Murmansk, 17. Februar 2022. Eine Woche vor dem Überfall auf die Ukraine legte in Russlands wichtigstem Arktishafen ein Handelsschiff aus dem chinesischen Tianjin an. An Deck der unter liberianischer Flagge segelnden "Audax" war lediglich ein riesiges Bauteil festgezurrt – es wog 12000 Tonnen und ragte doppelt so hoch in den grauen Winterhimmel wie die Kommandobrücke des Frachters. Gut sechs Wochen hatte der Schwerguttransporter für seinen Weg aus dem Gelben Meer an den westlichen Ausgang der Barentssee gebraucht und sich in der Polarnacht durch meterdickes Meereseis und Schneestürme gekämpft. Wegen ihrer Überbreite fuhren der "Audax" gleich zwei russische Atomeisbrecher vorweg; trotzdem ging es streckenweise nur im Schritttempo voran. Dafür konnte der Frachter auf seinem Weg über den Arktischen Ozean zehntausend Kilometer gegenüber der Standardroute durch den Suez-Kanal einsparen.
Seit Christoph Columbus 1492 den Seeweg nach Ostasien verfehlt hatte, träumten europäische Seefahrer von einer Abkürzung zwischen Atlantik und Pazifik entlang der Nordküste Sibiriens. Im 21. Jahrhundert ist diese legendäre Nordostpassage durchs Polarmeer Wirklichkeit geworden und eine reguläre, in ihrem Hauptabschnitt von Russland verwaltete Schifffahrtsstraße. Die Nördliche Seeroute (NSR) jenseits des Polarkreises ist zugleich ein Teilstück der "neuen Seidenstraße" – einem von Beijing geknüpften, interkontinentalen Geflecht aus Schnellstraßen und Bahngleisen, Containerhäfen und Pipelines, Datenkabeln und, nicht zuletzt, Krediten. Dieses eurasisch-nordafrikanische Infrastrukturnetz soll einmal 40 Prozent des Welthandels tragen und Chinas außenpolitischen Einfluss stärken.
Knapp fünf Jahre später nahm Novatek, der größte private Energiekonzern Russlands, die Ladung der "Audax" in Murmansk in Empfang. Seit einigen Jahren produziert Novatek auf der Jamal-Halbinsel im Nordwesten Sibiriens Flüssigerdgas (liquefied natural gas, LNG), das über den aus dem Permafrostboden gestampften Hafen Sabetta insbesondere nach Frankreich, Belgien und China exportiert wird. Novatek ist in Sabetta knapper Mehrheitsanteilseigner – 49,9 Prozent des Kapitals halten der chinesische Energiekonzern CNPC (China National Petroleum Corporation), dessen französischer Konkurrent Total und der sino-asiatische Investmentfonds Silk Road. Die Geschäfte laufen gut – die Jamal-Halbinsel liegt über dem größten noch unerschlossenen Erdgasfeld der Welt. Fast 19 Millionen Tonnen LNG hat Novatek im Jahr 2021 von dort verschifft. Schon 2023 soll in unmittelbarer Nachbarschaft eine zweite, doppelt so große LNG-Anlage in Betrieb gehen. Sie wird in der Nähe von Murmansk vorgefertigt, unter anderem mit solchen Riesenmodulen aus der Volksrepublik, wie sie die "Audax" schon mehrfach geliefert hat.
Die "Audax"-Lieferung wirft ein dreifaches Schlaglicht auf das aktuelle Interesse Beijings am Hohen Norden. Erstens ist China an dem Import von (insbesondere) fossilen Rohstoffen aus der russischen Arktis interessiert und investiert Kapital sowie Know-how – etwa in die schwierige Erschließung arktischer Gas- und Ölfelder, die sich unterhalb des Meeresbodens befinden.
Zweitens macht der Klimawandel das auftauende Nordpolarmeer als alternativen Transportweg für Chinas Exportwirtschaft interessant. Russlands NSR verkürzt die Verbindung zwischen Shanghai und Rotterdam, die wichtigste Schifffahrtsroute der Welt, um ein Fünftel (von 19500 auf 15800 Kilometer). Das spart Zeit, Treibstoff und Emissionen. Die NSR ist außerdem ein internationaler Seeweg, der nicht von der US-Marine kontrolliert wird. Sie umgeht die Meerenge von Malakka, das leicht blockierbare Nadelöhr des Warenaustauschs zwischen Ostasien, Arabien und Europa. Ein Nebenvorteil der NSR ist ihre Unzugänglichkeit für Piraten, die in der Straße von Malakka immer wieder Handelsschiffe kapern.
Drittens profitiert China auf der NSR vom Ukrainekrieg. Westliche Länder stoppten die Lieferung technischer Ausrüstung für Novateks zweites LNG-Terminal. Total schrieb Milliardeninvestitionen ab, und die EU hat für Ende 2022 ein Embargo gegen russische Öllieferungen per Schiff verfügt. Doch konnte Moskau seine Öl- und Gasexporte nach China gegenüber dem Vorjahr um über 50 Prozent steigern, auch dank der in den vergangenen zehn Jahren ausgebauten Seeverbindung durch die Arktis. Das Reich der Mitte kaufte mit günstigen Rabatten ein, hielt sich aber mit großen neuen arktischen Investitionen ebenso zurück wie mit einer aktiven Unterstützung von Russlands Krieg.
Russlands Nördliche Seeroute
Die "Audax" war nicht der erste Frachter, der die NSR gemeistert hat. Schon lange vor den chinesischen Arktisträumen haben sowjetische Schiffe den Seeweg routinemäßig befahren, das Teilstück von Westsibirien nach Nordrussland sogar ganzjährig. Für die Versorgung von Industrie- und Militärstandorten in Nordsibirien sowie für den Abtransport der dort gewonnenen Metalle, von Kohle oder Holz gab es keine alternative Route. Erst seit den späten 2000er Jahren wagen sich ausländische Reedereien auf die Strecke. Nicht nur wegen des Klimawandels, der im Sommer die Meere vor Sibirien größtenteils von Eis befreit, sondern auch, weil Moskau begann, die Infrastruktur der arktischen Schifffahrt systematisch zu modernisieren. Die stärkste Eisbrecherflotte der Welt und Lotsendienste, in Echtzeit über Satelliten übertragene Wetter- und Eisdaten sowie neue Reparatur- und Rettungsdienste haben eine der abgelegensten und anspruchsvollsten Schifffahrtstrecken der Welt einigermaßen kalkulierbar gemacht. Seit gut zehn Jahren wächst auf der NSR das nach dem Untergang der UdSSR 1991 drastisch eingebrochene Transportvolumen wieder; seit 2016 sind endlich die Rekordzahlen aus der Sowjetzeit überboten.
Doch dass ein Frachter die gesamte Route im tiefsten Winter bewältigte, einschließlich der schwierigsten Passagen vor Ostsibirien, war eine kleine Sensation. Schließlich machen selbst im Sommer Eisfelder, plötzlicher Nebel, gefrierender Regen und Untiefen die Schifffahrt nördlich von Sibirien zu einer Herausforderung. Arktiserfahrung und -ausrüstung sind nicht ohne Grund Pflicht. Ungleich schwieriger und langsamer ist ein Fortkommen im Winter, wenn der Ozean bei –35 Grad Celsius in meterhohen Eisverwerfungen gefriert und Tageslicht in Minuten gemessen wird. Kein Wunder, dass die "Audax" doppelt so lange unterwegs war wie Frachtschiffe im Sommer.
Doch es ging nicht um einen neuen Streckenrekord. Vielmehr sei, verkündete Novatek, endlich die Epoche des ganzjährigen Handelsverkehrs mit China durch den Arktischen Ozean angebrochen.
Die LNG-Transporte von der Jamal-Halbinsel machen mehr als die Hälfte sämtlicher über den NSR verschifften Güter aus – zusammen mit Erdöl sogar zwei Drittel. Jeder dritte Exporthafen lag 2021 in China. Bis 2024 sollen 80 Millionen Tonnen an Gütern durchs Polarmeer transportiert werden – das entspräche einer Verachtfachung des Transportvolumens von 2017 (9,9 Millionen Tonnen), also vor der Inbetriebnahme des Hafens von Sabetta. Dieses ehrgeizige, vom russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich im Mai 2018 gesetzte Ziel kann nur durch eine gewaltige Steigerung fossiler Energieexporte über die polare Seidenstraße erreicht werden.
Der im Westen mit besonderer Aufmerksamkeit beachtete Transitverkehr zwischen Atlantik und Pazifik macht nur zwei bis fünf Prozent aller auf der NSR transportierten Waren aus. Für den Suezkanal, durch den jedes Jahr mehr als eine Milliarde Tonnen Güter geliefert werden, stellt die NSR keine ernsthafte Konkurrenz dar.
Für Russland, dessen Territorium mehr als die Hälfte aller arktischen Küsten umfasst, ist die NSR nicht nur ein Handelsweg mit Zukunft, sondern untrennbar mit seiner imperialen Vergangenheit verknüpft. Er bildet das Rückgrat der arktischen Einflusszone Russlands. Die Erinnerung an die Eroberung durch russische Kosaken, Jäger und Kaufleute im 17. Jahrhundert, an die Arktisforschung der Zaren- und Sowjetzeit oder an die von Stalin forcierte Gründung von Häfen und Industrieanlagen in der Tundra sind grundlegend für Russlands Selbstverständnis als nordische Großmacht.
Spätestens seit im Sommer 1932 dem eisverstärkten Sowjetdampfer "Sibirjakow" als erstem Schiff die Durchquerung der Nordostpassage ohne Überwinterung gelang, stellt die NSR einen wichtigen russischen Erinnerungsort dar. Entsprechend bezeichnet das Gesetz, das seit 2012 die Verwaltung der arktischen Schifffahrtsroute regelt, die NSR nicht als eine internationale Wasserstraße (die sie seerechtlich ist), sondern als eine "historisch gewachsene nationale Verkehrsverbindung der Russländischen Föderation".
Im Norden endet die NSR, die mit ihren je nach Eisgang wechselnden Routen eigentlich ein Seegebiet darstellt, mit Russlands Ausschließlicher Wirtschaftszone im Polarmeer, also zweihundert Seemeilen von der sibirischen Küste entfernt. Das 1994 in Kraft getretene UNO-Seerechtsübereinkommen gesteht jedem Küstenstaat in seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone das Privileg der ökonomischen Ausbeutung (Fischerei, Rohstoffabbau) zu. Alle anderen Staaten besitzen dafür das Recht der freien Durchfahrt. In eisbedeckten Gewässern dürfen Küstenstaaten allerdings aus Sicherheits- und Umweltschutzgründen zusätzliche Auflagen erlassen und, wie Russland auf seiner NSR, Gebühren für Serviceleistungen erheben.
Ob sich dieser Regulierungsanspruch aufrechterhalten lässt, wenn das Eismeer immer weniger eisig wird, ist unklar. Die USA stufen schon jetzt die gesamte NSR als normales internationales und damit frei befahrbares Gewässer ein. Auch die zweite Supermacht der Welt, China, tritt für die Freiheit der Polarmeere ein, akzeptiert aber bislang die Sonderregeln für Moskaus eisbedeckte Ausschließliche Wirtschaftszone. Das Schicksal der Arktis möchte Beijing trotzdem nicht Russland und den anderen sieben Arktisstaaten überlassen, die sich 1996 im Arktischen Rat zusammengeschlossen haben. Die Volksrepublik, die eines der weltweit größten arktischen Forschungsprogramme unterhält, darf zwar seit 2013 als Beobachter an diesem exklusiven Kreis teilnehmen. Doch ist das eine Rolle, mit der sich die zweitgrößte Volkswirtschaft und das bevölkerungsreichste Land der Welt auf Dauer zufriedengeben wird? Letztlich möchte China als polare Großmacht anerkannt sein, spielt dieses Ziel jedoch in der Öffentlichkeit herunter.
Chinas Arktisinteressen
Anfang September 2013 stellte Chinas Staatspräsident in der kasachischen Hauptstadt Astana seine Vision einer neuen Seidenstraße vor. Xi Jinping kündigte Investitionen von 900 Milliarden US-Dollar an, damit die internationalen Handelsströme störungsfreier und auch durch Binnenländer wie Kasachstan fließen können.
Derweil bahnten sich mehrere Tausend Kilometer nördlich zwei Frachter aus dem nordchinesischen Dalian ihren Weg durch den Arktischen Ozean nach Rotterdam – es waren die ersten Handelsschiffe unter chinesischer Flagge auf der NSR. Bereits im Vorjahr hatte das Forschungsschiff "Xue Long" (dt.: Schneedrache), ein 18000 PS starker Eisbrecher mit Heimathafen Shanghai, die Nordostpassage durchquert. Die Eisfahrten der chinesischen Schiffe waren zwar weniger öffentlichkeitswirksam, symbolisch aber nicht weniger bedeutsam als der Auftritt von Xi in Astana. Während der chinesische Präsident die historische Größe seines Landes und die Kamelkarawanen vergangener Jahrhunderte beschwor, unterstrich der stolze Schneedrache die Entschlossenheit der Volksrepublik, in Zukunft eine aktive Rolle in der Erforschung und Schiffbarmachung der Arktis zu spielen.
Die wichtigste Basis dieser Strategie stellt der Arktische Rat dar, in dem die Volksrepublik, in Abstimmung mit anderen Beobachterstaaten, über die verschiedenen Arbeitsgruppen durchaus Einfluss auf die Themensetzung nimmt. Dies gilt mehr noch für die jährlichen, von Island organisierten Polarkreis-Konferenzen, auf denen sich hochrangige Vertreter arktischer und nicht-arktischer Staaten treffen, oder für die International Maritime Organisation, in der China an der Ausarbeitung des 2017 in Kraft getretenen Polar-Codes mit Regeln für die arktische Schifffahrt beteiligt war. Zugleich investieren chinesische Firmen nicht nur in den Bau von russischen Tiefwasserhäfen und LNG-Anlagen, sondern auch in den Abbau seltener Erden auf Grönland oder in Kanadas Nickelförderung.
Einen besonderen Rang besitzt die chinesische Wissenschafts- und Handelsdiplomatie. Das Shanghaier Polarforschungsinstitut hat inzwischen über zehn prestigeträchtige Arktisexpeditionen organisiert; darüber hinaus kofinanziert China hochwertige Forschungsinfrastrukturen wie ein großes Observatorium auf Island oder in Schweden eine Kontrollstation für die ersten chinesischen Polarsatelliten. Bereits 2012 hat China ein Grundsatzabkommen mit Island abgeschlossen, das neben dem gemeinsam betriebenen Observatorium das erste Freihandelsabkommen mit einem europäischen Staat und gegebenenfalls sogar den Bau eines Verteilerhafens am Rande des Polarkreises vorsah. Man träumte von einer direkten Handelsverbindung über den Nordpol, der kürzesten Verbindung aus China in den Nordatlantik.
Doch zunächst hatte die arktische Schifffahrt für das Reich der Mitte einen experimentellen und symbolischen Charakter. Seine Reedereien sollten für die Zukunft gerüstet sein. Die wichtigsten Handelspartner Chinas – ob Japan, die USA oder Saudi-Arabien – waren weiterhin am besten über südliche Routen zu erreichen. Allein für Lieferungen nach Nordeuropa galt Russlands NSR als profitable Alternative. Die Rechnung war einfach: Weltweit werden 80 Prozent aller Güter über die Ozeane transportiert, und China verfügt über die größte Handelsflotte der Welt. Nur einen Bruchteil dieser Warenströme in die Arktis zu verlagern, könnte andernorts Kapazitäten freimachen.
Im Januar 2018 verkündete die Volksrepublik dann in einem vielbeachteten Weißbuch ihre erste offizielle Arktisstrategie. Obwohl Chinas nördlichste Stadt Mohe auf einem Breitengrad mit Berlin liegt, definierte sich das Land als "arktisnaher" Staat mit einem berechtigten Interesse an der Entwicklung des Hohen Nordens. Ausdrücklich bekannte sich Beijing zu den Regeln des Arktischen Rats und zum UNO-Seerechtsübereinkommen. Doch zugleich betonte das Weißbuch, dass die rasant voranschreitende Erwärmung der Arktis zu Extremwetterlagen in China führe und dass die außerhalb von Ausschließlichen Wirtschaftszonen im Polarmeer vermuteten Rohstoffe nicht von den Anrainerstaaten exklusiv beansprucht werden dürften. Die wissenschaftliche Erforschung des Klimawandels, die freie Handelsschifffahrt oder der Fischfang in hohen Breitengraden müssten auf internationaler Ebene geregelt werden – und unbedingt mit Beteiligung Chinas. Geschickt wurden nationale und globale Interessen verknüpft.
Auch die polare Seidenstraße, die in Chinas Weißbuch eine Schlüsselrolle spielt, wird als globales, transarktisches Projekt verstanden. Das steht in einem latenten Widerspruch zu Moskaus Wahrnehmung der NSR als russische Schifffahrtsstraße, hat aber einstweilen die Kooperation zwischen den beiden größten eurasischen Staaten nicht behindert. Im Juni 2018 unterzeichneten sie ein gigantisches Investitionsprogramm, in dem China fast zehn Milliarden US-Dollar für gemeinsame Infrastrukturprojekte in Eurasien zusicherte, auch für den Ausbau der NSR.
Obwohl chinesische Militärs die Arktis als eine zukünftige globale Konfliktzone einschätzten, blieben sicherheitspolitische Themen in Beijings Arktisstrategie ausgespart. Vor allem die USA befürchten dennoch, dass Chinas Investitionen in arktische Häfen und Forschungsexpeditionen, in Eisbrecher und Satelliten auch militärisch nutzbares Wissen und Strukturen schaffen. Diesen Vorwurf erhob in scharfen Worten US-Außenminister Mike Pompeo im Mai 2019 auf einer Sitzung des Arktischen Rats. In der Verflechtung von NSR und neuer Seidenstraße sah er ein "very familiar pattern" chinesischen Hegemoniestrebens, das ihn an Chinas Machtpolitik im Südchinesischen Meer erinnere.
Polare Partnerschaft
Pompeos Ausbruch richtete sich gegen China, weil es Russland mit seiner Infrastrukturpolitik umgarnt habe. Brüsk verkündete Donald Trumps Außenminister, dass China kein arktisnaher Staat sein könne, weil es nur Arktisstaaten und Nicht-Arktisstaaten gebe. Dafür erhielt Pompeo sogar Unterstützung von Nikolaj Kortschunow, dem ranghöchsten russischen Diplomaten im Arktisrat. Das lag auf der von seinem Außenminister vorgegebenen Linie, dass Beijing zwar Moskaus wichtigster Partner in der Arktis sei, aber eben nicht im Arktischen Rat.
Russland beharrt bis heute gegenüber China auf seiner Souveränität als größter arktischer Küstenstaat, doch die Verwirklichung seiner ehrgeizigen Pläne im Hohen Norden läuft immer mehr über Chinas polare Seidenstraße. Umgekehrt setzt die Volksrepublik auf die NSR, obwohl die polare Seidenstraße theoretisch auch die Nordwestpassage vor Kanada einschließt. Doch diese kann (noch) nicht mit der Nordostpassage konkurrieren. Das hat drei Gründe.
Erstens schreitet der Klimawandel nirgendwo schneller voran als vor der Küste Sibiriens und macht die Meere dort verlässlicher eisfrei. Zweitens ist Russlands maritime Infrastruktur besser ausgebaut als auf der kanadischen Südseite des Nordpols. Gigantische Exportterminals wie auf der Jamal-Halbinsel gibt es dort nicht. Drittens haben sich Russland und China spätestens seit dem Beginn des Ukrainekriegs 2014 außen- und wirtschaftspolitisch angenähert. Als Geldgeber und Technikexporteur schloss China damals nicht nur auf der Jamal-Halbinsel Lücken, die in der russischen Wirtschaft durch die westlichen Sanktionen nach der Krim-Annexion entstanden waren. Russland lieferte seinerseits modernste S-400-Boden-Luft-Raketen und pumpte so viel sibirisches Erdöl durch die Pipelines nach China, dass es dort Saudi-Arabien vom ersten Platz der Öllieferanten verdrängte. Herzliches Einvernehmen und USA-kritische Forderungen nach einer neuen Weltordnung gehören zu jedem der regelmäßigen Gipfeltreffen von Xi und Putin.
Selten in der Geschichte gestalteten sich die Beziehungen zwischen Moskau und Beijing so harmonisch wie heute. Viele Politikwissenschaftler, die lange Zeit über Putins "Wende nach Asien" gespottet haben, sprechen inzwischen von einer dauerhaften Kooperation, gar von einer möglichen Allianz. Schon vor dem Ukrainekrieg hatte China Deutschland als wichtigsten Handelspartner Russlands abgelöst. Das sino-russische Handelsvolumen ist seit 2014 um über 50 Prozent von 95 auf 147 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 gewachsen.
Die NSR hat hieran einen kleinen Anteil. Mit chinesischer Hilfe hergestelltes LNG stellt knapp die Hälfte aller russischen Gasexporte nach China (die wiederum nur fünf Prozent des chinesischen Bedarfs decken). Trotzdem lässt der LNG-Handel die Konturen der polaren Seidenstraße hervortreten. Flüssigerdgas machte zeitweilig zwei Drittel der über die NSR verschifften Güter aus – oder 20,5 der im Jahr 2019 beförderten 31,5 Millionen Tonnen. Dank LNG ist das Gesamttransportvolumen seit 2017 (9,9 Millionen Tonnen) auf mehr als das Dreifache gewachsen. Selbst in den beiden Krisenjahren der Corona-Pandemie hat sich das Wachstum nur verlangsamt. Von den 80 Millionen Tonnen, die Putin für 2024 verlangt hat, ist zwei Jahre vorher allerdings nicht einmal die Hälfte geschafft. Immerhin der Export nach China dürfte auch im Kriegsjahr 2022 weiter steigen. Russlands Wende nach Asien, jubelte jüngst Aleksej Tschekunow, Putins Minister für den Fernen Osten und die Arktis, werde nun im Hohen Norden vollzogen.
Beeindruckende Wachstumszahlen auf niedrigem Niveau wies lange Zeit auch Chinas Transitverkehr über die NSR auf. Seit 2017 ist die Zahl der Transitfahrten über die Nördliche Seeroute, die entweder in einem chinesischen Hafen starteten oder endeten, von 11 auf 53 gestiegen. Machten diese Fahrten 2017 bereits 40 Prozent aller 27 Transitpassagen aus, waren es 2021 satte 62 Prozent (von 85 Fahrten). Dagegen liefen 2013, vor dem Start der BRI, nur 4 der damals 71 Transitfahrten (oder sechs Prozent) über einen chinesischen Hafen.
Chinas experimentelle Phase im arktischen Schiffsverkehr ist definitiv abgeschlossen. Doch im Vergleich mit dem Suezkanal, den jedes Jahr über zweitausend chinesische Schiffe durchfahren, wirken die Zahlen fast bedeutungslos. Und im Kriegssommer 2022, klagte die russische Fachzeitschrift "Korabl" (dt.: Das Schiff), mieden selbst chinesische Schiffe Russlands arktische Gewässer, als seien sie aus Säure.
Selbst wenn der Transithandel wieder auf Vorkriegsniveau wachsen sollte, dürfte es Jahrzehnte dauern, bis die NSR zu einer ernsthaften Alternativroute des Welthandels wird. Einstweilen ist der Seeweg für Russland als Exportachse ungleich wichtiger als für China. Der Ukrainekrieg macht eine schon länger bestehende Asymmetrie scharf sichtbar: Russland muss Ersatz für die wegbrechenden europäischen Absatzmärkte finden – China kann abwarten. Hinzu kommt, dass Russland im Arktischen Rat isoliert ist, seitdem die anderen sieben Vollmitglieder im März 2022 jede Kooperation mit Moskau eingestellt haben. Nun ist China trotz seines zweitrangigen Status als Beobachterstaat doch noch zum wichtigsten Partner Russlands in diesem Gremium geworden.
Die Zukunft der NSR als Exportroute des russischen Rohstoff-Imperiums wird eine andere sein, als in den vergangenen zehn Jahren geplant. Das rasante Wachstum der Jahre nach 2017 ist vorbei. Auch in der Arktis hat der Krieg Transport- und Logistikketten unterbrochen. Sanktionen haben die Fertigstellung des zweiten LNG-Terminals auf der Jamal-Halbinsel gestoppt; sogar China hält sich hier an EU-Sanktionen und hat seine Zulieferungen eingestellt. Zwei Tage bevor am 27. Mai 2022 das fünfte EU-Sanktionspaket den Handel mit LNG-Fördertechnik untersagte, brachte die "Audax" ein letztes Mal Bauteile in die Nähe von Murmansk.