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Hybride Erinnerung | Chile | bpb.de

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Hybride Erinnerung Vergangenheitspolitik und Erinnerungsdiskurse in Chile

Stephan Ruderer

/ 15 Minuten zu lesen

Auf den ersten Blick fällt die Bilanz der Vergangenheitspolitik in Chile positiv aus. Allerdings hat sich in den fünf Jahrzehnten seit dem Putsch eine Erinnerungskultur herausgebildet, in der die „schlechten“ Seiten der Diktatur häufig mit den „guten“ aufgerechnet werden.

Am 18. Juni 2023 erschien in der Tageszeitung „El Mercurio“ ein Interview mit dem ehemaligen chilenischen Staatspräsidenten Sebastián Piñera, in dem er unter anderem auf die Diktaturvergangenheit des Landes einging. Dabei verurteilte der aus der rechtsliberalen Partei Renovación Nacional (RN) stammende Piñera klar die Menschenrechtsverbrechen der Pinochet-Diktatur, verwies aber neben diesen „dunklen“ Seiten auch auf die „hellen“ Seiten der Diktatur, nämlich die wirtschaftliche Modernisierung.

Vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Militärputsches in Chile vom 11. September 1973 sind die Debatten um die Vergangenheit besonders aktuell. Dass dabei immer noch eine Erinnerungserzählung dominiert, die neben den „schlechten“ Menschenrechtsverletzungen auch die „guten“ Seiten der Diktatur hervorhebt, hat auch mit der Vergangenheitspolitik und den Erinnerungsdiskursen seit dem Ende der Diktatur 1990 zu tun. Die Art und Weise, wie heute in Chile an die Regierung Salvador Allendes, den Putsch und die Diktatur erinnert wird, ist zum einen von den aktuellen politischen Machtverhältnissen, zum anderen vom Umgang mit der Vergangenheit in den vergangenen Jahrzehnten geprägt.

Putsch, Diktatur, Demokratie

Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, putschen die chilenischen Streitkräfte gegen die demokratisch gewählte Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Dieses Ereignis wurde schon damals von der Weltöffentlichkeit aufmerksam verfolgt, denn mit Allende regierte in Chile erstmals ein demokratisch gewählter Präsident, der das Land auf institutionellem Wege zum Sozialismus führen wollte. Das blutige Ende dieser Regierung, symbolisiert durch den Selbstmord Allendes und den Brand des Präsidentenpalastes La Moneda, zerstörte somit auch die Träume einer Generation, die auf eine gerechte und friedliche Gesellschaft gehofft hatte. Der Oberbefehlshaber der chilenischen Armee, Augusto Pinochet, wurde nicht zuletzt wegen seines martialischen Auftretens mit Sonnenbrille und preußischer Militäruniform zum Symbol der grausamen lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Sein Regime zeichnete sich – auch im Vergleich zu den Diktaturen der Nachbarländer Argentinien und Uruguay – durch seine lange Dauer und die Personalisierung der Herrschaft aus. Die 17-jährige chilenische Diktatur beruhte auf drei zentralen Elementen, die für das Verständnis der heutigen Vergangenheitsdebatten von großer Bedeutung sind. Erstens die brutalen, systematischen und massiven Menschenrechtsverletzungen. Diese ermöglichten zweitens die Durchsetzung der neoliberalen Wirtschaftsreformen der sogenannten Chicago Boys. Und drittens die Verabschiedung der Verfassung 1980, die das neue Wirtschaftssystem institutionell verankerte und in ihren Kernelementen bis heute gültig ist.

Die Menschenrechtsverbrechen, für die vor allem der Pinochet direkt unterstellte Geheimdienst DINA verantwortlich war, bedeuteten für das Land ein bis dahin unbekanntes Ausmaß an Gewalt. Die offiziellen Zahlen der nach der Rückkehr zur Demokratie eingesetzten Wahrheitskommissionen belaufen sich auf 3.216 Tote und „Verschwundene“ sowie 38.254 anerkannte Folteropfer – wobei die Dunkelziffer in beiden Fällen deutlich höher liegen dürfte. Hinzu kamen zahllose Exilierungen, Hausdurchsuchungen und willkürliche Verhaftungen sowie Attentate auf führende Oppositionelle im Ausland, darunter das erste von einem ausländischen Geheimdienst auf US-amerikanischem Boden verübte Attentat auf den chilenischen Politiker Orlando Letelier im Jahr 1976. Die repressive Politik sollte einen erheblichen psychologischen Einfluss auf die Ermöglichung, Durchsetzung und Verstetigung der neoliberalen Wirtschaftspolitik haben. Denn – und das ist gerade vor dem Hintergrund des obigen Zitats von Ex-Präsident Piñera zu verstehen – diese beiden Bereiche lassen sich nicht voneinander trennen, da erst die Unterdrückung und Kontrolle der Bevölkerung die ökonomische Schockbehandlung der Chicago Boys ermöglichte.

Die Chicago Boys sind eine Gruppe chilenischer Ökonomen, die an der University of Chicago studiert hatten und ab 1975 das wirtschaftspolitische Programm der Diktatur mit dem vorrangigen Ziel der Inflationsbekämpfung bestimmten. Im Zuge dessen wurden öffentliche Ausgaben gekürzt, das Bankensystem dereguliert, Staatsbetriebe privatisiert und Märkte für ausländische Investoren geöffnet – mit verheerenden sozialen Folgen für die Bevölkerung. Die Reformen verstärkten die Armut großer Teile der Bevölkerung durch Senkung des Lohnniveaus, Entrechtung der Arbeiter, Ende des Solidaritätsprinzips in der Sozialversicherung und hohe Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaftspolitik der Diktatur ging zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung, während nur ein kleiner Teil der Gesellschaft davon profitierte.

1980 erließ Pinochet eine neue Verfassung, die unter der Leitformel der „geschützten Demokratie“ seinem Regime eine konstitutionelle Fassade geben sollte, mit ihren demokratischen Elementen aber erst nach dem Ende der Diktatur 1990 in Kraft trat. Bis dahin galten sogenannte Übergangsartikel, die Pinochets Macht zementierten. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie wird als „paktierte Transition“ bezeichnet, da die Ausgangsbedingungen für die neue Demokratie maßgeblich von den alten diktaturaffinen Machthabern bestimmt wurden. Dies prägte die Erinnerungsdiskurse und die Vergangenheitspolitik.

Die Verfassung sah für 1988 ein Plebiszit über Pinochets Verbleib als Präsident für weitere acht Jahre oder demokratische Neuwahlen vor. Nachdem der Diktator dieses Plebiszit verloren hatte, blieb er noch über ein Jahr an der Macht. Dieses nutzte er dazu, zahlreiche Gesetze zu erlassen, die die Ausgangsbedingungen gerade für die Vergangenheitsaufarbeitung enorm erschwerten. Der chilenische Fall ist insofern einzigartig, als die Diktatur demokratisch abgewählt wurde und der ehemalige Diktator in den Folgejahren weiterhin eine zentrale politische Rolle spielte und über erhebliche Macht verfügte. So blieb Pinochet, nachdem er im März 1990 die Regierungsgeschäfte an den demokratisch gewählten Christdemokraten Patricio Aylwin übergeben hatte, noch für weitere acht Jahre als Oberbefehlshaber des Heeres im Amt. Darüber hinaus hatte er alle Richter des Obersten Gerichtshofs ernannt und das politische System durch die Einrichtung von designierten Senatorenposten und ein Wahlgesetz, das die Parteien Unión Demócrata Independiente (UDI) und RN begünstigte, nachhaltig beeinflusst. Die große Macht, die diesen rechten, der Diktatur nahestehenden Parteien in der neuen Demokratie ab 1990 zukam, muss berücksichtigt werden, wenn im Folgenden die vergangenheitspolitischen Maßnahmen und Erinnerungsdiskurse im demokratischen Chile dargestellt werden.

Vergangenheitspolitik

Die Vergangenheitspolitik in Chile seit 1990 lässt sich in mehrere Etappen unterteilen, was jedoch nicht bedeutet, dass es einen kontinuierlichen Fortschritt hin zu mehr Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung gegeben hätte. Innerhalb dieses Prozesses gab es in fast allen Etappen Maßnahmen zur Entschädigung der Opfer, Gerichtsverfahren gegen die Täter und Täterinnen sowie die Errichtung von Gedenktafeln und Gedenkstätten. Im Folgenden werden einige Ereignisse hervorgehoben, die zentral für den chilenischen Umgang mit der Diktaturvergangenheit waren.

Die wichtigste Maßnahme der ersten Etappe war die Einsetzung der sogenannten Rettig-Kommission, eine von Präsident Aylwin im April 1990 ins Leben gerufene Wahrheitskommission, die innerhalb von neun Monaten die schlimmsten Verbrechen der Diktatur – politische Morde und das Schicksal der Verschwundenen – aufklären sollte.

Für das Verständnis der Vergangenheitspolitik sind vor allem zwei Punkte wichtig: Zum einen waren die Ergebnisse der Kommission eine staatlich autorisierte Wahrheit, die nicht mehr geleugnet werden konnte. Zum anderen wurde die von der Regierung angestrebte Versöhnung durch den Bericht nicht erreicht, vor allem weil sich das Militär und die Rechte jeder Versöhnungs- oder Entschuldigungsgeste widersetzten, sodass in der Öffentlichkeit nach 1991 zwei antagonistische Versionen der Vergangenheit gleichberechtigt nebeneinander standen. Das Militär sah sich weiterhin als „Retter des Vaterlandes“. Zudem betrachtete die Regierung ihre Aufgabe mit dem Bericht als erfüllt, sodass sie der Veröffentlichung keine weiteren Schritte folgen ließ. Der Bericht verlor dadurch sein demokratisierendes Potenzial, insbesondere in der öffentlichen Debatte. Die Diktatur konnte auch nach dem Bericht weiter verteidigt und die Verantwortung für die Verbrechen der Regierung Allende oder einzelnen „Exzessen von Untergebenen“ zugeschrieben werden.

Das nächste herausragende Ereignis, das die vergangenheitspolitischen Positionen in Chile verdeutlicht, war die Verhaftung des ehemaligen DINA-Chefs Manuel Contreras 1995. Contreras wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt, konnte aber erst nach monatelanger Flucht vor der Justiz, bei der ihm das Militär half, festgenommen werden. Seine Verhaftung war ein großer Erfolg für die Regierung von Eduardo Frei Ruiz-Tagle. Immerhin wurde mit Manuel Contreras der zweitmächtigste Mann der Diktatur für seine Verbrechen hinter Gitter gebracht. Doch der Preis dafür war hoch: Nicht zuletzt unter dem Druck der Militärs suchte Präsident Frei nach Kompromissen, die einen Austausch von Informationen gegen Straffreiheit vorsahen. Diese Idee, Wahrheit gegen Verzicht auf Gerechtigkeit, scheiterte jedoch am Widerstand der Opfergruppen und linken Parteien in der Regierung und führte vor allem dazu, dass eine immer stärkere Übereinstimmung des Regierungsdiskurses mit dem der Diktaturanhänger wahrgenommen wurde und dass die Enttäuschung über die noch junge Demokratie in der Bevölkerung wuchs. Der Versuch der Regierung, eine „erfolgreiche Transition“ zu vermitteln und die Beschäftigung mit der Vergangenheit zu beenden, wurde jedoch immer wieder durch „Einbrüche aus der Vergangenheit“ gestört.

Die Dominanz der Rechten und des Militärs in der öffentlichen Debatte änderte sich mit einem Ereignis der chilenischen Vergangenheitspolitik, das eine neue Etappe einleitete: die Verhaftung Pinochets in London am 16. Oktober 1998. Der Fall Pinochet erregte internationale Aufmerksamkeit. Es war – auch dies eine Besonderheit – das erste Mal, dass ein ehemaliger Diktator wegen Verbrechen, die er in seinem Land begangen hatte, im Ausland verhaftet wurde. Die chilenische Regierung unter Präsident Frei drängte auf die Auslieferung Pinochets nach Chile mit dem Argument, der Prozess gegen ihn müsse im eigenen Land geführt werden. Nach 503 Tagen in London wurde der Ex-Diktator aus gesundheitlichen Gründen freigelassen und nach seiner Rückkehr im Jahr 2000 tatsächlich in Chile vor Gericht gestellt. Das Verfahren wurde jedoch 2002 wegen „moderater Demenz“ des Angeklagten offiziell eingestellt.

Die Verhaftung Pinochets hatte Auswirkungen auf allen Ebenen der Vergangenheitspolitik. Sie entlarvte den Diskurs der „erfolgreichen Transition“ und führte zu einem Umdenken bei allen Entscheidungsträgern. Die Regierung musste auf einen Prozess gegen Pinochet in Chile drängen und sich wieder verstärkt dem Thema der Vergangenheit zuwenden. Die rechten Parteien begannen, den Pakt mit Pinochet aufzulösen und sich vom Diktator zu distanzieren. Und die Militärs fingen an, die Vergangenheit und die Menschenrechtsverbrechen zu thematisieren. Interessant ist, dass die Militärs Pinochet zwar weiterhin verteidigten, aber bereit waren, über die Verbrechen seines Regimes zu sprechen, während die rechten Parteien sich zwar von der Person des Diktators lösten, aber nicht gewillt waren, über das Werk seines Regimes, die Wirtschaftsreformen, zu diskutieren.

Besonders deutlich wurde der neue Umgang mit der Vergangenheit bei den Gedenkfeiern zum 30. Jahrestag des Putsches am 11. September 2003, bei denen erstmals offiziell der Menschenrechtsverbrechen gedacht wurde. Die Regierung unter Präsident Ricardo Lagos setzte in diesem Zuge eine neue Wahrheitskommission ein, die im November 2004 ihren Bericht vorlegte. Die sogenannte Valech-Kommission sollte nicht die Toten, sondern die Folterverbrechen der Diktatur untersuchen und damit die Geschichten der noch lebenden Opfer sichtbarer machen. Der Bericht der Kommission war ein Meilenstein in der Vergangenheitspolitik, da das Militär in der Person des damaligen Oberbefehlshabers Juan Emilio Cheyre erstmals die institutionelle und systematische Politik der Menschenrechtsverbrechen anerkannte. Die Verbrechen der Diktatur gehörten nun offiziell zum Narrativ der Täterseite.

Mit Michelle Bachelet kam 2006 eine Präsidentin ins Amt, die selbst Folteropfer der Diktatur war und schon deshalb Verbindungen zu Menschenrechtsgruppen unterhielt. Ihre Regierung ließ zahlreiche Gedenkstätten errichten. Zudem eröffnete sie 2010 das Museo de la Memoria y los Derechos Humanos, das ausschließlich der Diktatur und ihren Verbrechen gewidmet ist. Nach dem Tod Pinochets im Dezember 2006 lehnte Bachelet ein Staatsbegräbnis ab. Die Popularität des Diktators war in Teilen der chilenischen Bevölkerung jedoch ungebrochen, und so wohnten rund 60.000 Menschen der Trauerfeier auf dem Militärgelände bei.

2010 kam erstmals nach der Diktatur wieder eine Koalition rechter und damit der Diktatur nahestehender Parteien unter Sebastián Piñera an die Regierung. Damit begann eine neue Phase der Vergangenheitspolitik, in der das politische Interesse an der Geschichte nachließ. Dies zeigte sich vor allem an Maßnahmen wie der Kürzung der Mittel für das Museo de la Memoria oder der Entlassung von engagierten Anwältinnen und Anwälten des Menschenrechtsprogramms oder von Spezialisten der Polizei zur Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen.

Dennoch blieb das Thema der Diktaturvergangenheit öffentlich präsent, unter anderem in Fernsehsendungen und Filmen, wobei sich zunehmend eine „Gegenerinnerung“ entwickelte, die die vermeintlich positiven Seiten der Diktatur stärker in den Vordergrund rückte. So hat sich in Chile eine hybride Erinnerung herausgebildet, in der die „schlechten“ Seiten der Diktatur mit den „guten“ Entwicklungen verrechnet werden. So verwies Präsident Piñera anlässlich des 40. Jahrestages des Putsches zwar auf die Verantwortung der zivilen Kollaborateure der Diktatur an den Menschenrechtsverbrechen, betonte aber gleichzeitig die vermeintlich positiven wirtschaftlichen Reformen. Dieser Erinnerungsdiskurs beeinflusste auch einen Wandel in der vergangenheitspolitischen Ausrichtung Chiles. In den 2010er Jahren wurde weniger über Opfer, Täter und Menschenrechtsverbrechen gesprochen. Vielmehr rückte das soziale und politische Erbe der Diktatur in den Mittelpunkt der Debatten.

Die Ablehnung des von der Diktatur geerbten privatisierten Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystems durch große Teile der Bevölkerung äußerte sich ab Oktober 2019 in einer Reihe von Protesten, dem sogenannten estallido social. Die Proteste der Chileninnen und Chilenen lösten eine neue Etappe der Vergangenheitspolitik aus, in der sich der Fokus mehr auf die für viele unzureichenden Maßnahmen der vergangenen 30 Jahre als auf die eigentliche Diktaturvergangenheit richtete. Erst die Vorbereitungen zum 50. Jahrestag brachten die Diskussion um die historische Einordnung von Allende, Pinochet und der Diktaturverbrechen wieder auf die Tagesordnung.

Positive Bilanz?

Auf den ersten Blick fällt die Bilanz der Vergangenheitspolitik in Chile positiv aus. Insbesondere in den Bereichen Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung wurden seit 1990 zahlreiche Fortschritte erzielt. So haben die beiden Wahrheitskommissionen wesentlich zur offiziellen Wahrheitsfindung über die grausamen Verbrechen der Diktatur beigetragen, die heute nur noch von Personen der extremen Rechten relativiert oder geleugnet werden. Ebenso leistete und leistet der chilenische Staat – vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern – durchaus umfangreiche Wiedergutmachungszahlungen an die Opfer der Diktatur. Diese umfassen auch Hilfen zur medizinischen und psychologischen Betreuung oder Ausbildungskosten für die Kinder- und Enkelgeneration. Daneben gab und gibt es zahlreiche Menschenrechtsprozesse gegen die Täterinnen und Täter der Diktaturverbrechen. Auch wenn diese allzu oft mit milden Strafen davonkommen oder sie in einem eigens errichteten luxuriösen Sondergefängnis verbüßen dürfen, zeigen die Prozesse doch die immensen Fortschritte im Bereich der Justiz, die in den 1990er Jahren personell und ideologisch noch der Diktatur verhaftet war.

Die Fortschritte, insbesondere in ihrer zeitlichen Abfolge, werden noch deutlicher, wenn man sie mit den vergangenheitspolitischen Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht. 30 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur begann das gesellschaftspolitische Bewusstsein für das größte Verbrechen der Nationalsozialisten, den Holocaust, sich gerade erst zu entwickeln. Und es dauerte weitere zehn Jahre, bis Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 in seiner berühmten Rede davon sprach, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht als Niederlage, sondern als Befreiung zu verstehen sei. Aus dieser Perspektive und mit Blick auf die Zeit nach dem Ende der Pinochet-Diktatur kann die chilenische Vergangenheitspolitik, gerade angesichts der schwierigen Ausgangsbedingungen, positiv bewertet werden.

Diese positive Bilanz ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite betrifft den öffentlichen Diskurs und die Erinnerungsnarrative über die Vergangenheit. Auch hier hilft der Vergleich mit der Bundesrepublik, um den chilenischen Fall einordnen zu können. Auch wenn in Westdeutschland in den 1950er Jahren vergangenheitspolitische Maßnahmen vor allem auf die Reintegration ehemaliger NS-Kollaborateure in den demokratischen Staatsapparat zielten und Umfragen zeigten, dass viele Deutsche privat positive Assoziationen mit der NS-Zeit verbanden, war es öffentlich keinem noch so konservativen Akteur möglich, positive Aspekte des Nationalsozialismus zu würdigen. Das moralische Urteil über die Diktatur war in der öffentlichen Debatte auch dank der Reeducation-Maßnahmen der Alliierten eindeutig, und diese klare Distanzierung von der Diktatur sollte sich positiv auf die gesellschaftspolitische Demokratisierung in Deutschland auswirken.

In Chile hingegen ist der öffentliche Diskurs über die Vergangenheit der defizitärste Bereich, zumindest im Hinblick auf das Ziel einer tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Demokratisierung. Zwei der heute wichtigsten rechten Parteien Chiles, RN und UDI, wurden während der Diktatur mit dem expliziten Ziel gegründet, deren Errungenschaften zu verteidigen. Zudem bekleiden seit 1990 zahlreiche Angehörige des Pinochet-Regimes hohe politische Ämter, ohne dass dies von der Mehrheit der Bevölkerung als Problem wahrgenommen wird. Darüber hinaus ist es – wie das Eingangszitat zeigt – nach wie vor möglich, die „positiven“ Seiten der Diktatur entgegen dem historischen Kenntnisstand öffentlich zu betonen. Diese hybride Erinnerung erschwert auch 50 Jahre nach dem Putsch die moralisch und gesellschaftspolitisch wichtige Abgrenzung zwischen Diktatur und Demokratie und beeinflusst die aktuellen Vergangenheitsdebatten.

Aktuelle Erinnerungsdebatten

Die Rede zum 50. Jahrestag des Putsches am 11. September 2023 wird der junge linke Präsident Gabriel Boric halten. Dieser hatte sich bei seinem Amtsantritt im März 2022 bewusst in die Tradition Allendes gestellt. Seine Koalition besteht aus vielen jungen Parteien, die weniger Rücksicht auf die Aushandlungsmechanismen des Demokratisierungsprozesses nehmen müssen. Gleichzeitig aber wurde der erste, progressive Verfassungsentwurf, den die Regierung Boric deutlich unterstützt hatte, im September 2022 von über 60 Prozent der Chileninnen und Chilenen abgelehnt, und im neuen Verfassungskonvent stellen die ultrarechten Republikaner fast die Hälfte der Mitglieder. Das politische Meinungsklima in Chile hat sich innerhalb kürzester Zeit stark nach rechts verschoben. Die aktuellen politischen Kräfteverhältnisse sind somit mitentscheidend für die Vergangenheitspolitik und die Erinnerungsnarrative zum 50. Jahrestag.

Die Regierung versucht, ihre politische Nähe zu den Opfern der Diktatur zu demonstrieren. So wurde 2023 der erste staatliche Plan zur Suche der immer noch zahlreichen Verschwundenen gestartet und weitere Foltergefängnisse zu Gedenkstätten erklärt, sodass es nun in allen Regionen Chiles mindestens einen offiziellen Gedenkort für die Diktaturverbrechen gibt. In den bisherigen Regierungserklärungen zum 50. Jahrestag wird vor allem der Kampf der chilenischen Zivilgesellschaft gegen die Diktatur und für die Rückkehr zur Demokratie gewürdigt. Opfer oder gar Täterinnen und Täter kommen hingegen kaum vor – so wird auch Pinochet nicht erwähnt. Der offizielle Slogan „Demokratie ist Erinnerung und Zukunft“ verweist auf die Bedeutung der Demokratie und richtet den Blick in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Dies ist angesichts der Bedrohung der heutigen Demokratie durch die Wahlerfolge der rechtsextremen Republikaner sinnvoll, lässt aber gleichzeitig Raum für „Erinnerungen“, die ein klares Bekenntnis gegen die Diktatur verhindern.

Die öffentliche Debatte in Chile wird nach wie vor von Äußerungen chilenischer Politikerinnen und Politiker aller rechten Parteien, Militärs oder Angehörigen der Wirtschaftseliten dominiert, in denen eine klare moralische Verurteilung und Abgrenzung von der Diktatur fehlt. Dies hängt auch mit der monopolisierten Presselandschaft zusammen, die eines der größten Probleme der chilenischen Demokratie ist: Fast alle nationalen Fernsehsender und Tageszeitungen befinden sich nach wie vor in der Hand von Unternehmen, die Verbindungen zur Diktatur hatten.

Schluss

Die Debatten zum 50. Jahrestag des Putsches sind von vier Elementen geprägt. Erstens sind wieder vermehrt lobende Worte für Pinochet selbst zu vernehmen. So brachte der republikanische Politiker Luis Silva jüngst seine Bewunderung für den „Staatsmann“ Pinochet zum Ausdruck. Präsident Boric antwortete auf diese Äußerung, indem er die Menschenrechtsverbrechen und die Korruption Pinochets deutlich hervorhob. Mit einer positiven Bewertung des Diktators lässt sich in Chile kaum noch politischer Gewinn erzielen.

Uneindeutiger, aber nicht weniger demokratiegefährdend sind zweitens Einschätzungen, die die Verbrechen der Allende-Regierung mit denen der Diktatur gleichsetzen, um letztere implizit zu entschuldigen. Allende und seine Regierung mögen eine Mitverantwortung für das Ende der Demokratie 1973 tragen, dies rechtfertigt aber keineswegs ein Verständnis für den Putsch und die grausamen Verbrechen der Diktatur, wie es in manchen Äußerungen immer wieder nahegelegt wird.

Daneben steht drittens der eingangs erwähnte Diskurs, der „Licht und Schatten“, „gute“ und „schlechte“ Seiten der Diktatur sieht und damit genau jene hybride Erinnerung transportiert, in der es keine klare moralische Abgrenzung zwischen Diktatur und Demokratie gibt.

Dieses Erinnerungsnarrativ wird viertens begleitet von der Forderung, die Vergangenheit ruhen zu lassen und den Blick in die Zukunft zu richten, also von einem Diskurselement, das sich gerade vor dem Hintergrund der hybriden Elemente in Bezug auf die Vergangenheit auch für die Zukunft der chilenischen Demokratie als problematisch erweisen kann.

Insgesamt fehlt in Chile auch zum 50. Jahrestag des Putsches ein gesellschaftlich geteilter Erinnerungsdiskurs, der über alle politischen Lager hinweg die Diktatur eindeutig verurteilt. Dies hat historische und politische Gründe. Für die chilenische Gesellschaft bleibt jedoch die Aufgabe, eine Erinnerung an die Vergangenheit zu etablieren, die klar zwischen Diktatur und Demokratie unterscheidet und die Überzeugung nunca más („nie wieder“) bei allen politisch relevanten Akteuren verankert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Stefan Rinke, Kleine Geschichte Chiles, München 2007.

  2. Vgl. Stephan Ruderer, Pinochet – Der Despot als Modell, in: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin, München 2022, S. 210–223.

  3. Vgl. Alexander Wilde, A Season of Memory: Human Rights in Chile’s Long Transition, in: Cath Collins/Katherine Hite/Alfredo Joignant (Hrsg.), The Politics of Memory in Chile. From Pinochet to Bachelet, Boulder 2013, S. 31–60.

  4. Vgl. Manuel Gárate, La revolución capitalista de Chile (1973–2003), Santiago 2012.

  5. Vgl. Carlos Huneeus, The Pinochet Regime, Boulder 2007.

  6. Vgl. hier und im Folgenden Stephan Ruderer, Das Erbe Pinochets, Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile, 1990–2006, Göttingen 2010; Steve Stern, Reckoning with Pinochet: The Memory Question in Democratic Chile, 1989–2006, Durham 2010.

  7. Alexander Wilde, Irruptions of Memory: Expressive Politics in Chile’s Transition to Democracy, in: Journal of Latin American Studies 2/1999, S. 473–500.

  8. Vgl. Stephan Ruderer, Hybride Erinnerung. Geschichtspolitik in Chile, in: Geschichte und Gesellschaft 1/2010, S. 129–156.

  9. Vgl. Veit Straßner, Die offenen Wunden Lateinamerikas. Vergangenheitspolitik im postautoritären Argentinien, Uruguay und Chile, Wiesbaden 2007.

  10. Vgl. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001.

  11. Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

  12. Vgl. Gabriel Boric Font, Tweet vom 31.5.2023, Externer Link: https://twitter.com/GabrielBoric/status/1663963139434586119.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Stephan Ruderer für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Assistenzprofessor am Institut für Geschichte der Pontificia Universidad Católica (PUC) in Santiago de Chile.
E-Mail Link: stephan.ruderer@uc.cl