimmten Umständen eine Diktatur. Insgesamt stehen etwa zwei Drittel der Bürger:innen auf der Seite der liberalen Demokratie, 30 Prozent akzeptieren autoritäre Eigenschaften, und etwa 5 Prozent können mit der Demokratie nichts anfangen. Es handelt sich bei den populistischen Beimischungen zur (sozial-)liberalen Demokratie also keineswegs nur um harmlose Varianten liberaler Demokratievorstellungen, sondern um ein Schaufenster zu einem Demokratieverständnis, das autoritäre Systemelemente mindestens akzeptiert und wesentliche Normen des Grundgesetzes nicht teilt. Die hohen Bedeutungswerte liberaler Grundwerte verschleiern diese Einstellungen. Es ist höchste Zeit für mehr politische Bildung, mehr Aufklärung und mehr aktive Programme, die demokratische politische Erfahrung vermitteln – damit das, was Demokratie bedeutet und ausmacht, als Grundlage der Politikgestaltung auch in Zukunft die westlichen Demokratien prägt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gert Pickel/Susanne Pickel, Demokratie, Stuttgart 2022, S. 25.

  2. Vgl. Robert A. Dahl, On Democracy, New Haven 1998, S. 90.

  3. Vgl. ebd., S. 220f.

  4. Vgl. Hans-Joachim Lauth, Demokratie und Demokratiemessung, Wiesbaden 2004, S. 100.

  5. Vgl. Pickel/Pickel (Anm. 1), S. 19; Dieter Fuchs, Das Konzept der politischen Kultur. Die Fortsetzung einer Kontroverse in konstruktiver Absicht, in: ders./Edeltraud Roller/Bernhard Weßels (Hrsg.), Bürger und Demokratie in Ost und West: Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozess, Wiesbaden 2002, S. 27–49.

  6. Vgl. Sophia Schubert/Alexander Weiß (Hrsg.), Demokratie jenseits des Westens. Theorien, Diskurse, Einstellungen, Baden-Baden 2016.

  7. Vgl. Claudia Ritzi, Politische Gerechtigkeit durch (Un-)Gleichheit? Zur feministischen Demokratietheorie, in: Oliver W. Lembcke/dies./Gary S. Schaal (Hrsg.), Zeitgenössische Demokratietheorie. Band 1: Normative Demokratietheorien, Wiesbaden 2012, S. 63–96.

  8. Der sogenannte Freedom-House-Index misst die Umsetzung der demokratischen Grundwerte "politische Rechte" und "bürgerliche Freiheiten" in der Realität; vgl. Externer Link: https://freedomhouse.org/reports/freedom-world/freedom-world-research-methodology.

  9. Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden 2010, S. 38f.

  10. Vgl. Externer Link: https://freedomhouse.org/explore-the-map?type=fiw&year=2024.

  11. Vgl. Gert Pickel/Susanne Pickel, Die Bürger in der Demokratie, Stuttgart 2023, S. 40–44.

  12. Vgl. Alejandro Moreno Alvarez/Christian Welzel, How Values Shape People’s Views of Democracy. A Global Comparison, Externer Link: http://www.democracy.uci.edu/files/docs/conferences/2011/Moreno%20Welzel_Chapter.pdf. Alvarez und Welzel bezeichnen die soziale Komponente als "neutral", weil sie mit jedem anderen Ansatz von Demokratie kombiniert werden kann.

  13. Vgl. Externer Link: http://www.worldvaluessurvey.org/WVSContents.jsp.

  14. Die hier präsentierten Daten stammen aus den Wellen 5 bis 7 der Befragung und wurden somit vor den jüngsten Krisen erhoben. Die derzeit laufende Welle 8 (2024–2026) dürfte größere Verschiebungen des Demokratieverständnisses ausweisen, das bleibt vorerst aber Spekulation.

  15. Vgl. 2. Demokratiebericht Nordrhein-Westfalen 2023, S. 69–79, Externer Link: http://www.politische-bildung.nrw.de/fileadmin/imperia/md/content/projekte/Demokratiebericht/LpBNRW_Demokratiebericht_2023.pdf; Susanne Pickel et al., Demokratie und politische Kultur, in: Oliver Decker et al. (Hrsg.), Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten, Gießen 2022, S. 185–207; Beate Küpper/Elif Sandal-Önal/Andreas Zick, Demokratiegefährdende Radikalisierung in der Mitte, in: Andreas Zick/Beate Küpper/Nico Mokros (Hrsg.), Die distanzierte Mitte, Bonn 2023, S. 91–135. Für gleichlautende europäische Entwicklungen siehe Susanne Pickel/Gert Pickel, Political Values and Religion. A Comparison Between Western and Eastern Europe, in: Regina Polak/Patrick Rohs (Hrsg.), Values – Politics – Religion. The European Values Study, Wiesbaden 2023, S. 157–203.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Susanne Pickel für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.