2012 verkündete die Volksrepublik China ihr Vorhaben, einen "maritimen Staat zu errichten" (jianshe haiyang qiangguo). Seitdem hat China mehrfach seine Absicht unter Beweis gestellt, zur maritimen Macht aufzusteigen. Dies zeigt sich etwa im Aufbau einer Marine "von Weltrang",
Chinas zunehmende maritime Präsenz stößt international auf Besorgnis. Trotz der Lage im indopazifischen Raum, einer seit jeher umkämpften Region mit regem Handel und Schiffsverkehr, gilt die Volksrepublik nicht als traditionelle Seemacht. Warum zeigt China ein verstärktes Interesse im maritimen Bereich und welche Strategie verfolgt es dabei? Warum werden Chinas maritime Ambitionen als so große Gefahr für die Stabilität im indopazifischen Raum wahrgenommen? In diesem Artikel soll ein Überblick über Chinas Aufstieg als maritime Macht gegeben werden.
Chinas Seemachtsambitionen
Historisch betrachtet war China in erster Linie eine Kontinentalmacht, deren maritime Interessen begrenzt waren. Trotz einer Küstenlinie von 18.400 Kilometern, eine der längsten Asiens, beschränkte sich das Kaiserreich China im Wesentlichen auf die Verteidigung dieser Küste; die Vorherrschaft auf dem Meer war nicht das Ziel.
Erst in den 1980er Jahren, als Liu Huaqing, der damalige Oberkommandant der chinesischen Marine, die Strategie der "aktiven küstennahen Verteidigung" einführte, verlagerte China den Schwerpunkt seiner nationalen Verteidigungskapazitäten von den Landesgrenzen und der Küstenlinie hinaus aufs Meer.
Souveränitätsansprüche
Die Wahrung der territorialen Integrität und Souveränität ist seit Langem ein zentraler Aspekt der chinesischen Ideologie und Außenpolitik und wird als grundlegendes Element der nationalen Sicherheit betrachtet.
In offiziellen wie akademischen Texten findet man häufig die Formulierung "Schutz der maritimen Rechte und Interessen" (weihu haiyang quanyi). Mit dem Beitritt Chinas zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen 1996 hat sich Chinas maritimer Raum durch die Definition der Ausschließlichen Wirtschaftszonen und Festlandsockel auf 3,6 Millionen Quadratkilometer erweitert. Zwei Drittel dieses maritimen Raums sind jedoch nach wie vor umstritten, weil benachbarte Staaten ebenfalls Ansprüche darauf erheben, etwa Japan auf die Diaoyu/Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer oder die Philippinen, Vietnam, Brunei und Malaysia auf die Xisha/Paracel- und Nansha/Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer
Bei der Betrachtung von Chinas Souveränitätsansprüchen darf man Taiwan nicht außer Acht lassen. Die durch die 180 Kilometer breite Taiwanstraße vom Festland getrennte Insel wird von der Volksrepublik China als wesentlicher Bestandteil ihrer territorialen Integrität betrachtet. Entsprechend ist man in Beijing bestrebt, den Anspruch auf Taiwan mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich militärischer Maßnahmen, zu verteidigen. Aus Sicht der Kommunistischen Partei Chinas ist die Taiwanfrage nicht nur Teil der maritimen Strategie, sondern ein wesentlicher Aspekt der "Wiedervereinigung der großen chinesischen Nation". In Anbetracht der strategischen und militärischen Bedeutung der Insel ist Taiwan jedoch auch "entscheidend für Chinas Bestreben, seine militärische Macht weiter nach außen zu projizieren".
Entsprechend haben die Spannungen zwischen China und Taiwan in den vergangenen Jahren zugenommen. Laut den Publizisten und Politikberatern Jude Blanchette und Ryan Hass hat sich die Wirkung der drei Faktoren, die China bislang von einer Besetzung Taiwans abgehalten haben, nach und nach verringert: die militärische Überlegenheit der USA gegenüber China, Chinas Fokussierung auf die eigene wirtschaftliche Entwicklung und die bewusst ambivalente Haltung der USA bezüglich Taiwans Autonomie.
Geoökonomische Ambitionen
Das chinesische Streben nach maritimer Macht geht über territoriale Interessen hinaus und umfasst auch geostrategische und wirtschaftliche Faktoren. Umgeben von vier Meeren – dem Bohai-Meer, dem Gelben Meer, dem Ostchinesischen und dem Südchinesischen Meer – hat China dennoch keinen direkten Zugang zum offenen Pazifik. Als wachsende Volkswirtschaft ist die Volksrepublik für ihr wirtschaftliches Wohlergehen jedoch in hohem Maße auf die Seeverkehrswege angewiesen. Der Anteil Chinas am Seehandel und Export wächst ebenso beständig wie sein Bedarf an Ressourcen und Rohstoffen. Nach Angaben des Center for Strategic and International Studies wurden 2016 über 64 Prozent des chinesischen Seehandels über das Südchinesische Meer abgewickelt, das entspricht einem Wert von rund 874 Milliarden US-Dollar.
Zusätzlich zu diesem regionalen Fokus zeigt China auch global eine verstärkte maritime Präsenz. Die chinesische Regierung unterstützt und fördert seit Langem einheimische Unternehmen, damit diese in Infrastrukturprojekte im Ausland investieren. Im Rahmen der 1999 initiierten "Going Global"-Strategie und der Belt and Road Initiative von 2013 hat China Handelsbeziehungen zu über 600 internationalen Häfen aufgebaut, und chinesische Unternehmen besitzen einen oder mehrere Terminals in 96 Häfen.
Maritime Strategie
Bislang hat die Volksrepublik ihre maritime Strategie zwar noch nicht offiziell formuliert, allerdings hat die Regierung verschiedene Maßnahmen umgesetzt, um den maritimen Einfluss Chinas auszudehnen. Viele davon haben zu Konflikten geführt und stellen daher eine Bedrohung für die Nachbarstaaten und die internationale maritime Ordnung dar.
Ausbau der Hochseemarine
An erster Stelle steht der Ausbau der chinesischen Marine. Zu deren Doktrin zählt seit 2015 neben der küstennahen Verteidigung auch der Schutz auf hoher See. 2018 erklärte ein Befehlshaber der chinesischen Marine: "Eine moderne Marine ist ein wichtiges Symbol beim Aufbau eines Militärs von Weltrang. Sie dient der strategischen Unterstützung bei der Entwicklung zu einer starken Seemacht."
Die Modernisierung der chinesischen Marine sorgt für Unruhe bei den anderen Mächten im Indopazifik, vor allem den USA. Obwohl die US-Marine der chinesischen in Hinblick auf die Flottenstärke, Waffensysteme, Marinestützpunkte und ihre operative Erfahrung nach wie vor überlegen ist, verfolgt man in Washington aufmerksam jede Entwicklung, die den US-amerikanischen Status als einzige globale Seemacht nach dem Zweiten Weltkrieg bedrohen könnte. So heißt es in einem Bericht des Congressional Research Service vom März 2022: "In einer Zeit, in der der Wettbewerb der Großmächte neu entbrannt ist, sind Chinas militärische Modernisierungsbemühungen, einschließlich seiner Bemühungen um eine Modernisierung der Marine, in den Fokus der Verteidigungsplanung und -budgetierung gerückt."
"Lawfare" im Südchinesischen Meer
China versucht durch eine Vielzahl nichtmilitärischer Maßnahmen, seine maritimen Ansprüche durchzusetzen. Allerdings tragen diese erheblich zu den Spannungen in der Region bei. Trotz langwieriger Verhandlungen über einen Verhaltenskodex im Südchinesischen Meer sind die Fortschritte überschaubar.
Besonders deutlich zeigt sich die Haltung Beijings am Auftreten der chinesischen Küstenwache.
Die chinesische Maritime Volksmiliz stellt eine weitere Bedrohung der bisherigen Ordnung dar. Sie umfasst Arbeiter aus dem Schiffsbau und Zivilisten, meist Fischer, die direkt in die chinesischen Streitkräfte integriert sind. Die Maritime Volksmiliz untersteht zwar nicht offiziell dem Kommando der Volksarmee, wird aber von der chinesischen Marine organisiert und ausgebildet.
"Reformer" der internationalen maritimen Ordnung
Zusätzlich versucht Beijing, seinen Einfluss auf dem Meer über den Bereich der Ocean Governance auszuweiten. Im 14. Fünfjahresplan von 2021 hob der Staatsrat das Ziel hervor, die "Schaffung einer fairen und vernünftigen internationalen maritimen Ordnung" zu fördern und eine "maritime Schicksalsgemeinschaft" zu gründen. Das chinesische Außenministerium formulierte in seinem Entwurf einer globalen Sicherheitsinitiative im März 2023 Ziele wie die Gewährleistung der maritimen Sicherheit in Afrika, Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels auf den Pazifikinseln und die Stärkung des Dialogs und des Austauschs über die Sicherheit im maritimen Raum und der Seewege.
Zum Schutz seiner nationalen Interessen will China die maritime Ordnung mitgestalten und so dafür sorgen, dass seine wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Rechte und Interessen auf See respektiert und berücksichtigt werden.
Bei Verhandlungen über eine Ocean Governance will China nicht wie ein Akteur wirken, der die bestehende Ordnung infrage stellt, sondern präsentiert sich gern als aktiver Reformer. Beispielsweise vertritt China die Auffassung, dass die bestehende maritime Ordnung bilaterale maritime Streitigkeiten bei der zivilen maritimen Sicherheit berücksichtigen sollte und argumentiert, dass internationale Regelungen für globale öffentliche Güter nicht in umstrittenen Gebieten gelten sollten. Diese Sichtweise zeigt sich etwa in Chinas Position zur Regelung der Hochseefischerei von 2020.
In Beijing ist man der Meinung, die Volksrepublik werde als Bedrohung der Sicherheit dargestellt, weil sie angeblich den Konsens gefährde und Normen ablehne.
Anlass zur Sorge?
Das maritime Erstarken Chinas beunruhigt nicht nur die Staaten im indopazifischen Raum, auch in anderen Ländern misst man dem Ausbau der chinesischen Seestreitkräfte große Bedeutung bei und geht davon aus, dass China durch diese Militarisierung an Durchsetzungsvermögen gewinnen wird. Die Besorgnis ist angesichts der eskalierenden Spannungen in der Taiwanstraße 2022 weiter gestiegen.
Doch die chinesische Marine steht trotz erheblicher Investitionen noch vor großen Herausforderungen: Wie den anderen chinesischen Streitkräften fehlt es auch der Marine an realer Kampferfahrung. Zum letzten Mal war sie 1988 im Rahmen eines Seegefechts mit vietnamesischen Streitkräften bei den Nansha/Spratly-Inseln in eine militärische Konfrontation verwickelt. Obwohl die chinesische Marine in den vergangenen Jahren viel trainiert und zahlreiche Manöver durchgeführt hat, ist ihre Fähigkeit, moderne Kriegsschiffe und Waffensysteme in einer Seeschlacht effektiv einzusetzen, noch nicht erprobt. Groß angelegte Militärübungen rund um Taiwan Anfang April 2023 deuteten zwar auf eine Verbesserung der chinesischen militärischen Fähigkeiten im Bereich der integrierten Kriegsführung hin, doch das Sammeln von Kampferfahrung ist ein Prozess, der nur schrittweise erfolgt. Bislang stellt China also noch keine direkte Bedrohung für die dominante Position der USA als globale Seemacht dar.
Doch sollte man nicht nur die militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten Chinas bewerten, sondern auch die Absichten der chinesischen Führung. Denn selbst wenn China über die Fähigkeit verfügt, einen Krieg zu führen, spielen noch andere Überlegungen eine Rolle. Für eine aufstrebende maritime Macht ist der Aufbau einer Hochseeflotte ein logischer Schritt, um die eigenen Interessen auf dem Meer zu wahren. Das chinesische Militär mag seine eigenen Vorgaben erfüllen und sich als "Militär von Weltrang" präsentieren, doch die Bezeichnung gibt noch keinen Aufschluss über Chinas globale Ambitionen oder die Art und Weise, wie Beijing Gewalt einzusetzen gedenkt. Wie Fravel argumentiert, hat dieser Anspruch nur begrenzte geopolitische Auswirkungen darauf, wohin China seine militärische Macht richten würde, und drückt lediglich "Chinas Bestreben aus, eine führende Militärmacht in der Welt zu werden".
Stattdessen sollten wir Chinas Entwicklung zur maritimen Macht viel umfassender betrachten. Der wachsende Einfluss Chinas auf die Ocean Governance gibt Anlass zu größerer Sorge. Anstelle eines realen Krieges auf dem Meer ist gegenwärtig der strategische Einsatz rechtlicher Mittel beim Aufbau maritimer Macht von viel größerer Bedeutung. Daher achtet China sehr genau auf die Auslegung des Seerechts und der Regelungen zur Ocean Governance. Die chinesische Führung behauptet zwar, die maritime Ordnung reformieren zu wollen, stellt dabei aber allgemein anerkannte Grundsätze und Vereinbarungen infrage, etwa die Aufgaben einer Küstenwache, die Regelungen des Zugangs zu sowie den nachhaltigen Umgang mit maritimen Ressourcen.
Darüber hinaus gibt die Tatsache, dass China in seinem Streben nach maritimer Macht auf nichtstaatliche Elemente zurückgreift, weiteren Anlass zur Sorge. So dient etwa die chinesische Forschung im Bereich der maritimen Navigationstechnologie zwar in erster Linie dem zivilen Warenverkehr und der Fischerei, kann jedoch auch von der Marine genutzt werden.
Andere Staaten müssen dem Aufstieg Chinas zur maritimen Macht umfassend und mit der gebotenen Umsicht begegnen. Es bedarf einer ausgewogenen Reaktion, die sowohl Zwang als auch einen gewissen Handlungsspielraum vorsieht, die militärische und zivile Aspekte einbezieht und die speziell den indopazifischen Raum berücksichtigt, aber auch darüber hinaus reicht. Zudem bedarf es einer breiten und konstruktiven öffentlichen Debatte über die besten Strategien, wie man den maritimen Ambitionen Chinas begegnen und die Sicherheit und Stabilität in der Region im weitesten Sinne gewährleisten kann.
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim