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Chiles Ringen um eine neue Verfassung | Chile | bpb.de

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Chiles Ringen um eine neue Verfassung

Claudia Heiss

/ 17 Minuten zu lesen

Nach sozialen Unruhen ab 2019 sollte die aus der Diktatur stammende Verfassung von 1980 ersetzt werden. Der Prozess scheiterte, als der Entwurf in einem Referendum im September 2022 abgelehnt wurde. Über einen neuen Entwurf wird im Dezember 2023 abgestimmt.

Am 18. Oktober 2019 brachen in einem der wirtschaftlich und politisch stabilsten Länder Lateinamerikas Unruhen aus. Tausende Bürger gingen auf die Straße und sahen sich massiver Polizeigewalt ausgesetzt. Etwa 400 Menschen erblindeten oder erlitten Augenverletzungen durch den Einsatz von Plastikgeschossen. Mehr als 30 Menschen starben. Parallel zu den zahlreichen friedlichen Demonstrationen, auf denen „Würde“ und der Zugang zu sozialen Grundrechten eingefordert wurden, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen Metrostationen und Einrichtungen der öffentlichen und privaten Infrastruktur zerstört wurden. Die Unruhen hielten monatelang an, in Santiago und anderen Städten wurden die Proteste zu einem wöchentlichen Ritual. Erst die Corona-Pandemie beendete die Straßenproteste, nachdem im März 2020 die ersten Lockdowns verhängt worden waren.

Die soziale und politische Krise entwickelte sich vor dem Hintergrund einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums und einer damit einhergehenden Zunahme der privaten Verschuldung. Da in Chile Grundbedürfnisse wie Bildung, Wohnen und Gesundheit häufig privat finanziert werden, bedeutete dies eine zusätzliche Belastung für die von Armut Betroffenen. Im Gegensatz zu früheren Protesten, die von sozialen Bewegungen mit einer klaren Agenda getragen wurden, stand hinter diesem Aufstand keine bestimmte politische Gruppierung. Die Demonstrierenden richteten sich gegen eine sehr ungleiche sozioökonomische Struktur mit einem sehr schwachen sozialen Netz und gegen ein ausgrenzendes politisches System, das noch immer von Institutionen bestimmt wird, die Jahrzehnte zuvor während der Militärdiktatur geschaffen wurden.

Viele, von Sozialwissenschaftlern bis zu Wirtschaftseliten, waren von den Ereignissen überrascht. Dabei zeigt das politische System seit mehr als einem Jahrzehnt Krisensymptome wie einen starken Rückgang des Vertrauens in die Institutionen und der Identifikation mit den politischen Parteien. Parallel dazu haben soziale Bewegungen an Bedeutung gewonnen. Seit dem Jahr 2000 haben die politischen Auseinandersetzungen zugenommen, verschiedene Gruppen haben mit Umverteilungs- und politischen Forderungen mobilisiert, darunter Themen wie das mangelhafte Renten- oder das ungerechte Bildungssystem, Feminismus, Geschlechtervielfalt, die Rechte indigener Gruppen und Umweltschutz. Gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung im Laufe der Zeit gesunken, was auf eine Entfremdung zwischen den politischen Eliten und den Wählerinnen und Wählern hindeutet.

Demokratie mit Enklaven

Nach 17 Jahren Militärdiktatur unter Augusto Pinochet konnte im Dezember 1989 mit den Kongress- und Präsidentschaftswahlen die Demokratie in Chile wiederhergestellt werden. Pinochet hatte das Land seit dem Sturz der demokratisch-sozialistischen Regierung von Salvador Allende durch einen Militärputsch am 11. September 1973 regiert. Bereits in seinen ersten Tagen an der Macht hatte Pinochet erklärt, die chilenische Politik reformieren und eine neue Verfassung verabschieden zu wollen, die die Demokratie vor gefährlichen inneren Kräften „schützt“.

Das Projekt zur Umgestaltung des Landes wurde 1977 vorgestellt, nachdem die Militärjunta und ihre Verbündeten vier Jahre an der Macht waren. An einem kalten Juliabend verkündete Pinochet auf dem Chacarillas, einem Hügel in Santiago, umgeben von jungen Anhängerinnen und Anhängern im Fackelschein, den Aufbau eines neuen politischen Systems mit einer „starken und energischen Autorität, um die Bürger vor Demagogie und Gewalt zu schützen“. Der „klassische liberale Staat“ sollte durch einen neuen ersetzt werden, der „der Freiheit und der Würde des Menschen und den Grundwerten des chilenischen Volkes verpflichtet ist“. Pinochet sprach von technischen Lösungen für soziale Probleme und von der Notwendigkeit, die Rolle von Gewerkschaften, Parteien und Politikern einzuschränken. Er würde bestimmte, als gefährlich angesehene Ideen verbieten und die Streitkräfte zu Hütern der Institutionen machen. Dementsprechend enthielt die Verfassung von 1980 Beschränkungen für politische Parteien und Gewerkschaften sowie erhebliche Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit. Die politische Repräsentation war verzerrt, die Legislative bestand aus einer Kombination von ernannten Senatoren und einer Abgeordnetenkammer, deren Mitglieder durch ein eigentümliches binomiales Wahlsystem bestimmt wurden. Die Verfassung räumte der rechten Minderheit ein übermäßiges Vetorecht bei der Entscheidungsfindung ein und verletzte damit den Gleichheitsgrundsatz. Im Bereich der Bürgerrechte wurde ein individualistisches Modell eingeführt, das zu einer Kommerzialisierung des gesellschaftlichen Lebens und einer Entpolitisierung der Zivilgesellschaft führte, wodurch die großen wirtschaftlichen Ungleichheiten fortbestanden.

Der Übergang zur Demokratie wurde 1990 eingeleitet, aber viele Bestimmungen aus der Zeit der Diktatur blieben als „Enklaven“ des alten Regimes bestehen. Nach dem Referendum von 1988, in dem sich die Bevölkerung zwischen weiteren acht Jahren Pinochet und sofortigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen entscheiden konnte – 44 Prozent stimmten für die Fortsetzung der Diktatur, 56 Prozent dagegen –, wurden in Verhandlungen zwischen der künftigen und der scheidenden Regierung 54 Verfassungsreformen auf den Weg gebracht. Diese beendeten unter anderem das Exil von Oppositionellen und das Verbot linker politischer Parteien. Im Gegenzug blieben große Teile des politisch autoritären und wirtschaftlich neoliberalen Modells vor weiteren Reformen geschützt.

Die Wirtschaftsordnung der Verfassung von 1980 sieht einen sogenannten subsidiären Staat vor. Diese von der Rechten befürwortete und während der Diktatur institutionalisierte Ordnung gibt der privaten Versorgung Vorrang vor der öffentlichen. Die Idee eines nationalen Fonds für Gesundheit, Bildung oder Renten, in den alle einzahlen – etwa über allgemeine Steuern – wird als verfassungswidrig angesehen. Die Verfassung ist somit einem neoliberalen Verständnis von Eigentum, wirtschaftlicher Freiheit und der Rolle des Staates in der Wirtschaft verpflichtet.

Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 blieb Pinochet bis 1998 Oberbefehlshaber des Heeres und behielt das von ihm geschaffene Amt eines Senators auf Lebenszeit, bis er im Oktober desselben Jahres während eines Aufenthalts in London wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet wurde. Die Verfassungsreformen von 1989 änderten zwar einige der bedenklichsten antidemokratischen Merkmale der Verfassung, andere blieben jedoch bestehen. Die Ernennung von Senatoren, die die Mehrheitsverhältnisse im Senat verzerrten, und die fehlende Möglichkeit des Präsidenten, die Oberbefehlshaber der Streitkräfte abzusetzen, blieben noch 15 Jahre bestehen. Mit der Verfassungsreform von 2005 wurde dann der Verweis auf das binomiale Wahlsystem gestrichen. Damit war der Weg frei für eine Änderung des Wahlsystems, die allerdings erst 2015, mit der Einführung eines stärker proportionalen Systems erfolgte.

Mit der Reform von 2005 wurden sowohl die Ernennung von Senatoren als auch das Amt des Senators auf Lebenszeit abgeschafft. Auch bei der Unterordnung des Militärs unter die zivile demokratische Macht wurden wesentliche Fortschritte erzielt. Gleichzeitig wurden die Befugnisse des Verfassungsgerichts gestärkt, um die Möglichkeit einer als verfassungswidrig angesehenen Umverteilungspolitik einzuschränken. All diese Veränderungen mussten das Vetorecht überwinden, das das politische System den politischen Erben der Diktatur einräumte.

Das erste Jahrzehnt der neuen Demokratie war geprägt von einem deutlichen Rückgang der Armut, einem historischen Wirtschaftswachstum und einer hoffnungsvollen politischen Stabilität. Von 1990 bis 2010 regierte in Chile eine Mitte-Links-Koalition, die sogenannte Concertación, ein breites Parteienbündnis bestehend aus der Partido Demócrata Cristiano (Christdemokratische Partei Chiles, PDC), der Partido por la Democracia (Partei für Demokratie, PPD), der Partido Socialista de Chile (Sozialistische Partei Chiles, PS) und der Partido Radical Social Demócrata (Radikale und Sozialdemokratische Partei, PRSD). Die Kommunistische Partei war nicht an der Regierung beteiligt, unterstützte aber häufig die Kandidaten der Concertación gegen die Kandidaten der Rechten. Drei Präsidenten – die Christdemokraten Patricio Aylwin (1990–1994) und Eduardo Frei (1994–2000) sowie der Sozialist Ricardo Lagos (2000–2006) – führten das Land in eine Zeit des politischen Optimismus und makroökonomischen Wohlstands. Mit der nachfolgenden Regierung der Concertación zeigte der politische Konsens jedoch erste Risse. Die erste Präsidentin des Landes, die Sozialistin Michelle Bachelet (2006–2010), wurde in einer Atmosphäre des Misstrauens gegenüber den politischen Eliten gewählt. Ihre Koalition endete vier Jahre später mit dem Sieg des ersten rechtsgerichteten Präsidentschaftskandidaten seit 1958: Sebastián Piñera (2010–2014). Bachelet kehrte für eine zweite Amtszeit (2014–2018) zurück, in der sie von einem neuen Bündnis, der Nueva Mayoría (Neue Mehrheit), unterstützt wurde, dem neben den ehemaligen Mitgliedern der Concertación auch die Kommunistische Partei angehörte. Vor den nächsten Präsidentschaftswahlen verließ die Christdemokratische Partei die Koalition, und der rechtsgerichtete Piñera regierte für eine zweite Amtszeit (2018–2022).

Eine politikwissenschaftliche Analyse der sozialistischen Regierungen unter Ricardo Lagos und der ersten Regierung Bachelet ergab, dass die Veränderungen in den Bereichen Arbeit und Marktregulierung „moderat“ und die Förderung der Bürgerbeteiligung „spärlich“ waren. Dafür werden drei Gründe angeführt: die Rolle der politischen Entscheidungsträger und ihre schwache Bindung an die Parteibasis und die Zivilgesellschaft; die Tatsache, dass es sich um Koalitionsregierungen handelte; und die Beschränkungen durch die politischen und wirtschaftlichen Institutionen der Pinochet-Ära, insbesondere durch die Verfassung von 1980.

Die Concertación hat zwar viel erreicht, bezahlte dafür jedoch einen hohen Preis. Ihre Identität und programmatische Agenda litten unter dem breiten Parteienspektrum. Zu den Koalitionspartnern gehörten sowohl ein linker Flügel mit einer sozialdemokratischen Agenda als auch eine politische Mitte, die mit dem bestehenden sozioökonomischen Modell zufrieden war. Die lange Regierungszeit trug dazu bei, dass die Koalitionsparteien als Elite wahrgenommen wurden, die sich mehr um die für die Regierungsarbeit notwendigen Absprachen und Verhandlungen kümmerte als um die Beziehungen zu den einfachen Bürgerinnen und Bürgern. Zudem wurde der Concertación vorgeworfen, die gesellschaftliche Demobilisierung am Ende der Diktatur als Strategie zur Sicherung der eigenen Regierungsfähigkeit genutzt zu haben. Die Verbindungen zu den sozialen Organisationen und Bewegungen an der Basis gingen verloren, was Jahrzehnte später zur Entstehung einer sozialen Bewegung führte, die in Opposition zu den politischen Parteien stand.

Verfassungsgebende Versammlung

Auslöser der sozialen Unruhen 2019 war eine geringfügige Fahrpreiserhöhung um 30 Pesos (unter zehn Cent in Euro) für die U-Bahn in Santiago. Unter den Initiatoren waren viele junge Menschen, ähnlich wie 2006, als Schülerinnen und Studenten für die Abschaffung der gewinnorientierten, kostenpflichtigen Privatschulen demonstriert und damit zahlreiche Proteste im Land ausgelöst hatten. Die Forderungen der Bewegung, die in dem Satz „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“ zusammengefasst wurden, verwiesen auf das Ausbleiben struktureller Reformen im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich seit der Wiederherstellung der Demokratie. Soziale Ungleichheiten blieben bestehen, und niedrige Löhne sowie ein fehlendes soziales Netz führten dazu, dass sich immer mehr Familien verschuldeten.

Nach einmonatigen Protesten einigten sich die politischen Parteien am 15. November 2019 darauf, einen demokratischen Verfassungsprozess einzuleiten. Präsidentin Bachelet hatte bereits 2016 versucht, das Projekt in einem von oben gesteuerten Prozess anzugehen, war aber am heftigen Widerstand der Rechten und an der halbherzigen Unterstützung ihrer eigenen Koalitionspartner gescheitert. Diesmal zwang der Druck von unten das politische Establishment, die Reform auf den Weg zu bringen.

Im Dezember 2019 wurde per Gesetz ein dreistufiger Zeitplan für die Bürgerbeteiligung festgelegt: In einem Plebiszit sollten die Bürger befragt werden, ob sie eine neue Verfassung wollen und welche Versammlung diese ausarbeiten soll. Danach sollten sie in einer weiteren Wahl über die Zusammensetzung einer verfassungsgebenden Versammlung mit 155 Mitgliedern entscheiden und schließlich in einem Referendum über die Ratifizierung der neuen Verfassung abstimmen. Nur für die letzte Wahl sollte Wahlpflicht gelten.

Das Referendum vom 25. Oktober 2020 ergab eine Zustimmung von 78 Prozent für eine neue Verfassung. Zudem stimmten die Wählerinnen und Wähler für eine komplett neu gewählte Versammlung anstelle eines Gremiums, das sich aus neu gewählten Abgeordneten und Mitgliedern des bestehenden Kongresses zusammensetzt. Die Wahlbeteiligung betrug 51 Prozent.

An den Wahlen zur neuen verfassungsgebenden Versammlung am 14. und 15. Mai 2021 nahmen nur 43 Prozent der Wahlberechtigten teil. Eine Erklärung für diesen Rückgang könnte der Unterschied zwischen einer Wahl und einem Referendum sein. Es ist offenbar einfacher, die aktuelle Verfassung abzulehnen, als sich für einzelne Personen zu entscheiden, die an einer neuen Verfassung arbeiten sollen. Zudem war die Wahl sehr komplex, da über vier verschiedene Vorgänge entschieden wurde: Neben den 155 Mitgliedern der Nationalversammlung wurde über 345 Bürgermeister, 2.252 Gemeinderäte und 16 Regionalgouverneure abgestimmt.

Da der Verfassungsgebungsprozess aus einer sozialen Bewegung heraus entstanden war, die den politischen Parteien ablehnend gegenüberstand, wurde den unabhängigen Kandidaten eine Sonderregelung zugestanden, die es ihnen ermöglichte, gleichberechtigt mit den Kandidaten der Parteien an den Wahlen teilzunehmen. Am Ende schafften es unabhängige Kandidaten von drei Listen in die verfassungsgebende Versammlung – La Lista del Pueblo (Volksliste), Movimientos Sociales (Liste der sozialen Bewegungen) und Independientes No Neutrales (Unabhängige Nicht-Neutrale). Außerdem wurde zum ersten Mal in Chile – und weltweit – die Geschlechterparität in einem verfassungsgebenden Gremium erreicht. Die indigenen Völker erhielten 17 Sitze, was ihrem demografischen Anteil in Chile entspricht. Diese besonderen Regelungen führten zu einer verfassungsgebenden Versammlung, die in kultureller, geschlechtlicher und sozioökonomischer Hinsicht eine größere Vielfalt aufwies als jedes andere repräsentative Gremium zuvor.

Das Ergebnis war in vierfacher Hinsicht überraschend: eine klare Niederlage der Rechten, magere Ergebnisse für die Mitte-Links-Vertreter, Erfolge für die Linke und massive Zugewinne für die Unabhängigen. Entsprechend fragmentiert war die verfassungsgebende Versammlung, die nach links tendierte und zu zwei Dritteln aus Unabhängigen bestand. Erstmals waren Frauen und indigene Völker entsprechend ihrem demografischen Anteil vertreten.

Die für den Verfassungsentwurf vorgeschlagenen Normen mussten von der Versammlung mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Wenn eine Norm dieses Quorum nicht erreichte, wurde sie nicht in den Entwurf aufgenommen. Die rechte Koalition erhielt nur 20 Prozent der Stimmen und war damit weit von dem Drittel entfernt, das notwendig war, um Vorschläge in der Versammlung zu blockieren. Eine Abstrafung der Regierung Piñera könnte zumindest einen Teil des Ergebnisses erklären. Am zweitstärksten betroffen war die Mitte-Links-Liste, zu der die traditionellen Parteien der ehemaligen Concertación gehörten; sie erhielt insgesamt nur 25 Sitze. Dass die Wählerinnen und Wähler den Kandidaten der Mitte-Links-Liste die kalte Schulter zeigten, ist auf die Ablehnung der traditionellen politischen Parteien und wahrscheinlich auch auf die Unzufriedenheit mit deren bisheriger Regierungsarbeit zurückzuführen.

Besser schnitten die Gruppierungen des linken politischen Spektrums ab. Ihre Liste, die mehrere Bewegungen und Parteien umfasste, darunter die Kommunistische Partei und die Frente Amplio (Breite Front), errang 28 Sitze und war damit stärker als die traditionelle linke Mitte. Diese Parteien, von denen einige aus der Studentenbewegung von 2011 hervorgegangen sind, waren bei den Parlamentswahlen 2017 zum ersten Mal angetreten und konnten dank des neuen Verhältniswahlrechts, das das binomiale System ablöste, in den Kongress einziehen.

Allerdings reichte die Mehrheit der Linken in der verfassungsgebenden Versammlung nicht aus, um ihre eigene Agenda durchzubringen. Die Zersplitterung, das Fehlen einer programmatischen Strategie, die mangelnde Parteidisziplin und Mitglieder, die nur für ein bestimmtes Thema eintraten, standen einem Erfolg im Wege. Hitzige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen nährten das Image von Chaos und Inkompetenz. Einige Neuerungen des Verfassungsentwurfs erwiesen sich zudem als unpopulär: So wurden etwa Tierrechte als Bedrohung der Tradition und etablierten Lebensweise empfunden. Die Bezeichnung Chiles als plurinationaler Staat schien für einige im Widerspruch zum Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz zu stehen. Fehlinformationen und Fake News schürten die Angst vor einer Schwächung der Eigentumsrechte.

Ein weiteres wichtiges Element, das die Arbeit des Konvents beeinflusste, war die Wahl von Gabriel Boric (Convergencia Social, CS) zum Präsidenten, der sich mit Unterstützung der neuen linken Parteien durchsetzen konnte. Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im November 2021 lag der rechtsextreme Kandidat Jose Antonio Kast noch vor Boric. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen gab es praktisch einen Gleichstand zwischen Linken und Rechten. Bei der Stichwahl im Dezember erhielt Boric, der nun auch von der Mitte als kleineres Übel unterstützt wurde, eine deutliche Mehrheit.

Der Entwurf, den der Verfassungskonvent von Juli 2021 bis Juli 2022 ausgearbeitet hatte, umfasste eine Vielzahl von Rechten: soziale, ökologische, indigene, reproduktive, territoriale, geschlechtsspezifische und andere. Beim Referendum am 4. September 2022, an dem 86 Prozent der 15 Millionen in die Wählerlisten eingetragenen Chileninnen und Chilenen teilnahmen, wurde der Text mit 62 Prozent abgelehnt.

Die Linken und die Unabhängigen, die einst die Regierung Piñera herausgefordert hatten, waren nun Teil des politischen Establishments, nicht nur, weil sie die Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung stellten, sondern auch, weil sie sich mit den neuen Regierungsparteien und dem jungen neuen Präsidenten Boric, einem ehemaligen Studentenführer, identifizierten.

In rechter Hand

Nach dem Scheitern der Verfassungsgebenden Versammlung 2022 wurde ein neuer Versuch unternommen, auf die Legitimitätskrise der Verfassung von 1980 und das eindeutige Ergebnis des Referendums vom Oktober 2020 zu reagieren. Die Kampagne gegen den von der verfassungsgebenden Versammlung vorgelegten Entwurf zielte nicht auf die Beibehaltung der alten Verfassung ab, sondern stellte den Vorschlag als spalterisch dar und forderte eine bessere, „eine, die uns eint“.

Mit der Stärkung der Rechten bei den Parlamentswahlen im November 2021 und der Ablehnung des Verfassungsentwurfs im September 2022 stand die Zukunft einer neuen Verfassung auf der Kippe. Während die extreme Rechte an der Verfassung von 1980 festhielt, sahen viele der rechten Mitte und der Wirtschaft zugewandte Politikerinnen und Politiker in der Beibehaltung der bestehenden Verfassung eine Quelle politischer Instabilität und sprachen sich daher für eine moderate Reform aus. Der Legitimitätsverlust der bestehenden Verfassung nach den Unruhen von 2019 führte im Dezember 2022 zu einer neuen politischen Übereinkunft für einen neuen Anlauf im Verfassungsprozess.

Der neue Prozess war in vielerlei Hinsicht ein Spiegelbild seines Vorgängers. Nach der Ablehnung des Entwurfs im September 2022 beschränkte sich die Debatte über einen neuen verfassungsgebenden Prozess auf die politischen Parteien und den Kongress. Die Verhandlungen dauerten fast 100 Tage, doch am 12. Dezember 2022 unterzeichneten die Parteien schließlich das sogenannte Übereinkommen für Chile. Dabei handelte es sich um ein fünfseitiges Dokument, das zwölf zuvor ausgehandelte Verfassungslinien beziehungsweise -prinzipien enthielt, die von den Verfassungsgebern nicht angetastet werden dürfen.

Statt wie zuvor bei Null anzufangen, wurde eine Kommission aus 24 Expertinnen und Experten von den Parteien entsprechend ihrer Stärke im Kongress ernannt und mit der Ausarbeitung eines ersten Entwurfs beauftragt. Am 7. Mai 2023 wurde dann ein 50-köpfiger Verfassungsrat gewählt, der diesen Entwurf überarbeiten und ergänzen sollte. Die besonderen Wahlregeln für Unabhängige wurden gestrichen, und eine Regelung zur Wahl der Vertreter der indigenen Völker im Verhältnis zur Wahlbeteiligung führte dazu, dass nur ein einziger indigener Vertreter gewählt wurde. Die einzige Sonderregel, die aus dem vorherigen Prozess übernommen wurde, war die Geschlechterparität. Überraschenderweise führten die Wahlen am 7. Mai zu einem überwältigenden Erfolg der 2019 gegründeten rechtsextremen Republikanischen Partei. Wenn das Problem der vorherigen Versammlung darin bestand, dass sie zu weit links von der durchschnittlichen chilenischen Wählerschaft stand, so stand die neue Versammlung zu weit rechts.

Nach den Unruhen von 2019 hatten soziale Bewegungen und Unabhängige die politische Arena betreten, vor allem durch die verfassungsgebende Versammlung. Die durch die Corona-Pandemie ab 2020 ausgelöste Unsicherheit und die Wirtschaftskrise hatten zu einer Stärkung der Konservativen und damit zu einer zunehmenden Ablehnung der Versammlung und ihres Entwurfs geführt. 2019 waren zwei neue rechte Parteien entstanden: die Republikanische Partei und die Volkspartei. Beide lehnten das von den traditionellen rechten Parteien unterzeichnete Übereinkommen für Chile mit der Begründung ab, dass die Verfassung von 1980 nicht geändert werden dürfe. Die linken Parteien hingegen unterstützten den Prozess, auch wenn einige Organisationen seine Legitimität infrage stellten, da er ihrer Ansicht nach von den Eliten vereinnahmt worden sei. Diese Gruppen äußerten die Befürchtung, dass ein von der Rechten kontrollierter Prozess dazu führen könnte, das von der Diktatur etablierte soziale und politische Modell mit minimalen Reformen zu beschönigen und damit zu rehabilitieren.

Der Ausgang der Wahlen zum Verfassungsrat am 7. Mai 2023 war entscheidend für den weiteren Verlauf des Verfassungsprozesses. Der Wahlkampf stieß auf wenig Interesse und konzentrierte sich mehr auf aktuelle Themen als auf Verfassungsfragen; so wurden unter anderem Sicherheit, Bewahrung der Traditionen oder Unterstützung der Polizei versprochen. Allein die Republikanische Partei gewann 23 Sitze (35 Prozent), während die traditionelle rechte Koalition nur auf elf Sitze (21 Prozent) kam. Die Linke errang 16 Sitze (29 Prozent), während die Mitte-Parteien der ehemaligen Concertación – Christdemokraten, Partei für Demokratie und Radikale Partei –, die getrennt von den Sozialisten und anderen linken Gruppierungen angetreten waren, keinen einzigen Sitz erhielten.

Der Verfassungsrat hat die Aufgabe, den von der Expertenkommission im Juni 2023 vorgelegten Entwurf zu diskutieren und zu überarbeiten. Seine Beschlüsse werden mit Zweidrittelmehrheit gefasst, was bedeutet, dass die Republikaner über genügend Stimmen verfügen, um jeden Änderungsvorschlag zu blockieren. Umgekehrt können sie im Bündnis mit der traditionellen rechten Koalition jede Änderung durchsetzen, ohne um die Stimmen der Linken werben zu müssen. Anfang November 2023 muss der Rat seinen Verfassungsentwurf vorlegen, ein Plebiszit zur Ratifizierung ist für den 17. Dezember vorgesehen.

Paradoxerweise liegt es in den Händen rechter Parteien, eine Verfassung zu ändern, die jahrzehntelang die Positionen dieser Gruppen gestärkt hat. Die Republikanische Partei, die die Verfassung von 1980 vehement verteidigt, hat nun die Führung bei der Änderung des Textes übernommen. Ein Erfolg bei diesem Unterfangen würde ihre Chancen erhöhen, sich als politische Kraft zu etablieren, die in absehbarer Zeit die Führung des Landes übernehmen könnte. So wie die Linke nach ihrem überwältigenden Sieg bei den Wahlen zum Verfassungskonvent 2021 ihr reformistisches Mandat überinterpretiert zu haben scheint, besteht diese Gefahr nun unter umgekehrten Vorzeichen, wenn die Rechte beschließt, ihre politische Agenda über die Verfassung voranzutreiben.

Der moderate Entwurf der Expertenkommission wurde vom Rat bereits mit über 1.000 Änderungsvorschlägen versehen, von denen einige den subsidiären Staat über die Bestimmungen der Verfassung von 1980 hinaus stärken oder bestimmte Regelungen expliziter formulieren als in der geltenden Verfassung. Zu den Vorschlägen, die die Rechte dem Entwurf hinzufügen möchte, gehören die verfassungsmäßig garantierte Freiheit bei der Wahl des Gesundheitssystems, das Recht, Rentenfonds zu erben, die Freiheit der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder ohne staatliche Einmischung zu bestimmen, die Schwächung des Streikrechts, die Abschaffung der Geschlechterparität und die Verringerung der Zahl der Sitze pro Bezirk bei den Parlamentswahlen. Es scheint also möglich, dass am Ende ein Text herauskommt, der konservativer ist als die bestehende Verfassung. Obwohl es noch keinen endgültigen Entwurf gibt, deuten Umfragen darauf hin, dass die Wähler den Vorschlag bei den Wahlen im Dezember ablehnen werden.

In diesem Fall würde die chilenische Bevölkerung ihre Verfassung von 1980 behalten. Jede Hoffnung auf eine Überwindung der strukturellen und institutionellen Probleme, die 2019 zu den Unruhen und dem Misstrauen gegenüber der Politik geführt haben, wäre damit zerstört. Der politische Prozess um die Verfassungsfrage hat jedoch bereits wichtige Veränderungen in Gang gesetzt. Die Legitimitätskrise der Verfassung hat zu zwei wichtigen Änderungen geführt: die Senkung des Quorums für Verfassungsänderungen von zwei Drittel auf vier Siebtel und die Senkung des Quorums für die Änderung von 17 Sondergesetzen, die von der Diktatur erlassen wurden, von vier Siebtel auf eine einfache Mehrheit. Diese Verfassungsnormen regeln wichtige Bereiche wie das Bildungswesen, die Streitkräfte oder die Zentralbank, um nur einige zu nennen. Sie waren Enklaven der Diktatur, die den Spielraum demokratischer Politik einschränkten.

Die flexiblere Ausgestaltung der Verfassungsnormen eröffnet neue Möglichkeiten, die Verfassungsreform im politischen Alltag und im Kongress weiter zu diskutieren und Änderungen einzubringen. Höhere Quoren sollten eigentlich der Herbeiführung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses dienen und nicht dem Schutz von Regelungen, die dem Land von einer Diktatur auferlegt wurden. Der alte und der aktuelle Verfassungsprozess in Chile zeigen, dass ein Konsens sehr schwer zu erreichen ist. Wenn eine Gruppe über genügend Stimmen verfügt, um ihre Gegner zu überstimmen, erscheint es unrealistisch, auf eine Selbstbeschränkung ihrerseits selbst in grundlegenden Verfassungsfragen zu hoffen. Dies scheint die traurige Lehre aus den bisherigen chilenischen Erfahrungen zu sein. Als die Rechte in der Minderheit war, forderte sie, dass nur geringfügige Eingriffe in die Verfassung vorgenommen werden sollten. Nur ein Jahr später, nun im Besitz der Mehrheit, scheint dies nicht mehr zu gelten. Die Bürgerinnen und Bürger werden im Dezember entscheiden, ob der Verfassungsrat die gleichen Fehler gemacht hat wie sein Vorgänger.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Juan P. Luna/David Altman, Uprooted But Stable: Chilean Parties and the Concept of Party System Institutionalization, in: Latin American Politics and Society 53/2011, S. 1–28.

  2. Vgl. Sofia Donoso/Marisa von Bülow (Hrsg.), Social Movements in Chile: Organization, Trajectories, and Political Consequences, New York 2017.

  3. Die Teilnahme an Wahlen war in Chile lange Zeit verpflichtend, 2012 wurde diese Wahlpflicht aufgehoben.

  4. Augusto Pinochet, Discourse in the Chacarillas Hill on the Occasion of Celebrating the Day of Youth, Santiago 1977.

  5. Das binomiale Wahlsystem ist eine Variante des Verhältniswahlsystems. Hat die Siegerpartei mehr als doppelt so viele Stimmen wie die zweitplatzierte Partei, so erhält sie beide Wahlkreissitze, ansonsten bekommt die zweitplatzierte Partei den anderen Sitz. Dieses System begünstigt die großen Parteien und erschwert die Vertretung der kleinen Parteien (Anm. d. Red.).

  6. Vgl. Claudia Heiss/Esteban Szmulewicz, La Constitución Política de 1980, in: Carlos Huneeus/Octavio Avendaño (Hrsg.), El sistema político de Chile, Santiago 2018, S. 57–83.

  7. Vgl. Manuel A. Garreton, Incomplete Democracy, Chapel Hill 2003.

  8. Vgl. Heiss/Szmulewicz (Anm. 6), S. 77.

  9. Vgl. Evelyn Huber/Jennifer Pribble/John Stephens, The Chilean Left in Power: Achievements, Failures, and Omissions, in: Kurt Weyland/Raul L. Madrid/Wendy Hunter (Hrsg.), Leftist Governments in Latin America. Successes and Shortcomings, Cambridge 2010, S. 77–97.

  10. Vgl. Emmanuelle Barozet, Entre la urna, las redes sociales y la calle, in: Manuel Antonio Garretón (Hrsg.), La gran ruptura. Institucionalidad política y actores sociales en el Chile del Siglo XXI, Santiago 2016, S. 21–58.

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Claudia Heiss ist Professorin für Politikwissenschaften an der Universidad de Chile in Santiago de Chile.
E-Mail Link: cheiss@iap.uchile.cl