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Soziale Frage, Sozialarbeit und Frauenbewegung (1800–1960) | Care-Arbeit | bpb.de

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Soziale Frage, Sozialarbeit und Frauenbewegung (1800–1960)

Sylvia Schraut

/ 15 Minuten zu lesen

"Wir fühlen die Aufforderung in uns, unsere Nebenmenschen von Übeln zu befreien, aus welchen sie allein sich nicht helfen können, wir geben oft dadurch Familien Einen der Ihrigen wieder; wir setzen dadurch oft Menschen in den Stand, die Mittel zu ihrer und der Ihrigen Ernährung zu erwerben, mit welcher sie sonst ihrer Gemeinde zur Last fallen würden, wir erhalten oft dadurch der Gemeinde und dem Staate nützliche Mitglieder, die ohne unser Zutun ihrem Elende erliegen würden; und endlich verhüten, oder vermindern wir wenigstens, durch dieselbe Verbreitung ansteckender Krankheiten."

Mit seiner Mischung aus bürgerlichem Sozialpathos und pragmatischer Kosten-Nutzen-Rechnung veranschaulicht dieses Zitat zur Rechtfertigung der Armen-Krankenpflege Berlins im Jahr 1820 eine der zentralen Problemlagen des 19. Jahrhunderts: Wie mit der wachsenden Zahl Armer, Kranker und Hilfsbedürftiger umgehen, die nicht (mehr) mit familiärer Unterstützung rechnen konnten? Diese auch nur notdürftig zu versorgen, brachte die traditionelle kirchliche Nächstenliebe an ihre Grenzen. Angesichts von beginnender und im Laufe des 19. Jahrhunderts sich entfaltender Industrialisierung und Urbanisierung waren auch die Kommunen zunehmend damit überfordert, "ihre" Armen und Hilfsbedürftigen zu unterstützen. Soziale Leistungen für die zugezogenen, nicht aus der Gemeinde stammenden Ortsfremden verweigerten sie ohnehin. Zugleich waren die deutschen Fürsten in ihren Herrschaftsgebieten darum bemüht, Rechts-, Verwaltungs- und Bildungssysteme zu vereinheitlichen und zu modernisieren. "Die" Staatsbürger*in vor Augen wandte sich die staatliche Aufmerksamkeit mehr und mehr dem Sozialwesen zu. Doch die materiellen Ressourcen der sich entfaltenden modernen Staaten reichten nicht dazu aus, "die" Staatsbürger*in im Krisenfall zu versorgen. Wie also den sozialen Problemen Herr werden? Seit den 1830er Jahren debattierte eine aufgeklärte bürgerliche Öffentlichkeit intensiv über Pauperismus und die Verelendung breiter Bevölkerungskreise. Zum bürgerlichen Selbstverständnis gehörte öffentliches Engagement in Wohlfahrtsfragen schlichtweg dazu.

Kommunale Selbstverwaltung und die Entfaltung des öffentlichen Sozialwesens

Als Dreh- und Angelpunkt des Wohlfahrtsproblems erwies sich die Frage, welche kommunale oder staatliche Instanz im Falle von Krankheit und Hilfsbedürftigkeit für die Unterstützung der Betroffenen zuständig sei. Traditionell und bis ins 19. Jahrhundert hineinreichend, war die Armenversorgung durch ein Mischsystem von kommunaler und kirchlicher Fürsorge gewährleistet worden. Wie beim Bürgerrecht und in der gemeindlichen Selbstverwaltung gestalteten sich die Rechtsverhältnisse in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes jedoch äußerst unterschiedlich. In Bayern beispielsweise herrschte nahezu bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das Heimatrecht. Ortsfremde Hilfsbedürftige wurden in ihre Herkunftsgemeinde zurückgeführt. Auch in anderen Staaten, so in Württemberg oder Sachsen, galt bis 1870 das Heimatrecht. In Preußen und auch in Baden versuchte der Staat zunehmend, die Kommunen für die Armen- und Krankenversorgung aller Einwohner*innen verantwortlich zu machen. Das preußische Gesetz über den Unterstützungswohnsitz führte nach 1842 zu entsprechenden Regelungen: Es galt als Vorbild für zahlreiche andere Staaten, und es wurde 1871 auf das Deutsche Reich mit Ausnahme Bayerns übertragen. Das Recht, von der Wohngemeinde Unterstützung zu erhalten, galt nach der Gesetzeslage Preußens und später des Reichs freilich erst nach zweijährigem ununterbrochenem Aufenthalt in der Wohngemeinde. Die Reichweite des Gesetzes sollte daher nicht überschätzt werden. Gerade die große Masse der in der Industrialisierung von Stadt zu Stadt wandernden Arbeitssuchenden blieb nach wie vor aus dem Unterstützungsrecht ausgeschlossen.

Jenseits der staatlichen Rechtslage lag es über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg im Bestreben der Städte, die Kosten für das Sozialwesen gering zu halten. Dies schien möglich, indem man die kommunale Hilfe zu begrenzen versuchte und die Zahl der Unterstützungsberechtigten möglichst klein hielt. Eine Fülle theoretischer Erörterungen über Armutslagen und mögliche Hilfsmaßnahmen wurde bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts publiziert. Auf welche Weise sollten Bedürftige unterstützt werden? Welcher Einwohnerkreis sollte über das Ausmaß der Sozialleistungen und die Größe des betroffenen Personenkreises entscheiden? Die Antworten vor Ort belegen, wie eng städtisches Bürgerrecht, kommunales Wahlrecht und die Zusammensetzung der städtischen Führungseliten mit der Ausgestaltung der öffentlichen Sozialsysteme verwoben waren. Dies lässt sich zum Beispiel am Sozialwesen in Hamburg, Mannheim und München veranschaulichen.

In der alten Hansestadt Hamburg regierten bis 1860 die Senatsmitglieder auf Lebenszeit, und sie kooptierten sich neue Mitglieder aus dem Handels- und Besitzbürgertum, ohne ein diesbezügliches Mitspracherecht der Bürgerschaft. Die Armenkasse begriff sich im Sinne obrigkeitlicher Wohltätigkeit im Krisenfall als weitgehend zuständig für Unterstützungsbedürftige. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte der Senat ein dezentrales System städtisch/staatlicher öffentlicher Armenversorgung installiert. Das neu installierte Armen-Kollegium aus Stadträten und kooptierten Bürgern stand einem Versorgungssystem vor, das die Stadt in überschaubare Bezirke aufteilte und 180 ehrenamtlich tätige Armenpfleger*innen mit der Betreuung der ihnen persönlich bekannten Unterstützungsempfänger*innen beauftragte. Zeitgenössisch galt das vom Hamburger Großbürgertum installierte System als vorbildhaft und äußerst effizient, und es fand breite Aufmerksamkeit bei den kommunalen Armenbehörden anderer Städte.

Dagegen stand das Armensystem von Mannheim zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor dem Ruin. Die krisengeschüttelte Stadt war 1802 an Baden gefallen, und der neue Landesherr übernahm in seinem neuen Besitztum auch die Aufgabe der Armenversorgung. Nach der Einführung der badischen Gemeindeordnung von 1831, die die Wohnsitzgemeinde in die Armenversorgung der ortsanwesenden nicht bürgerlichen Einwohner*innen einband, erkämpfte sich der Gemeinderat ein Mitspracherecht. Doch war dieses neue Privileg mit der Pflicht verbunden, das Defizit des Armenhaushalts auszugleichen. Innovativ wurde der nunmehr mitspracheberechtigte Gemeinderat, als er eine Möglichkeit sah, die Kosten der Armenversorgung zu senken. Der Gemeinderat führte für Dienstbot*innen und Gesellen eine öffentliche, von der Dienstherrschaft zu zahlende Krankenkasse ein, die 1842 in eine Zwangsversicherung umgewandelt wurde. Das System bewährte sich offensichtlich. In den 1860er Jahren waren wohl um die 15 bis 20 Prozent der Stadteinwohnerschaft in die kommunale Krankenversicherung integriert.

Innovationsfreudigkeit gehörte während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht zu den Merkmalen des Sozialsystems Münchens. In der süddeutschen Metropole fielen eine durch Handel und Gewerbe geprägte Bürgerstadt mit der monarchisch überformten Hauptstadt eines Territoriums zusammen. Der Stadtrat wurde indes von der großen Zahl mittelständischer selbstständiger Gewerbetreibender mit Hausbesitz dominiert. Sie bestimmten die Ausgestaltung des kommunalen Sozialsystems. Anders als im großbürgerlich geführten Hamburg achtete der Münchner Stadtrat peinlichst genau darauf, die Zahl der unterstützungsberechtigten Stadteinwohner*innen möglichst gering zu halten und Ortsfremde im Bedarfsfall nach Hause zu schicken. Überdies pflegte man bis ins letzte Jahrhundertdrittel hinein, die Kosten über eine gesonderte Mietsteuer umzulegen, die jeden in München Wohnenden, sei er nun in der Stadt verbürgert oder nicht, an der Finanzierung des Armenwesens beteiligte, eines Armenwesens, das freilich nur der verbürgerten Einwohnerschaft zugutekam.

Entfaltung des sozialen Vereinswesens

Wenn das Stadtbürgertum sich wie im Münchner Beispiel als Träger öffentlicher Wohlfahrt weitgehend verweigerte, wer kümmerte sich dann um die Hilfsbedürftigen in der Stadt? Die deutliche Ausgrenzung eines Großteils der Einwohner*innen der Städte aus der sozialen Fürsorge öffnete Raum für private soziale Tätigkeit, die nicht nach dem Bürgerrecht der Hilfsbedürftigen fragte. Ein intensiv betriebenes soziales Vereinswesen entwickelte sich in den Großstädten. Neben den konfessionellen Vereinen waren es vor allem konfessionsübergreifende Frauenvereine, die sich der sozialen Hilfstätigkeit annahmen. Anders als im geselligen Verein konnten hier Frauen generell vollberechtigte Mitglieder werden.

Auch die staatlichen Behörden scheinen in Sachen kommunaler Wohlfahrt im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr auf die private, die Stadtgrenzen sprengende soziale Vereinstätigkeit gesetzt zu haben. Zunehmend stützte man sich dabei auf weibliches soziales Engagement. In Württemberg hatte bereits 1816 die frisch gekrönte Königin von Württemberg, Katharina, einen Kreis von adeligen und bildungsbürgerlichen Männern und Frauen zusammengerufen, um Pläne weiterzuentwickeln, einen Wohltätigkeitsverein zu schaffen. Der schließlich institutionalisierte Verein versammelte neben weiblichen Angehörigen des Adels und des Bildungsbürgertums Staatsbeamte, Pfarrer und Vorsteher von Armenanstalten. Der von der Königin selbst geleitete Verein stand mit seiner Ausrichtung konträr zur öffentlichen Armenversorgung, die bis zur Reichsgründung am Prinzip der Herkunftsgemeinde als Unterstützungsgemeinde festhielt. 1818 zählte man bereits 1.665 Lokalwohltätigkeitsvereine; das heißt der Verein dürfte in jeder größeren Gemeinde vorhanden gewesen sein und ehrenamtliche soziale Unterstützung am Stadtbürgerrecht vorbei koordiniert haben.

In Baden beispielsweise nutzten die staatlichen Initiatoren wenige Jahrzehnte später systematisch und geschickt die brachliegende weibliche bürgerliche Ressource. 1859 initiierte die Tochter des preußischen Königs und badische Großherzogin Luise mit dem zentral von Karlsruhe aus koordinierten und in jeder größeren badischen Gemeinde vertretenen Badischen Frauenverein ein weitverzweigtes privates Wohlfahrtssystem, das alle Bereiche später vom öffentlichen Fürsorgesystem übernommener sozialer Hilfstätigkeit umfasste. Über die private Hilfstätigkeit hinausgehend, entwickelte der Badische Frauenverein schließlich zunehmend Aktivitäten, die auf eine Förderung von Frauen ärmerer Kreise in Bildung und Beruf ausgerichtet waren, und er rekrutierte mehr oder weniger das gesamte weibliche Bürgertum des Landes. Von den Erfahrungen der Landesfürstinnen mit der Nutzung weiblicher bürgerlicher Nächstenliebe führte eine direkte Linie zur sich allmählich überall durchsetzenden Einbindung von Frauen in die kommunale Wohlfahrtsarbeit.

Mütter für den Staat – Sozialarbeit als Legitimation politischer Teilhabe

An das lange vorbereitete und gesellschaftlich akzeptierte soziale Betätigungsfeld für Frauen knüpfte die bürgerliche Frauenbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgreich an. Vielerorts schossen selbstständige Frauenvereine aus dem Boden, die sich gleichermaßen für die Verbesserung der Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten von Frauen einsetzten, Rechts- oder Sexualberatung betrieben und/oder soziale Aufgaben übernahmen. Vor dem Hintergrund der Defizite im kommunalen und staatlichen Sozialwesen organisierte die Frauenbewegung in hohem Maße außerhäusliche Sozialarbeit und unterstrich öffentlich, in den Medien der Frauenbewegung, aber auch in den "allgemeinen" Zeitungen die Fürsorge-Expertise speziell von Frauen. Das Kaiserliche Statistische Amt zählte 1908 über 7.000 vaterländische, konfessionelle und "bürgerliche" selbstständige Frauenortsvereine. 60 Prozent von ihnen verstanden sich primär als soziale oder karitative Organisationen. Insgesamt umfassten sie 5,4 Prozent der über 18-jährigen Einwohnerinnen des Kaiserreiches.

Nicht zuletzt trug die Frauenbewegung zur Professionalisierung von Sozialberufen bei. Als einflussreiche Initiatorin für die Gründung sozialer Frauenschulen erwies sich insbesondere Alice Salomon (1872–1948), seit 1906 im engeren Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF). Geschickt verbanden die Agitatorinnen ihr Engagement in Sachen Frauenrechte und Sozialarbeit mit dem Anspruch auf erweiterte (gesellschafts)politische Teilhabe. Typisch ist ein Beitrag der langjährigen Schriftführerin des BDF, Alice Bensheimer (1864–1935), in der bewegungseigenen Zeitschrift "Die Frau": Frauen, ausgegrenzt aus stadtbürgerschaftlicher Mitverantwortung, sollten sich Einblick und Kenntnis sozialer Fragen in der ehrenamtlichen Vereinsarbeit erwerben. Auf solchermaßen geschulte Kräfte würden die Kommunalverwaltungen im Bedarfsfall gerne zurückgreifen, "und es müsste mit Wunderdingen zugehen", wenn nicht über kurz oder lang Frauen im Dienst der städtischen Verwaltung ihren Platz einnehmen könnten. Über kommunales Ehrenamt und praktische Tätigkeit führe schließlich ein direkter Weg zur beruflichen Professionalisierung und zum Erwerb des kommunalen und allgemeinen Wahlrechts. Zur Hochform in Sachen Sozialarbeit liefen die Frauenvereine im Ersten Weltkrieg auf, als sie mit großem Eifer die Heimatfront, interpretiert als soziale Aufgabe, organisierten.

Frauenbewegung und Sozialarbeit nach 1919

Insgesamt fehlt es noch immer an Untersuchungen, die den langen Weg der von der Frauenbewegung getragenen Sozialarbeit über deren Kommunalisierung beziehungsweise Verstaatlichung in der Weimarer Republik und die Vereinnahmung ihrer Institutionen im Nationalsozialismus bis zu ihrer Marginalisierung in der frühen Bundesrepublik systematisch verfolgen.

Dass mit dem Beginn der Weimarer Republik die Frauenbewegung sich eigentlich am Ziel ihrer Wünsche angelangt sehen konnte – schließlich war das Frauenstimmrecht endlich errungen – lag für nicht wenige ihrer Unterstützerinnen auf der Hand. Die hieraus folgenden Legitimationsprobleme schlugen sich in Verbindung mit den wirtschaftlichen und politischen Krisen der nachfolgenden Jahre in einem allmählichen Bedeutungsverlust der bürgerlichen Frauenbewegung nieder. Nicht selten war damit auch die Schwächung ihrer Richtlinienkompetenzen über die von ihnen geschaffenen sozialen Einrichtungen verbunden. Als Beispiel mag der besonders im Süden und Südwesten des Kaiserreiches aktive Verein Frauenbildung – Frauenstudium dienen. In Mannheim beispielsweise trug der Verein organisatorisch und finanziell die 1916 von reichsweit bekannten Frauenrechtlerinnen – Julie Bassermann (1860–1940), Alice Bensheimer, Marie Bernays (1883–1939) und Elisabeth Altmann-Gottheiner (1874–1930) – gegründete Soziale Frauenschule. Sie bildete in zweijährigen Kursen Frauen für soziale Berufe aus. 1921 erhielt die Einrichtung die staatliche Anerkennung. Aber unter den wirtschaftlich schwierigen Bedingungen der Weimarer Republik war die Soziale Frauenschule auf öffentliche Unterstützung angewiesen. 1928 wurde sie von der Kommune übernommen. Es ist zu vermuten, dass ab diesem Zeitpunkt die Frauenrechtlerinnen zumindest nicht mehr allein über den Lehrstoff der Schule entschieden. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde die Soziale Frauenschule gleichgeschaltet und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt eingegliedert. In der Nachkriegszeit war es die Arbeiterwohlfahrt, die in Mannheim erneut ein Seminar für Sozialberufe gründete. In der Folge von der Kommune übernommen, mündete die Einrichtung mit ihrer wechselvollen Geschichte in die 1972 eingerichtete Fachhochschule für Sozialwesen.

Nicht nur die sozialen Einrichtungen und zugehörigen Ausbildungsstätten der Frauenbewegung erlebten solche Traditionsbrüche. Auch die entsprechenden Einrichtungen der staatstragenden vaterländischen Frauenvereine erlitten das gleiche Schicksal. So hatte beispielsweise der Badische Frauenverein 1908 stattliche 76.000 Unterstützer*innen aufzuweisen. Seine große Zeit war nach dem Ersten Weltkrieg mit der Gründung der Weimarer Republik und dem Ende der Monarchie jedoch vorbei. Nun seiner landesfürstlichen Führung beraubt und vollständig eingegliedert in das Rote Kreuz, begann der Verein zunehmend sein eigenständiges Profil und seine Mitglieder zu verlieren. Viele der von seinen Zweigvereinen aufgebauten sozialen und medizinischen Einrichtungen übernahmen nach und nach die Kommunen in öffentlicher Trägerschaft. Während des Nationalsozialismus als Untergliederung des Roten Kreuzes wie der Dachverband gleichgeschaltet, "arisiert" und in erster Linie auf kriegsbegleitende und -vorsorgende Dienste verpflichtet, verlor der Badische Frauenverein 1934 seine organisatorische Selbstständigkeit. Ende 1937 wurde er zwangsaufgelöst. Es scheint keine ernsthaften Bestrebungen gegeben zu haben, ihn nach dem Ende der Diktatur wieder aufleben zu lassen. Sein Vermögen und seine für weibliche Wohlfahrtsarbeit explizit ausgewiesenen Immobilien blieben "geschlechtsneutral" im Besitz des nun wieder eigenständigen Roten Kreuzes.

Auch den Nationalsozialismus und die Kriegszeit überlebenden Frauenrechtlerinnen gelang nur im begrenzten Maß der Anschluss an die Bonner Demokratie. Offenbar konnten nach 1945 die in die Jahre gekommenen Repräsentantinnen der traditionellen bürgerlichen Frauenbewegung endgültig den Dreiklang von frauenrechtlerischem Engagement, Sozialarbeit und Anspruch auf politische Partizipation nicht mehr beleben. Dies lässt sich anhand der Frauenvereine zeigen, die im 19. Jahrhundert gegründet, die schwierigen Jahre der Weimarer Republik und sogar die Diktatur überlebt hatten. Als Beispiel mag der Münchner Verein für Fraueninteressen (VfFI) dienen.

Der 1894 gegründete Verein lässt sich als Initiator und Zentrum der bayerischen Frauenbewegung interpretieren. Unter der Leitung von Ika Freudenberg (1858–1912) entwickelte sich der VfFI zum bedeutsamen Akteur der Wohlfahrtspflege in München mit Ausstrahlungskraft auf ganz Bayern. Der Verein interpretierte im Ersten Weltkrieg – ganz im Sinne der reichsweiten bürgerlichen Frauenbewegung – Sozialarbeit als nationale, weibliche Aufgabe und trug damit zur Erweiterung der Handlungsspielräume von Frauen und zur Professionalisierung von Sozialer Arbeit bei. Auch nach der Revolution und der Einführung des Frauenstimmrechts 1919 setzte der VfFI auf weibliche Fürsorgekompetenz als Legitimation für politische Mitsprache. Der Verein konnte überraschenderweise seine Selbstständigkeit über die NS-Diktatur hinweg zumindest formal bewahren, musste aber nach 1933 seine Fürsorgeexpertise in den Dienst der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt stellen. Zwar gelang es ihm in der Nachkriegszeit unter Führung von Dorothee von Velsen (1883–1970) erneut, sich in die Frauenbewegung, nun in den Deutschen Frauenring, zu integrieren. Doch die alten Damen der bürgerlichen Frauenbewegung schafften es nicht, jüngere Frauengenerationen für das traditionelle Projekt Frauenrechte und Sozialarbeit zu erwärmen. Die Forderung nach weiblicher politischer Partizipation, nun interpretiert als demokratisches Programm ohne erkennbare feministische Perspektive, war offenbar genauso wenig werbewirksam wie die stete Beschwörung der spezifischen weiblichen Kompetenzen in Sachen Wohlfahrtsarbeit. Dass die Repräsentantinnen der alten Frauenbewegung überdies am tradierten bürgerlichen Familien- und Mütterlichkeitskonzept festhielten, machte die neue alte Frauenbewegung zwar anschlussfähig an das restaurative gesellschaftspolitische Klima der Nachkriegsjahre, beförderte aber auch die zeittypischen Tendenzen, Frauenhandeln zwar nah an sozialer Hilfstätigkeit zu verorten, diese aber der Privatsphäre zuzuordnen.

Offensichtlich ließen sich weibliche soziale Kompetenzen nach 1945 nicht mehr als Argument benutzen, um weibliche Handlungsspielräume zu erweitern. Dies belegt auch eine Medienanalyse. Den bürgerlichen Frauenvereinen im 19. Jahrhundert war es gelungen, sich selbst in den Medien außerhalb der eigenen Bewegung als Expert*innen in sozialen Fragen zu platzieren, und nach 1945 suchte die auferstandene Frauenbewegung das alte Argumentationsmuster zumindest in den frauenspezifischen Zeitungen – so etwa in der "Welt der Frau" oder in den "Informationen für die Frau" – erneut zu besetzen. Doch die postulierte Symbiose von sozialer Kompetenz und Frauenrechten traf auf wenig Resonanz in anderen Medien. Am Beispiel des "Spiegel" lässt sich zeigen, dass der Zugang der Frauenverbände zur massenmedialen Öffentlichkeit stark eingeschränkt war und daher ihre Forderungen und Argumente kaum Eingang in die medialen Diskurse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft fanden. Auch das nur selten behandelte Thema Sozialarbeit wurde nicht im Kontext weiblicher Kompetenzen oder gar feministischer Forderungen verortet.

Wie lässt sich diese Entwicklung deuten? Auf den ersten Blick mag der vielbeschworene Rückzug ins Private der jüngeren Nachkriegsgenerationen den Rückgang der bürgerlichen Frauenbewegung beziehungsweise den Fehlschlag erklären, sie erneut über ihre sozialen Kompetenzen in die aktuellen politischen Debatten einzuschreiben. Aber auch die rasch die Öffentlichkeit beherrschenden Debatten über den "Kalten Krieg" verdrängten die akuten sozialen Fragen. Die Marginalisierung einer auf sozialer Tätigkeit fußenden alten/neuen Frauenbewegung mag überdies durch den gesellschaftlichen Umgang mit Entnazifizierungsfragen befördert worden sein. In der jungen Nachkriegsdemokratie im Wiederaufbau wurden Entnazifizierungsdebatten und -notwendigkeiten gerne "vergessen". Diese hätten freilich den Trägern und Institutionen etwa von Justiz und Medizin. aber auch der Sozialarbeit gutgetan, waren doch zahlreiche soziale Einrichtungen während des Nationalsozialismus in die Herstellung des "erbgesunden arischen" Wunschdeutschen eingebunden. Wenn es in der Nachkriegsära gesellschaftlich konsensfähig war, dieses düstere Kapitel unerwähnt zu lassen, dann ist es wohl wenig verwunderlich, dass das mediale Interesse an einer auf ihre sozialen Kompetenzen pochenden Frauenbewegung gering ausfiel. Erst die Neue Frauenbewegung der 1970er Jahre knüpfte erfolgreich an die alten Debatten der Frauenbewegung an – nicht selten, ohne ihre Vorläufer*innen zu kennen. Ihr Slogan "Das Private ist politisch" lässt sich durchaus als moderne Variante des Forderungskatalogs der alten Frauenbewegung verstehen. Schließlich war sie es gewesen, die erstmals aus der privat organisierten sozialen Arbeit politische Partizipationsrechte für die Träger*innen der "Care-Arbeit" abgeleitet hatte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Judas Isaac Fürst, Beiträge zur Verbesserung der Armen- und Krankenpflege mit vorzüglicher Absicht auf die Stadt Berlin, Berlin 1820, S. III.

  2. Vgl. Detlev Duda, Die Hamburger Armenfürsorge im 18. und 19. Jahrhundert. Eine soziologisch-historische Untersuchung, Weinheim 1982.

  3. Vgl. Martin Krauss, Armenwesen und Gesundheitsfürsorge in Mannheim vor der Industrialisierung 1750–1850/60, Sigmaringen 1993.

  4. Vgl. Michael Doege, Armut in Preußen und Bayern (1770–1840), München 1991.

  5. Vgl. Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 19982, S. 222–244.

  6. Vgl. Senta Herkle, "Für alle Zeiten mit vereinten Kräften dem menschlichen Elend […] entgegentreten." Die Gründung der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins in Württemberg 1817, in: Sabine Holtz (Hrsg.), Hilfe zur Selbsthilfe: 200 Jahre Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg, Baden-Baden 2016, S. 10–23.

  7. Vgl. Kerstin Lutzer, Der Badische Frauenverein 1859–1918. Rotes Kreuz, Fürsorge und Frauenfrage, Stuttgart 2002.

  8. Vgl. u.a. Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Opladen 1994; Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt/M. 2001; Irene Stoehr, "Organisierte Mütterlichkeit". Zur Politik der deutschen Frauenbewegung um 1900, in: Karin Hausen (Hrsg.), Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983, S. 221–249.

  9. Vgl. Susanne Kinnebrock/Désirée Dörner, Teilhabe durch Fürsorge? Die Mediendebatte über bürgerliche Freiheits- und Wahlrechte für Frauen im deutschen Kaiserreich, in: Ricarda Drüeke et al. (Hrsg.), Kommunikationswissenschaftliche Gender Studies. Zur Aktualität kritischer Gesellschaftsanalyse, Bielefeld 2018, S. 199–214.

  10. Vgl. Statistik der Frauenorganisationen im Deutschen Reiche, bearbeitet im Kaiserlichen Statistischen Amte, Berlin 1909, S. 17.

  11. Vgl. Peter Hammerschmidt, Die bürgerliche Frauenbewegung und die Entwicklung der sozialen Arbeit zum Beruf: Ein Überblick, in: Constanze Engelfried/Corina Voigt-Kehlenbeck (Hrsg.), Gendered Profession: Soziale Arbeit vor neuen Herausforderungen in der zweiten Moderne, Wiesbaden 2010, S. 25–42.

  12. Alice Bensheimer, Die Frau im Dienst der Gemeinde, in: Die Frau 15/1908, S. 193–199, hier S. 195.

  13. Vgl. Elke Schüller, Westdeutsche Frauenorganisationen der Nachkriegszeit. Ein "missing link" zwischen alter und neuer Frauenbewegung, in: Anja Weckwert/Ulla Wischermann (Hrsg.), Das Jahrhundert des Feminismus. Streifzüge durch nationale und internationale Bewegungen und Theorien, Königstein/Ts. 2006, S. 171–182; Marianne Zepp, Redefining Germany: Women’s Politics in the Post-War US Occupation Zone, in: Ville Kivimäki/Petri Karonen (Hrsg.), Continued Violence and Troublesome Pasts. Post-war Europe between the Victors after the Second World War, Helsinki 2017, S. 63–84.

  14. Vgl. Sylvia Schraut, Angekommen im demokratisierten "Männerstaat"? Weibliche Geschichte(n) in der Weimarer Republik, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 73–74/2018, S. 8–18.

  15. Vgl. dies., Der Badische Frauenverein 1859–1937. "Gemeinnützige Zwecke, welche sich für Frauenthätigkeit eignen", in: Reinhold Weber/Peter Steinbach/Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Baden-württembergische Erinnerungsorte, Stuttgart 2012, S. 368–377.

  16. Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Ergebnissen des interdisziplinären Projekts "Mütter für den Staat: Weiblich konnotierte Sozialarbeit als historisches Legitimationsmuster auf dem Weg zur Gleichberechtigung (1890–1919/1945–1960)", das im Rahmen des Bayerischen Forschungsverbunds ForGenderCare von 2015 bis 2019 stattfand. Es wurde von Susanne Kinnebrock und Sylvia Schraut geleitet und von Andre Dechert, Désirée Dörner und Mirjam Höfner umgesetzt.

  17. Vgl. Mirjam Höfner, Fürsorge und Frauenfrage um 1900. Mannheim und München im Vergleich, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 2018, S. 407–425.

  18. Vgl. dies., Motherliness and Women’s Emancipation in the Published Articles of Ika Freudenberg (1858–1912). A Discursive Approach, in: Pınar M.Y. Parmaksız/Simone Bohn (Hrsg.), Mothers in Public and Political Life, Bradford 2017, S. 97–117.

  19. Vgl. Andre Dechert/Susanne Kinnebrock, Care – Ein höchst ambivalentes Legitimationsmuster für Gleichberechtigung, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 75/2019, S. 90–107.

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ist Historikerin und emeritierte Professorin an der Universität der Bundeswehr München.