Vor knapp zehn Jahren kündigte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping zwei "neue Seidenstraßen" an. Nach seinen Reden in Kasachstan und in Indonesien im September und Oktober 2013 war nicht vorherzusehen, welch große Wirkung diese Initiativen sowohl auf die chinesische als auch auf die internationale Politik haben sollten. Die seit 2016 offiziell als "Belt and Road Initiative" (BRI) bekannte Politik
Von der Ankündigung zur globalen Vision: drei Phasen der BRI
Die Motivation für die BRI basiert auf einer Reihe von innen- und außenpolitischen Gründen. So greift die Idee der BRI auf die sozioökonomischen Erfahrungen und Erfolge des chinesischen Entwicklungsmodells zurück. Sie forciert beispielsweise die wirtschaftliche Entwicklung und den Infrastrukturausbau in den Ländern, die mit China ein Kooperationsabkommen oder eine Absichtserklärung im Rahmen der BRI unterzeichnet haben. Einige Expert*innen argumentieren auch, dass die BRI eine Lösung für die industrielle Überkapazität der chinesischen Wirtschaft darstellt.
Außenpolitisch steht die BRI zunächst im Einklang mit der Vorstellung des damals "neuen Sicherheitskonzeptes" von 1996, das darauf angelegt war, Stabilität durch den forcierten Aufbau wirtschaftlicher Kooperation zu garantieren. Es geht um den Ausbau der "freundlichen Nachbarschaftsbeziehungen", auch wenn der geografische Raum der Initiativen nicht mehr nur auf die direkten Nachbarstaaten begrenzt war. Im Falle der Landweg-Initiative wird zum Beispiel rasch deutlich, dass die chinesische Führung ihre Politiken gegenüber Zentralasien, Westasien, dem Kaukasus oder der Schwarzmeerregion nicht mehr voneinander trennt, sondern den Eurasischen Raum mithilfe der BRI als Ganzes betrachtet. Die globale Ausdehnung sowie Geopolitisierung neuer Politikräume machten die BRI bald zu einem zentralen Instrument der Außenpolitik unter Xi Jinping.
Phase I: 2013–2015
Da sich der weltpolitische Kontext und folglich auch die Beziehungen zwischen den USA und China im vergangenen Jahrzehnt so drastisch verändert haben, ist es wichtig, auf die politische Situation zu Beginn der BRI zu blicken.
In Deutschland und Europa ist die politische Tragweite der Seidenstraßeninitiativen zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt worden.
Phase II: 2015–2020
Dies hatte auch damit zu tun, dass gerade in den ersten Jahren der Machtübernahme durch Xi Jinping so viele neue Initiativen verkündet wurden, dass es von außen nicht so einfach ersichtlich war, welche am Ende seine Politik nachhaltig prägen würden. Recht schnell stellten die neuen Seidenstraßen dann alles in den Schatten, was bis dahin von einer chinesischen Regierung für die Politik gegenüber der Außenwelt vorgeschlagen wurde.
"Konnektivität" ist dabei kein politischer Begriff, der von Peking prominent eingeführt worden wäre, etwa im Sinne eines außenpolitischen Ziels oder einer neuerlichen Initiative. Die Entscheidung dafür, Chinas Außenpolitik wissenschaftlich unter diesem Terminus zu fassen, basiert vielmehr auf einer Analyse sprachlicher Formulierungen, die sich im außenpolitischen Diskurs des Landes über einen bestimmten Zeitraum hinweg entwickelt und manifestiert haben.
An zwei Elementen der chinesischen Konnektivitätspolitik wird besonders deutlich, wie sich Chinas Vorstellungen von der etablierten liberalen Sichtweise auf die internationale Ordnung, von ihren Normen, Standards sowie Entwicklungs- und Kooperationsmechanismen unterscheiden.
Im Zeitraum von 2015 bis 2020 hat sich die deutsche und europäische Politik gegenüber der BRI und China insgesamt stark verändert. Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Veränderungen, Donald Trumps Amtszeit als 45. Präsident der USA, der globalen Zunahme von Tendenzen der Entdemokratisierung sowie den deutlichen Veränderungen der chinesischen (Außen-)Politik unter Xi Jinping sind zwei Entwicklungen hervorzuheben: zum einen der zunächst eher zaghafte Versuch der EU, mit der Verabschiedung der "EU-Asien-Konnektivitätsstrategie" zusammen mit anderen asiatischen Partnern einen nachhaltigen, umfassenden und regelbasierten Ausbau von Konnektivität zu gewährleisten.
Phase III: 2020 fortlaufend
Die Entwicklungen der vergangenen Jahre, vor allem die Covid-19-Pandemie und ihre Auswirkungen, die Klimakrise sowie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, haben die weltpolitische Lage nochmals gravierend verändert. Auch die chinesische (Außen-)Politik kann nicht unabhängig von dieser Situation betrachtet werden. China ist Globalmacht, ein aktives Mitglied in internationalen Organisationen, und chinesische Akteure sind mittlerweile in jeder Weltregion vertreten. Darüber hinaus haben viele internationale Themen, Institutionen oder Akteure durch einen Bezug zu China eine stärkere globale Beachtung erfahren, etwa das Internationale Olympische Komitee, die Weltgesundheitsorganisation, das Weltwirtschaftsforum oder internationale Standards. Der entscheidende Punkt ist aber, dass China zunehmend eine eigene Vorstellung von "Globalität" entwickelt, das heißt davon, wie die Welt räumlich und geografisch strukturiert sein sollte, um eine größere Kompatibilität mit den Zielen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) herzustellen.
Dies ist in erster Linie möglich, weil wir uns inmitten einer Phase befinden, in dem die liberale internationale Ordnung ihren Kulminationspunkt endgültig überschritten hat. Begriffe wie "Zeitenwende" drücken dies im Kern aus. Sie verdeutlichen: Was vormals galt, gilt nicht mehr. Mit Antonio Gramsci könnte man auch von einem "Interregnum der Weltordnung" sprechen.
All diese Unsicherheiten haben Nischen in der etablierten Ordnung entstehen lassen, in denen Institutionen und Mechanismen nicht mehr so funktionieren wie gewohnt. Diese legen bestimmte Bereiche offen, die weniger stark im liberalen Wertesystem verankert sind. Der chinesischen Regierung bietet sich so immer wieder die Möglichkeit, eigene Ideen und Vorschläge in einzelne Kontexte der internationalen Politik einzubringen und Bestandteile der bisherigen Ordnung umzuformen.
Geografisch spiegelt sich dies darin wider, dass für die chinesische Regierung der Austausch mit Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Südostasiens weiterhin von hoher Bedeutung ist und nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine intensiviert wurde. So erhalten politische Gipfeltreffen im Rahmen der BRICS,
Global manifestiert sich der chinesische Anspruch in zwei weiteren zentralen Initiativen: der Global Development Initiative (GDI) und der Global Security Initiative (GSI). Die GDI verstetigt Aspekte, die bereits seit 2017/18 intensiv den akademischen Diskurs in China dominieren. Dies umfasst die Frage nach der Nachhaltigkeit von BRI-Projekten und wie diese besser mit den Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen verknüpft werden könnten.
Aufgrund der weltpolitischen Entwicklungen und innenpolitischen Folgen haben sich die Inhalte der BRI ebenfalls verschoben. Es ist deutlich erkennbar, dass der Hype der ersten Jahre vorbei ist. Große Investitionen in alle nur vorstellbaren Infrastrukturprojekte, oftmals in risikobehafteten Kontexten, haben in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Abgesehen davon müssen sich auch chinesische Akteure letztlich mit lokalen Herausforderungen, wie Schwierigkeiten beim Landerwerb für den Bau von Bahnstrecken oder Regierungswechsel in Empfängerländern, auseinandersetzen. Insgesamt stabilisiert sich das BRI-Engagement auf niedrigem Niveau.
Geopolitischer Code der chinesischen Außenpolitik
Vor dem Hintergrund der globalen Veränderungen ist es umso wichtiger, die Prinzipien zu analysieren, die die chinesische Außenpolitik unter Xi Jinping prägen.
Andocken
Das Prinzip "Andocken" hat im innerchinesischen Diskurs seit etwa 2015/16 die politischen Begriffe von "Anpassung" an und "Integration" in das internationale System abgelöst. Gegenüber dem nationalen Publikum signalisiert die Verwendung von "Andocken" folglich, dass die Tage einer passiven Integration Chinas vorüber sind. In diesem Sinne gibt Andocken die Wirkrichtung chinesischer Politik vor: weniger Anpassung an internationale Normen und Praktiken, dafür proaktives Werben für die Erfolge des eigenen Entwicklungsmodells. Es forciert daher eine deutlich progressive Politik unter Xi Jinping.
Erstens enden damit die Diskussionen über Chinas Integration in die internationale Ordnung, insbesondere sofern diese unter der Voraussetzung einer Transformation des politischen Systems erfolgen sollte. Zweitens wandelt sich mit Andocken die Wirkrichtung chinesischer Politik. Das Prinzip impliziert ein proaktiveres Vorgehen chinesischer Akteure mit dem Ziel, dominante (liberale) Normen, Standards und Werte beispielsweise durch die Etablierung von China+X-Mechanismen wie beispielsweise FOCAC, BRICS, China+Central Asia/C+C5
Diskursmacht
Unter Xi Jinping hat der Begriff "Diskursmacht" sowohl im politischen als auch im akademischen Diskurs deutlich an Bedeutung hinzugewonnen. Nutzung von Diskursmacht meint nicht nur, auf internationalem Parkett eine eigene Sprache und eigene Begrifflichkeiten einzuführen. Es geht auch darum, alle möglichen Kanäle und Orte der Politik zu rekonfigurieren, sowie die materielle Wirklichkeit der internationalen Kommunikation durch den Aufbau neuer oder die Erweiterung bestehender Infrastruktur zu verändern. Darüber hinaus wird in Peking oft sorgfältig überlegt, welche Konzepte der westlich-liberalen Weltordnung sich mit Chinas eigenem Diskurssystem in Beziehung setzen lassen. Eine weitere Rolle spielt dabei die Sichtweise, dass globales Wissen nicht mehr nur im Globalen Norden produziert wird. So sieht China bei bestimmten Begriffen wie "Gemeinschaft", "Entwicklung", "Inklusivität", "Menschenrechte", "Sicherheit" oder dem "Kampf gegen die Deglobalisierung" die Möglichkeit, deren Verwendung global zu prägen. Die Kunst besteht darin, vorhandene Formulierungen inhaltlich so zu verändern, dass sie von anderen Regierungen selbst in einem chinesischen Sinne genutzt werden, ohne dass es sofort offensichtlich wird. Ein solches Vorgehen lässt vermuten, dass chinesische Akteure, gerade unter Xi Jinping, die inhaltliche Ausrichtung von Dialogmechanismen mit externen Akteuren immer häufiger den Vorstellungen der Parteiführung anpassen.
Versicherheitlichung
Zentral für den geopolitischen Code Chinas ist ferner, dass unter Xi Jinping zunächst im nationalen, dann auch im außenpolitischen Kontext eine extreme Versicherheitlichung der Politik stattgefunden hat. Kurzum und stark vereinfacht: Alles ist ein Sicherheitsproblem. Das Prinzip der Versicherheitlichung charakterisiert die Politik unter Xi Jinping fortwährend. Innenpolitisch lässt sich dies daran ablesen, dass Xi Jinping bereits in einer seiner ersten Reden im April 2014 für ein "umfassendes Konzept von nationaler Sicherheit" plädiert hat. Das Konzept bezieht sich sowohl auf interne wie externe Sicherheit, betont traditionelle Bereiche wie Militärsicherheit oder politische Sicherheit und nicht-traditionelle Bereiche wie kulturelle oder ökologische Sicherheit. Gleichzeitig deutet sich hier auch schon eine weitere Veränderung in der chinesischen Denkweise an, denn unter dem "umfassenden Konzept nationaler Sicherheit" verstärken sich Entwicklung und Sicherheit gegenseitig. Dies ist eine Abkehr vom "Entwicklung zuerst"-Prinzip, dem Fokus auf die wirtschaftliche Entwicklung als Voraussetzung nationaler Sicherheit. Schon frühzeitig in seiner Amtszeit betonte Xi Jinping somit die zentrale Bedeutung von Sicherheit für die kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung Chinas. Seit 2020 ist die Gleichstellung von Sicherheit und Entwicklung auch im offiziellen Parteisprech integriert.
Die Akzentuierung der nationalen Sicherheit als eine entscheidende Grundlage für ein besser entwickeltes und sicheres China hört an den Grenzen des Landes nicht auf. So verkündete Xi Jinping erst kürzlich die bereits erwähnte GSI im Rahmen des virtuellen Boao-Forums, eine Art asiatischem Weltwirtschaftsforum. Hierbei übertrug Xi Jinping zentrale Aspekte des innerchinesischen Diskurses über Sicherheit auf die weltpolitische Lage und betonte, dass die Gewährleistung von Sicherheit eine zentrale Voraussetzung für Entwicklung sei.
Fazit und Ausblick
In den zehn Jahren unter der Führung Xi Jinpings hat sich die Ausrichtung der chinesischen Außenpolitik deutlich verändert. Die drei Phasen der BRI zeigen auf, wie sich Chinas Orientierung zur Welt immer weiter von "westlich" geprägten Vorstellungen einer liberalen internationalen Ordnung entfernt hat. Dies ist auch ein Indikator der "Zeitenwende" oder des "Interregnums der Weltordnung". Chinas Neuorientierung unterstreicht ein wichtiges Element unserer Zeit, und zwar den Wettbewerb von konkurrierenden geopolitischen Vorstellungen darüber, wie die Welt in Zukunft politisch und räumlich geordnet sein könnte. Die BRI und daran anknüpfend die GDI und GSI repräsentieren strategische Instrumente, die es chinesischen Entscheidungsträger*innen ermöglichen, eine bestimmte Sichtweise von "Entwicklung", "Konnektivität" oder "Sicherheit" in der Welt zu vermitteln. Chinas geopolitischer Code, der geprägt ist von den drei Prinzipien Andocken, Diskursmacht und Versicherheitlichung, schafft den Kontext dafür, dass strategische Instrumente wirken können. Ohne Verständnis dieser Prinzipien ist die Wirkung chinesischer Außenpolitik kaum nachvollziehbar und eine strategische Neuausrichtung deutscher Politik gegenüber China bleibt unzureichend.