"Wir fühlen die Aufforderung in uns, unsere Nebenmenschen von Übeln zu befreien, aus welchen sie allein sich nicht helfen können, wir geben oft dadurch Familien Einen der Ihrigen wieder; wir setzen dadurch oft Menschen in den Stand, die Mittel zu ihrer und der Ihrigen Ernährung zu erwerben, mit welcher sie sonst ihrer Gemeinde zur Last fallen würden, wir erhalten oft dadurch der Gemeinde und dem Staate nützliche Mitglieder, die ohne unser Zutun ihrem Elende erliegen würden; und endlich verhüten, oder vermindern wir wenigstens, durch dieselbe Verbreitung ansteckender Krankheiten."
Mit seiner Mischung aus bürgerlichem Sozialpathos und pragmatischer Kosten-Nutzen-Rechnung veranschaulicht dieses Zitat zur Rechtfertigung der Armen-Krankenpflege Berlins im Jahr 1820 eine der zentralen Problemlagen des 19. Jahrhunderts: Wie mit der wachsenden Zahl Armer, Kranker und Hilfsbedürftiger umgehen, die nicht (mehr) mit familiärer Unterstützung rechnen konnten? Diese auch nur notdürftig zu versorgen, brachte die traditionelle kirchliche Nächstenliebe an ihre Grenzen. Angesichts von beginnender und im Laufe des 19. Jahrhunderts sich entfaltender Industrialisierung und Urbanisierung waren auch die Kommunen zunehmend damit überfordert, "ihre" Armen und Hilfsbedürftigen zu unterstützen. Soziale Leistungen für die zugezogenen, nicht aus der Gemeinde stammenden Ortsfremden verweigerten sie ohnehin. Zugleich waren die deutschen Fürsten in ihren Herrschaftsgebieten darum bemüht, Rechts-, Verwaltungs- und Bildungssysteme zu vereinheitlichen und zu modernisieren. "Die" Staatsbürger*in vor Augen wandte sich die staatliche Aufmerksamkeit mehr und mehr dem Sozialwesen zu. Doch die materiellen Ressourcen der sich entfaltenden modernen Staaten reichten nicht dazu aus, "die" Staatsbürger*in im Krisenfall zu versorgen. Wie also den sozialen Problemen Herr werden? Seit den 1830er Jahren debattierte eine aufgeklärte bürgerliche Öffentlichkeit intensiv über Pauperismus und die Verelendung breiter Bevölkerungskreise. Zum bürgerlichen Selbstverständnis gehörte öffentliches Engagement in Wohlfahrtsfragen schlichtweg dazu.
Kommunale Selbstverwaltung und die Entfaltung des öffentlichen Sozialwesens
Als Dreh- und Angelpunkt des Wohlfahrtsproblems erwies sich die Frage, welche kommunale oder staatliche Instanz im Falle von Krankheit und Hilfsbedürftigkeit für die Unterstützung der Betroffenen zuständig sei. Traditionell und bis ins 19. Jahrhundert hineinreichend, war die Armenversorgung durch ein Mischsystem von kommunaler und kirchlicher Fürsorge gewährleistet worden. Wie beim Bürgerrecht und in der gemeindlichen Selbstverwaltung gestalteten sich die Rechtsverhältnisse in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes jedoch äußerst unterschiedlich. In Bayern beispielsweise herrschte nahezu bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das Heimatrecht. Ortsfremde Hilfsbedürftige wurden in ihre Herkunftsgemeinde zurückgeführt. Auch in anderen Staaten, so in Württemberg oder Sachsen, galt bis 1870 das Heimatrecht. In Preußen und auch in Baden versuchte der Staat zunehmend, die Kommunen für die Armen- und Krankenversorgung aller Einwohner*innen verantwortlich zu machen. Das preußische Gesetz über den Unterstützungswohnsitz führte nach 1842 zu entsprechenden Regelungen: Es galt als Vorbild für zahlreiche andere Staaten, und es wurde 1871 auf das Deutsche Reich mit Ausnahme Bayerns übertragen. Das Recht, von der Wohngemeinde Unterstützung zu erhalten, galt nach der Gesetzeslage Preußens und später des Reichs freilich erst nach zweijährigem ununterbrochenem Aufenthalt in der Wohngemeinde. Die Reichweite des Gesetzes sollte daher nicht überschätzt werden. Gerade die große Masse der in der Industrialisierung von Stadt zu Stadt wandernden Arbeitssuchenden blieb nach wie vor aus dem Unterstützungsrecht ausgeschlossen.
Jenseits der staatlichen Rechtslage lag es über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg im Bestreben der Städte, die Kosten für das Sozialwesen gering zu halten. Dies schien möglich, indem man die kommunale Hilfe zu begrenzen versuchte und die Zahl der Unterstützungsberechtigten möglichst klein hielt. Eine Fülle theoretischer Erörterungen über Armutslagen und mögliche Hilfsmaßnahmen wurde bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts publiziert. Auf welche Weise sollten Bedürftige unterstützt werden? Welcher Einwohnerkreis sollte über das Ausmaß der Sozialleistungen und die Größe des betroffenen Personenkreises entscheiden? Die Antworten vor Ort belegen, wie eng städtisches Bürgerrecht, kommunales Wahlrecht und die Zusammensetzung der städtischen Führungseliten mit der Ausgestaltung der öffentlichen Sozialsysteme verwoben waren. Dies lässt sich zum Beispiel am Sozialwesen in Hamburg, Mannheim und München veranschaulichen.
In der alten Hansestadt Hamburg regierten bis 1860 die Senatsmitglieder auf Lebenszeit, und sie kooptierten sich neue Mitglieder aus dem Handels- und Besitzbürgertum, ohne ein diesbezügliches Mitspracherecht der Bürgerschaft.
Dagegen stand das Armensystem von Mannheim zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor dem Ruin.
Innovationsfreudigkeit gehörte während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht zu den Merkmalen des Sozialsystems Münchens. In der süddeutschen Metropole fielen eine durch Handel und Gewerbe geprägte Bürgerstadt mit der monarchisch überformten Hauptstadt eines Territoriums zusammen. Der Stadtrat wurde indes von der großen Zahl mittelständischer selbstständiger Gewerbetreibender mit Hausbesitz dominiert. Sie bestimmten die Ausgestaltung des kommunalen Sozialsystems. Anders als im großbürgerlich geführten Hamburg achtete der Münchner Stadtrat peinlichst genau darauf, die Zahl der unterstützungsberechtigten Stadteinwohner*innen möglichst gering zu halten und Ortsfremde im Bedarfsfall nach Hause zu schicken.
Entfaltung des sozialen Vereinswesens
Wenn das Stadtbürgertum sich wie im Münchner Beispiel als Träger öffentlicher Wohlfahrt weitgehend verweigerte, wer kümmerte sich dann um die Hilfsbedürftigen in der Stadt? Die deutliche Ausgrenzung eines Großteils der Einwohner*innen der Städte aus der sozialen Fürsorge öffnete Raum für private soziale Tätigkeit, die nicht nach dem Bürgerrecht der Hilfsbedürftigen fragte. Ein intensiv betriebenes soziales Vereinswesen entwickelte sich in den Großstädten. Neben den konfessionellen Vereinen waren es vor allem konfessionsübergreifende Frauenvereine, die sich der sozialen Hilfstätigkeit annahmen.
Auch die staatlichen Behörden scheinen in Sachen kommunaler Wohlfahrt im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr auf die private, die Stadtgrenzen sprengende soziale Vereinstätigkeit gesetzt zu haben. Zunehmend stützte man sich dabei auf weibliches soziales Engagement. In Württemberg hatte bereits 1816 die frisch gekrönte Königin von Württemberg, Katharina, einen Kreis von adeligen und bildungsbürgerlichen Männern und Frauen zusammengerufen, um Pläne weiterzuentwickeln, einen Wohltätigkeitsverein zu schaffen.
In Baden beispielsweise nutzten die staatlichen Initiatoren wenige Jahrzehnte später systematisch und geschickt die brachliegende weibliche bürgerliche Ressource. 1859 initiierte die Tochter des preußischen Königs und badische Großherzogin Luise mit dem zentral von Karlsruhe aus koordinierten und in jeder größeren badischen Gemeinde vertretenen Badischen Frauenverein ein weitverzweigtes privates Wohlfahrtssystem, das alle Bereiche später vom öffentlichen Fürsorgesystem übernommener sozialer Hilfstätigkeit umfasste.
Mütter für den Staat – Sozialarbeit als Legitimation politischer Teilhabe
An das lange vorbereitete und gesellschaftlich akzeptierte soziale Betätigungsfeld für Frauen knüpfte die bürgerliche Frauenbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgreich an.
Nicht zuletzt trug die Frauenbewegung zur Professionalisierung von Sozialberufen bei. Als einflussreiche Initiatorin für die Gründung sozialer Frauenschulen erwies sich insbesondere Alice Salomon (1872–1948), seit 1906 im engeren Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF).
Frauenbewegung und Sozialarbeit nach 1919
Insgesamt fehlt es noch immer an Untersuchungen, die den langen Weg der von der Frauenbewegung getragenen Sozialarbeit über deren Kommunalisierung beziehungsweise Verstaatlichung in der Weimarer Republik und die Vereinnahmung ihrer Institutionen im Nationalsozialismus bis zu ihrer Marginalisierung in der frühen Bundesrepublik systematisch verfolgen.
Dass mit dem Beginn der Weimarer Republik die Frauenbewegung sich eigentlich am Ziel ihrer Wünsche angelangt sehen konnte – schließlich war das Frauenstimmrecht endlich errungen – lag für nicht wenige ihrer Unterstützerinnen auf der Hand.
Nicht nur die sozialen Einrichtungen und zugehörigen Ausbildungsstätten der Frauenbewegung erlebten solche Traditionsbrüche. Auch die entsprechenden Einrichtungen der staatstragenden vaterländischen Frauenvereine erlitten das gleiche Schicksal.
Auch den Nationalsozialismus und die Kriegszeit überlebenden Frauenrechtlerinnen gelang nur im begrenzten Maß der Anschluss an die Bonner Demokratie. Offenbar konnten nach 1945 die in die Jahre gekommenen Repräsentantinnen der traditionellen bürgerlichen Frauenbewegung endgültig den Dreiklang von frauenrechtlerischem Engagement, Sozialarbeit und Anspruch auf politische Partizipation nicht mehr beleben.
Der 1894 gegründete Verein lässt sich als Initiator und Zentrum der bayerischen Frauenbewegung interpretieren. Unter der Leitung von Ika Freudenberg (1858–1912) entwickelte sich der VfFI zum bedeutsamen Akteur der Wohlfahrtspflege in München mit Ausstrahlungskraft auf ganz Bayern.
Offensichtlich ließen sich weibliche soziale Kompetenzen nach 1945 nicht mehr als Argument benutzen, um weibliche Handlungsspielräume zu erweitern. Dies belegt auch eine Medienanalyse. Den bürgerlichen Frauenvereinen im 19. Jahrhundert war es gelungen, sich selbst in den Medien außerhalb der eigenen Bewegung als Expert*innen in sozialen Fragen zu platzieren, und nach 1945 suchte die auferstandene Frauenbewegung das alte Argumentationsmuster zumindest in den frauenspezifischen Zeitungen – so etwa in der "Welt der Frau" oder in den "Informationen für die Frau" – erneut zu besetzen. Doch die postulierte Symbiose von sozialer Kompetenz und Frauenrechten traf auf wenig Resonanz in anderen Medien. Am Beispiel des "Spiegel" lässt sich zeigen, dass der Zugang der Frauenverbände zur massenmedialen Öffentlichkeit stark eingeschränkt war und daher ihre Forderungen und Argumente kaum Eingang in die medialen Diskurse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft fanden. Auch das nur selten behandelte Thema Sozialarbeit wurde nicht im Kontext weiblicher Kompetenzen oder gar feministischer Forderungen verortet.
Wie lässt sich diese Entwicklung deuten? Auf den ersten Blick mag der vielbeschworene Rückzug ins Private der jüngeren Nachkriegsgenerationen den Rückgang der bürgerlichen Frauenbewegung beziehungsweise den Fehlschlag erklären, sie erneut über ihre sozialen Kompetenzen in die aktuellen politischen Debatten einzuschreiben. Aber auch die rasch die Öffentlichkeit beherrschenden Debatten über den "Kalten Krieg" verdrängten die akuten sozialen Fragen. Die Marginalisierung einer auf sozialer Tätigkeit fußenden alten/neuen Frauenbewegung mag überdies durch den gesellschaftlichen Umgang mit Entnazifizierungsfragen befördert worden sein. In der jungen Nachkriegsdemokratie im Wiederaufbau wurden Entnazifizierungsdebatten und -notwendigkeiten gerne "vergessen". Diese hätten freilich den Trägern und Institutionen etwa von Justiz und Medizin. aber auch der Sozialarbeit gutgetan, waren doch zahlreiche soziale Einrichtungen während des Nationalsozialismus in die Herstellung des "erbgesunden arischen" Wunschdeutschen eingebunden. Wenn es in der Nachkriegsära gesellschaftlich konsensfähig war, dieses düstere Kapitel unerwähnt zu lassen, dann ist es wohl wenig verwunderlich, dass das mediale Interesse an einer auf ihre sozialen Kompetenzen pochenden Frauenbewegung gering ausfiel. Erst die Neue Frauenbewegung der 1970er Jahre knüpfte erfolgreich an die alten Debatten der Frauenbewegung an – nicht selten, ohne ihre Vorläufer*innen zu kennen. Ihr Slogan "Das Private ist politisch" lässt sich durchaus als moderne Variante des Forderungskatalogs der alten Frauenbewegung verstehen. Schließlich war sie es gewesen, die erstmals aus der privat organisierten sozialen Arbeit politische Partizipationsrechte für die Träger*innen der "Care-Arbeit" abgeleitet hatte.