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Kleine Geschichte Chiles | Chile | bpb.de

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Kleine Geschichte Chiles

Stefan Rinke

/ 16 Minuten zu lesen

Während der Kolonialzeit war Chile ständiger Kriegsschauplatz, galt danach aber lange als stabilstes politisches System Lateinamerikas. Kurzzeitig war es Hoffnungsträger der Linken und später Symbol für Diktatur und die Missachtung der Menschenrechte.

Chile gilt als Land mit verrückter Geografie und liegt aus europäischer und durchaus auch aus chilenischer Sicht am Ende der Welt. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das Land jedoch immer wieder große internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der „chilenische Weg zum Sozialismus“ unter Salvador Allende und der Militärputsch von 1973 weckten weltweites Interesse an den politischen Vorgängen in Chile. Heute ist die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Diktatur immer noch ein Thema der internationalen Berichterstattung, und die sozialen Unruhen sowie die 2019 ausgebrochene Debatte um die Verfassungsreform stehen in diesem Zeichen.

Die chilenische Diktatur, ihre Aufarbeitung seit 1990 und die neuen Entwicklungen des Landes seit der Jahrtausendwende sind nur als historische Entwicklung zu verstehen. In der spanischen Kolonialzeit war Chile ein permanenter Kriegsschauplatz, aber danach galt es lange Zeit als stabilstes politisches System Lateinamerikas. Kurzzeitig war es Hoffnungsträger der Linken und Brennpunkt des Kalten Krieges, gleichzeitig Symbol für ein neoliberales „Wirtschaftswunderland“ sowie für Diktatur und brutale Missachtung der Menschenrechte. Heute ist das Schwellenland Chile eine Ausnahmeerscheinung in einem krisengeplagten Kontinent, da es eine stabile wirtschaftliche und politische Struktur aufweist.

Besiedlung und Kolonialzeit

Wir wissen nicht, wann genau Chile erstmals von Menschen besiedelt wurde. Neuere archäologische Erkenntnisse legen aber nahe, dass dies viel früher der Fall war, als bislang angenommen. In dem Land mit seinen vielen unterschiedlichen Naturräumen entwickelten sich sehr unterschiedliche Kulturen: Von den Aymara im hohen Norden über die Diaguita im sogenannten kleinen Norden, die Picunche, die Huilliche und viele andere im Zentrum bis hin zu den Aonikenk und Selk’nam im tiefen Süden war die Vielfalt beeindruckend. Im 15. Jahrhundert kamen weite Teile des Nordens unter die Kontrolle des expandierenden Inkareiches, während die Gruppen im Süden erfolgreich Widerstand leisteten. Man schätzt, dass bei der Ankunft der Europäer im 16. Jahrhundert etwa eine Million Menschen auf dem Gebiet des heutigen Chile lebten.

Die Eroberung Chiles durch europäische Konquistadoren erfolgte ab Mitte der 1530er Jahre von Norden her, nachdem das Inkareich gefallen war. Nach einer erfolglosen ersten Expedition unter Diego de Almagro unternahm Pedro de Valdivia, der unter dem Konquistador Francisco Pizarro gedient hatte, einen erneuten und dieses Mal erfolgreichen Eroberungszug, obwohl die Region als arm und gefährlich galt. Am 12. Februar 1541 gründete Valdivia die Stadt Santiago del Nuevo Extremo als Provinzhauptstadt, die nach seiner Heimat in Spanien Nueva Extremadura benannte wurde. Die Eroberung war damit allerdings noch keineswegs gesichert, denn die indigenen Gruppen wehrten sich und attackierten die spanischen Eindringlinge. Eine gewisse Konsolidierung ihrer Herrschaft erlangten die Spanier nur unter großen Verlusten und Rückschlägen im Zentrum Chiles. Im Süden dagegen scheiterten ihre Bemühungen am Widerstand der sogenannten Araukaner, dem auch Valdivia selbst zum Opfer fiel.

Der Krieg dauerte viele Jahrzehnte, ehe 1641 im Frieden von Quilín ein Modus Vivendi gefunden wurde. Der Bío Bío wurde zum Grenzfluss erklärt. Die Spanier erkannten die Unabhängigkeit der Indigenen an und verpflichteten sich, keine Siedlungen südlich des Flusses zu gründen. Die Indigenen versprachen ihrerseits, Missionare in ihrem Gebiet zuzulassen. Allerdings brachte der Friedensvertrag nicht die erhoffte Beruhigung, denn beide Seiten setzten mit kleinen Überraschungsangriffen die Kämpfe fort, um Beute zu machen. So kam die Expansion des spanischen Kolonialreichs in Chile unübersehbar an ihr Ende. Das Grundproblem der Eroberer war, dass ihnen anders als im Fall der Azteken oder Inkas nicht ein zentralisiertes Reich gegenüberstand, sondern eine unüberschaubare Zahl von Kampfverbänden, die sich unter einzelnen Kriegshäuptlingen phasenweise zusammenschlossen. Gelang es, einen der Anführer auszuschalten, fand sich schnell ein neuer, der den Kampf fortsetzte. Im Gegensatz zu anderen Grenzregionen des Reiches gestanden die Spanier ihr Scheitern in Chile offiziell ein.

Der unbeugsame Widerstand der indigenen Gruppen führte zur Herausbildung einer Grenzsituation mit zahlreichen sozioökonomischen und kulturellen Eigenarten. Bis ins 19. Jahrhundert reichte das von den Spaniern kontrollierte Territorium effektiv nicht über den Bío Bío hinaus, wenn man von den Enklaven Valdivia und der Insel Chiloé absieht. Parallel dazu, aber keineswegs isoliert, lebten weitere indigene Gesellschaften im Süden, die sich ebenso wie die der Spanier im Norden durch den Kulturkontakt tiefgreifend wandelten. In diesem Zeitraum setzte sich die Sammelbezeichnung Mapuche für die autonomen indigenen Gemeinschaften des Südens durch.

Anders als in anderen Teilen der Neuen Welt verhinderten die permanenten Kriege lange Zeit die Herausbildung einer differenzierten Gesellschaft und Wirtschaft. Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein konnte soziale Distinktion nur durch militärischen Rang erreicht werden. Im Laufe des 17. Jahrhunderts bildete sich eine soziale Oberschicht von Kreolen – in Amerika geborene Spanier – heraus, deren Macht auf Handel und Landbesitz basierte. Grundlage dafür war das Nachlassen der direkten Kriegsgefahr in der Zentralzone. In dieser Region entstand eine großflächige Landwirtschaft, die Haciendawirtschaft, die Chile lange Zeit prägen sollte. Bereits um 1650 waren die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen zwischen den Städten Santiago und La Serena vollständig aufgeteilt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts gewannen die Großgrundbesitzer immer mehr an Einfluss.

Im relativ isolierten Mikrokosmos der Hacienda übte der Besitzer Herrschaftsfunktionen aus. Außerdem stellte er die Verbindung zu den kommerziellen Zentren der Städte her, wo er in der Regel einen Wohnsitz hatte, sich um die Vermehrung seines Reichtums durch den Handel seiner Produkte bemühte und seinen Wohlstand demonstrativ zur Schau stellte. Ergänzt wurde diese Haltung durch das Streben nach politischen Ämtern, die im spanischen Kolonialreich käuflich erworben werden konnten. Schließlich waren die Pflege und der Ausbau der verwandtschaftlichen Beziehungen zu Gleichrangigen wichtig und bildeten die Voraussetzung für den engen Zusammenhalt der chilenischen Oberschicht.

Trotz der sozialen Konsolidierung war das Leben in Chile während der Kolonialzeit von Unsicherheit geprägt. Zahllose Naturkatastrophen ereigneten sich. Die Menschen reagierten darauf unter anderem mit einer ausgeprägten Volksfrömmigkeit, die sich an den vielen kirchlichen Festen und Wallfahrten ablesen lässt. Gefahren drohten auch von außen. Wie überall in den Küstenregionen Hispanoamerikas waren auch in Chile die Angriffe ausländischer Piraten eine ständige Bedrohung.

Aus Sicht der Dynastie der Bourbonen, die 1700 die Thronfolge in Spanien angetreten hatten, waren die Piratenangriffe ein Ausdruck der vielen Missstände, die die Kolonialpolitik kennzeichneten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts versuchte die Krone eine Reihe von Reformmaßnahmen durchzusetzen. Besonders wichtig war die graduelle Veränderung der Handelswege in Südamerika. In diesem Zusammenhang profitierte Chile vom Aufstieg der Hafenstadt Buenos Aires auf Kosten des alten vizeköniglichen Hofes in Lima. Die administrativen Reformen der Bourbonen wirkten sich für Chile positiv aus. Der absolutistische Reformismus bezog auch das Militär ein. Die Reformen hatten allerdings ihren Preis. Insbesondere das Anziehen der Steuerschraube machte sich auch in Chile zunehmend bemerkbar. Die bourbonischen Reformen ließen ein Konfliktpotenzial entstehen, das in einem geeigneten Moment zu ernsten Problemen im Verhältnis zwischen dem Mutterland und der Kolonie führen konnte.

Unabhängigkeit

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert grenzten sich die Kreolen Chiles zunehmend von den Europa-Spaniern ab. Bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich eine neuartige regionale Identität entwickelt; man entdeckte das typisch Chilenische an der eigenen Region. Aufgeklärte Denker beschrieben die Möglichkeiten und Potenziale dieser Region und betonten die Eigenart und den spezifischen Wert im Vergleich zu anderen Landesteilen. Dabei waren im Fall Chiles die Faktoren, ein Kriegsgebiet und abhängig von Peru zu sein, von zentraler Bedeutung. Der Prozess der Bewusstseinsbildung, der sich spezifisch auf Chile bezog, fügte sich nahtlos in das Denken der Aufklärung ein, das durch den Absolutismus selbst gefördert worden war. London wurde um die Jahrhundertwende zu einem Zentrum südamerikanischer Unabhängigkeitsbefürworter, unter ihnen der junge chilenische Kreole Bernardo O’Higgins, ein unehelicher Sohn des königlichen Gouverneurs und späteren Vizekönigs von Peru Ambrosio O’Higgins. In diesem Kontext entstanden die Voraussetzungen für einen revolutionären politischen Umbruch.

Bis 1810 kam es allerdings in Chile zu keinen größeren Rebellionen gegen die Kolonialmacht. Eine Umbruchsituation entstand erst auf den Anstoß von außen hin. Die Ereignisse in Spanien 1808, die Besetzung des Landes durch Napoleon und die Einsetzung von dessen Bruder Joseph Bonaparte als König, der spanische Volksaufstand sowie die Guerillakämpfe gegen die französischen Besatzer schufen ein Machtvakuum in Amerika, das sich auch in Chile auswirkte. Nachdem sich im April und Mai 1810 zuerst im venezolanischen Caracas und dann im argentinischen Buenos Aires Juntas bildeten, die die kolonialen Gouverneure ablösten und die Regierungsgewalt an sich nahmen, zog man in Chile am 18. September, dem heutigen Nationalfeiertag, nach.

Allerdings war an Unabhängigkeit noch nicht zu denken. Die Mitglieder der Junta schworen, das Vaterland anstelle des abgesetzten spanischen Königs zu verteidigen und in dessen Namen zu regieren. In der Folgezeit entwickelten die Ereignisse eine Eigendynamik, die durch innere und äußere Faktoren verursacht wurde. Radikale Kräfte drängten auf die Loslösung von Spanien. Der junge Offizier José Miguel Carrera riss 1811 die Regierung an sich und ließ eine provisorische Verfassung ausarbeiten. Allerdings blieben die Royalisten stark, und die Kreolen waren untereinander gespalten. 1814 gelang den Spaniern die Rückeroberung. Die Anführer der Separatisten, Bernardo O’Higgins und Carrera, flohen über die Anden.

Die harte Repression der Krone befeuerte in der Folgezeit die Unabhängigkeitsbewegung. Jenseits der Anden stellte O’Higgins gemeinsam mit dem argentinischen General José de San Martín eine Armee auf, die Chile zurückerobern sollte. An der Jahreswende 1816/17 rückte das Befreiungsheer in Chile vor und schlug bei Chacabuco am 12. Februar 1817 die Royalisten. Da San Martín das ihm angetragene Amt des Staatschefs ablehnte, wurde O’Higgins zum Supremo Director (Obersten Direktor) des Landes bestellt. Am Jahrestag der Schlacht von Chacabuco 1818 ließ O’Higgins auch formell die Unabhängigkeit Chiles ausrufen. Einen erneuten Rückeroberungsversuch der Spanier konnte er am 5. April 1818 in der Schlacht von Maipó nahe Santiago abwehren. Die Befreiung Zentralchiles war damit erreicht. Im Süden hielt sich der spanische Widerstand dagegen hartnäckig. Erst im Januar 1826 legte die spanische Garnison auf der Insel Chiloé die Waffen nieder.

Die Unabhängigkeit Chiles zeichnete sich durch diverse Besonderheiten aus. Mit dem Ende der spanischen Herrschaft wurden die regionalen Antagonismen beigelegt, die andernorts in Lateinamerika eine große Rolle spielten. Auch die Interessengegensätze zwischen produzierendem Gewerbe und Importhandel waren nur schwach ausgeprägt. Größere soziale und ethnische Umbrüche blieben aus. Vor diesem Hintergrund blieb die in relativ hohem Maße kohärente Oberschicht die bestimmende Kraft. Chile gehörte zu den am stärksten militarisierten Regionen des spanischen Kolonialreiches. So gab es eine große Zahl militärisch erfahrener Männer, die sich dem Kampf gegen Spanien verschrieben hatten und politische Macht für sich beanspruchten. Das brachte Rivalitäten mit sich, die sich in der Folgezeit in aller Deutlichkeit zeigen sollten.

Weg zum Nationalstaat

Nach der erlangten Unabhängigkeit 1818 war das republikanische Leben in Chile zunächst noch von Kontinuitäten aus der Kolonialzeit geprägt. Von einer Nation, mit der sich alle Bewohnerinnen und Bewohner des Landes identifizieren konnten, war man noch weit entfernt. Die formativen Jahre der chilenischen Republik bis etwa 1883 waren einerseits geprägt von dem Bemühen um politische Konsolidierung und soziale Stabilität, andererseits von einer starken Tendenz zur territorialen Expansion auf Kosten der Nachbarn im Norden wie im Süden.

Die Jahre zwischen 1818 und 1830 waren gekennzeichnet von tastenden Versuchen, eine neue institutionelle Ordnung zu etablieren. Diktatorische, föderalistische und idealistische Modelle wurden ausprobiert und bewährten sich nicht. Allerdings wurden in diesem Zeitraum wichtige politische Erfahrungen gesammelt, und vor allem wurde die republikanische Grundordnung nicht mehr ernsthaft infrage gestellt. Problematisch war nicht zuletzt die starke Rolle des Militärs, die dabei deutlich wurde. Die Reformversuche dieser Jahre legten den Grundstein für eine politische Konsolidierung.

Es folgte eine rund vier Jahrzehnte währende konservative Vorherrschaft, die eng mit dem Namen des Ministers Diego Portales verbunden ist, dessen Verfassung 1831 dem politischen System eine für lateinamerikanische Verhältnisse hohe Stabilität verlieh. Die Stabilität war jedoch relativ, da es immer wieder zu bürgerkriegsartigen Zuständen kam, in denen sich das Militär entscheidend in die Politik einmischte. Trotz der Bürgerkriege konnte die alte Oberschicht auch dank der günstigen wirtschaftlichen Konjunktur ihre Geschlossenheit und ihren unangefochtenen Führungsanspruch in der Gesellschaft aufrechterhalten.

Gleichzeitig machten sich jedoch erste Anzeichen sozioökonomischen Wandels bemerkbar, etwa in der Modernisierung der Städte und dem Ausbau der Kommunikationsverbindungen. Diese Veränderungen schlugen sich ab 1870 auch in einem politischen Umbruch nieder, als die Liberalen an die Macht kamen und in der Folge unter anderem die Säkularisierung und die Ausweitung des Wahlrechts vorantrieben. In diesen Zeitraum fällt der Höhepunkt der territorialen Expansion des chilenischen Staates, die sich zunächst nach Süden gegen die Mapuche richtete und in blutigen Feldzügen bis 1883 vollzogen wurde. Die zweite Stoßrichtung des Expansionismus war der Norden, wo sich Chile zwischen 1879 und 1883 im Krieg gegen seine Nachbarn Peru und Bolivien reiche Salpetervorkommen sicherte.

Modernisierung

Die folgenden fünf Jahrzehnte der chilenischen Geschichte bis 1932 standen im Zeichen einer Modernisierung, die auf einer starken Exportkonjunktur durch Salpeter und später Kupfer beruhte und sich an unterschiedlichen ausländischen Vorbildern orientierte. Schlüsselfaktoren des damit verbundenen Wandels waren das Bevölkerungswachstum, die Anfänge der Industrialisierung und die damit verbundenen Migrationsprozesse, der Aufstieg der Arbeiterbewegung, das Wachstum der Staatsaufgaben sowie die Entstehung einer städtischen Mittelschicht.

Das Weltmonopol für Salpeter schuf lange Zeit die Grundlage für eine im lateinamerikanischen Vergleich bemerkenswert stabile, wenn auch von starken konjunkturellen Schwankungen geprägte wirtschaftliche Entwicklung. Für die Integration in den Weltmarkt bezahlte Chile mit einer sich verfestigenden strukturellen Abhängigkeit. Schließlich stürzte das Land in eine der tiefsten sozioökonomischen Krisen seiner Geschichte und wurde von der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre heftig getroffen.

Diese Modernisierungsprozesse gingen mit teils schweren politischen Krisen einher. Sie gipfelten 1891 in einem Bürgerkrieg, der mit dem Selbstmord des Präsidenten José Manuel Balmaceda endete. Die anschließende Phase wird aufgrund des Übergewichts des Kongresses gegenüber der Exekutive als „Parlamentarische Republik“ bezeichnet. Sie war geprägt durch innenpolitischen Stillstand. In außenpolitischer Hinsicht wurden die noch offenen Fragen der Grenzen zu Argentinien und zu Bolivien 1902 und 1904 formell geklärt, wenngleich die Regelungen vor allem in Bolivien einen bitteren Nachgeschmack hinterließen. Ähnlich wie in den Nachbarländern setzte auch die chilenische Regierung nun auf die Förderung der Einwanderung, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Im kulturellen Bereich veränderten neue Medien wie Kino und Radio sowie neue Verkehrsmittel wie Auto und Flugzeug das Leben grundlegend. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sprach man angesichts des soziokulturellen Wandels vielerorts von der „Nordamerikanisierung“.

Gegen Ende dieses Zeitraums hatten sich die traditionellen Gesellschaftsvorstellungen langsam aber sicher überlebt. Neue soziale Kräfte machten sich bemerkbar. Politischer Erfolg wurde immer mehr an der Lösung der sozialen Probleme festgemacht. Die Präsidentschaftswahlen von 1920 läuteten das Ende der Parlamentarischen Republik ein. Da der als Reformer geltende neue Präsident Arturo Alessandri den Erwartungen nicht gerecht wurde, schaltete sich 1924 erstmals wieder das Militär unter Oberst Carlos Ibáñez direkt in die Politik ein. Der Eingriff des Militärs endete 1931 im Fiasko und in der Diskreditierung der Streitkräfte. Doch sollten der Geist des Nationalismus ebenso wie der des Sozialismus, der 1932 erstmals auf Regierungsebene beschworen wurde, prägend für das chilenische 20. Jahrhundert bleiben.

Industrialisierung und soziale Konflikte

Von der Weltwirtschaftskrise bis zum Regierungsantritt Salvador Allendes 1970 zeichnete sich Chile durch eine auch im Weltmaßstab hohe politische Stabilität aus. Diese Zeit trug erheblich dazu bei, das Bild von der traditionellen Stärke der Demokratie in Chile zu verfestigen. Die ökonomischen Grundlagen, die diese Jahrzehnte prägten, wandelten sich mit dem anhaltenden Industrialisierungsprozess entscheidend. Paradoxerweise schuf die Weltwirtschaftskrise relativ günstige Voraussetzungen für eine Vertiefung der industriellen Fortschritte, wenngleich Exportsektor und Landwirtschaft noch lange Zeit bestimmend blieben. Dennoch waren der Wandel der wirtschaftspolitischen Ausrichtung und der Übergang vom exportorientierten zum importsubstituierenden Wachstumsmodell unverkennbar und wurden von der Regierung der Frente Popular durch die Gründung der staatlichen Corporación de Fomento de la Producción 1939 zum Programm erhoben. Chile lag in dieser Hinsicht voll im Trend der lateinamerikanischen Entwicklungen.

Der wirtschaftliche Strukturwandel war eng verbunden mit tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Das Bevölkerungswachstum beschleunigte sich ab 1940 erheblich und erreichte in den 1950er Jahren seinen Höhepunkt. Seit Ende der 1930er Jahre lebte die Mehrheit in den ständig wachsenden Städten. 1970 hatte der Urbanisierungsgrad bereits 75 Prozent erreicht. Parallel zu diesen Entwicklungen wuchs der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung. Jedoch war die soziale Situation noch Ende der 1960er Jahre unbefriedigend. Die Mangelernährung blieb ein ungelöstes Problem, das angesichts der Fortschritte in vielen anderen Bereichen besonders deutlich ins Auge fiel. Soziale Reformen stießen lange auf den Widerstand der traditionellen Oligarchie. Erst die Regierungen der 1960er Jahre erhöhten das Reformtempo deutlich. Kämpfe um den „richtigen“ Entwicklungsweg und um die Ausweitung der Rechte der Industrie- und Landarbeiterschaft zeigten sich im Zusammenhang von Streiks oder von Landnahmen von Indigenen und Landarbeitern. Diese Auseinandersetzungen beeinflussten in diesen Jahrzehnten auch das politische Tagesgeschäft und wurden nicht zuletzt durch das Aufkommen neuer Kräfte in allen Sektoren des politischen Spektrums mit zunehmender Härte ausgetragen.

Mit dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende und seiner Unidad Popular, den schon die Zeitgenossen als entscheidenden Einschnitt in der Geschichte des Landes einschätzten, rückte Chile 1970 in den Mittelpunkt des Weltinteresses. Die innenpolitischen Verwerfungen der Folgejahre, die sich am Widerstand gegen die Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftsreformen der Regierung festmachten, und insbesondere der Putsch von 1973 sowie die anschließende langjährige Militärherrschaft sollten dafür sorgen, dass die Polarisierungen, die die chilenische Geschichte schon in den 1960er Jahren geprägt hatten, in eine regelrechte Spaltung der Gesellschaft mündeten. Die Unversöhnlichkeit, mit der sich politische Lager und gesellschaftliche Schichten gegenüberstanden, spiegelte einerseits den hoch ideologisierten Zeitgeist des Kalten Krieges und andererseits die soziopolitischen Umbrüche innerhalb des Landes wider.

Diktatur

Der Militärputsch vom 11. September 1973 brachte eine neue Generation von Militärs an die Macht. Landesweit trafen die Truppen nur vereinzelt auf Widerstand. Der heftigste Widerstand regte sich in der Hauptstadt, doch selbst hier handelte es sich zumeist nur um Heckenschützen. Nirgends kam es zum befürchteten Bürgerkrieg gegen eine vermeintlich bis an die Zähne bewaffnete Linke, wie es die rechte Propaganda immer prophezeit hatte. Als Allende die bedingungslose Kapitulation verweigerte, ließen die Putschisten den mitten in der Hauptstadt gelegenen Präsidentenpalast bombardieren. Allende nahm sich das Leben. Die siegreichen Putschisten sprachen von einem „Krieg zur Rettung der Nation“ gegen kommunistische Söldner.

Über die Beteiligung der USA an der Vorbereitung des Putsches ist viel spekuliert worden. Zweifellos war die US-Regierung von Anfang an bemüht, die Unidad Popular zu destabilisieren. Die Kontakte zu den chilenischen Militärs waren eng. Bereits im Vorfeld kursierten Gerüchte, die chilenische Rechte bereite im Zusammenspiel mit ihren US-amerikanischen Verbündeten einen Militärputsch vor. Der Forschungsstand legt nahe, dass die Destabilisierungsbemühungen der USA ein wichtiges, wenn auch nicht entscheidendes und vor allem keineswegs ausschließliches Element bei der Herbeiführung des Putsches waren.

Die Putschisten enttäuschten die reformorientierten Kräfte des politischen Zentrums, die das Ende der Unidad Popular zwar herbeigesehnt, aber gleichzeitig den raschen Wiederaufbau der Demokratie unter konservativen Vorzeichen erhofft hatten. Die Militärjunta war nicht gewillt, nach getaner Arbeit wieder abzutreten, sondern wollte die chilenische Gesellschaft nach militärischen Prinzipien grundlegend umbauen. Die Gewaltherrschaft, die mit der sogenannten Operation Condor auch international Schrecken verbreitete, sollte bis 1990 andauern und mit Augusto Pinochet einen zunehmend unangefochtenen Anführer haben. Die Militärdiktatur schuf ein Klima der Angst und des sozialen Misstrauens, das weit über das Jahr 1990 hinaus wirksam blieb. Oppositionelle wurden brutal verfolgt, Tausende wurden ermordet, Zehntausende gefoltert. Die Diktatur ließ viele „verschwinden“, und die Angehörigen wissen bis heute nichts über deren Verbleib.

In wirtschaftlicher Hinsicht konnte das Regime nach Anlaufschwierigkeiten durch ein neoliberales Schockprogramm einige Erfolge aufweisen. Oberflächlich gesehen war der Erfolg bis 1981 durchaus beeindruckend. International feierte man Chile als neues Wirtschaftswunderland. Beobachter haben diesen Prozess als Rückzug des Staates beschrieben. In Wirklichkeit blieb der Staat auch unter Pinochet interventionistisch. Allerdings gewann die staatliche Intervention einen neuen Charakter, war ihr Ziel doch nun nicht mehr die Schaffung sozialer Gerechtigkeit, sondern die Starthilfe für neuartige Marktbeziehungen. Dies schlug sich unter anderem im Aufstieg einer technokratischen Führungselite aus Financiers und Unternehmern nieder.

So umfassend der Anspruch der Diktatur war, so scheiterte sie doch gleichsam von Beginn an bei ihrem Versuch, die Opposition endgültig mundtot zu machen. Angesichts der sozialen Folgekosten des neoliberalen Modernisierungskurses kam es schon in den 1970er Jahren zu Protesten, die sich in den 1980ern zu einer parteiübergreifenden Opposition verfestigten. 1989 konnte sich diese in einem Plebiszit über die Verlängerung von Pinochets Amtszeit durchsetzen.

Rückkehr zur Demokratie

Nach der langen Diktatur war die Rückkehr zur Demokratie ein mühevoller Prozess, den das demokratische Parteienbündnis der Concertación de Partidos por la Democracia 1990 antrat. Dieses Bündnis vereinte Parteien der Linken und der Mitte von den Sozialisten bis hin zu den Christdemokraten, die vor 1973 erbitterte politische Gegner gewesen waren. Die Ziele der neuen Regierungen, die zunächst unter christdemokratischer Führung antraten, waren Wachstum, Gleichheit und demokratische Stabilität. Insgesamt verbesserte sich die Lebens- und Konsumsituation der meisten Chileninnen und Chilenen seit 1990 deutlich, wenngleich insbesondere in der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Aufklärung des „Verschwindenlassens“ von Oppositionellen sowie bei der Bekämpfung der sozialen Ungleichheit manches Problem ungelöst blieb. Das politische System konsolidierte sich auf dieser Grundlage. Dies beweist der Regierungswechsel, den das Jahr 2010 mit der Ablösung der Concertación durch die Rechte mit sich brachte. In der Folgezeit lösten sich der Konservative Sebastián Piñera und die Sozialistin Michelle Bachelet zweimal gegenseitig im Präsidentenamt ab.

Die Stabilität war jedoch nur oberflächlich, denn im Innern braute sich ein hohes Maß an Unzufriedenheit über die von zahlreichen Skandalen erschütterten politischen Parteien zusammen. Als die Regierung Piñera im Oktober 2019 die Preise im öffentlichen Nahverkehr erhöhen wollte, löste dies eine Welle von Massenprotesten aus, die sich gegen die soziale Ungleichheit im Allgemeinen richteten. Eine zentrale Forderung der Demonstrierenden war die Abschaffung der noch aus der Diktatur stammenden Verfassung. Eine Volksabstimmung ergab eine klare Mehrheit für die Erarbeitung einer neuen Verfassung, die im Juli 2022 von einer größtenteils linken verfassungsgebenden Versammlung fertiggestellt wurde. Bei der Volksabstimmung am 4. September 2022 fand dieser Entwurf jedoch keine Zustimmung, da einige der darin enthaltenen Ziele einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler als zu radikal erschienen.

Wie viele Länder der Region ist Chile heute nicht nur wegen dieser weiterhin offenen Frage tief gespalten. Der Ende 2021 gewählte junge Präsident Gabriel Boric, Vertreter der linken Convergencia Social, der mit seiner Regierung zu den Befürwortern des Verfassungsentwurfs zählte, steht für den Rest seiner Amtszeit vor großen Herausforderungen insbesondere mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

ist Professor für die Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
E-Mail Link: rinke@zedat.fu-berlin.de