Wegen der Corona-Pandemie wurden Care-Arbeiterinnen und -Arbeiter plötzlich als unverzichtbar für das Funktionieren der Gesellschaft wahrgenommen. Ärztinnen und Ärzte und medizinisches Personal wurden für ihre harte Arbeit gelobt, die sie trotz des hohen Infektionsrisikos leisteten. Der Gesellschaft kamen auch die Pflegekräfte ins Bewusstsein, die zu Tausenden in Seniorenheimen und in der privaten Pflege arbeiten und normalerweise unsichtbar sind. Zusätzlich machte eine abrupte Schließung der Grenzen deutlich, dass es sich bei den Pflegekräften oft um Arbeitsmigrantinnen und -migranten handelt, die aus den EU-Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa, aber auch von außerhalb der EU kommen. Einreisegarantien für Pflegekräfte wurden über Nacht zur Top-Priorität zwischenstaatlicher Verhandlungen, da in vielen wohlhabenderen europäischen Ländern ein akuter Mangel drohte.
Die Pandemie hat gezeigt, dass die offenen Grenzen im europäischen Schengen-Raum ein spezielles europäisches Grenzregime für Care-Arbeiterinnen und -Arbeiter geschaffen haben, das reichere EU-Länder insbesondere nutzen, um den "Nachschub" an gering entlohnten Pflegekräften sicherzustellen. Dies geschieht oft über Vermittlungsagenturen, die von älteren Menschen oder Familien, die es sich leisten können, beauftragt werden, oder die für Pflegeeinrichtungen tätig sind, in denen die Arbeitskosten gedrückt werden, um das Geschäft der Altenpflege profitabel zu machen. Wie kam es zu dieser Situation?
Von der stagnierenden Geschlechterrevolution zur verzerrten Emanzipation
Im 20. Jahrhundert vollzogen sich bedeutende Veränderungen in Hinblick auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft und die wirtschaftlichen und soziokulturellen Geschlechtermuster. Diese waren eng verbunden mit dem Übergang von der industriellen zur spätkapitalistischen Gesellschaft, allerdings werden ihre Bedeutung und Folgen in weiten Teilen vom gesellschaftlichen Kontext definiert. Die neu etablierte Norm der Doppelverdiener-Familie und die veränderte gesellschaftliche Stellung der Frau gingen nicht einher mit einer Sozialisierung der Verantwortlichkeit bei der Care- und Reproduktionsarbeit oder einer Umverteilung der Aufgaben vom privaten auf den öffentlichen Bereich. Auch die entsprechenden Veränderungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Sinne einer gleichmäßigeren Verteilung von Care- und Reproduktionsarbeit zwischen Männern und Frauen blieben aus.
Folgerichtig bezeichnet etwa die Soziologin Arlie Hochschild die gesellschaftlichen Veränderungen in der westlichen kapitalistischen Gesellschaft in Hinblick auf die Geschlechterrollen als "stalled gender revolution", als eine stagnierende Geschlechterrevolution.
Hinzu kommt, dass mit dem allmählichen Abbau des Wohlfahrtsstaates in Europa, der seit den 1990er Jahren und der Auflösung des ehemaligen Ostblocks zu einem dominierenden Trend geworden ist, die Unterstützung für öffentliche Einrichtungen zur Betreuung und Pflege zurückgegangen ist und man stattdessen auf den Markt setzte, der die Defizite beheben sollte. Care-Arbeit und gesellschaftliche Reproduktion werden nicht als allgemeingesellschaftliche Aufgabe betrachtet, sondern marktwirtschaftlichen Prinzipien unterworfen und bleiben Aufgabe der Privatpersonen und damit Teil des Privatsektors.
Auch die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung speziell der unbezahlten Care-Tätigkeiten, aber auch der Reproduktionsarbeit und Care-Arbeit allgemein haben sich nicht maßgeblich verändert. Was in der spätkapitalistischen Gesellschaft als sinnvolle und wertvolle Arbeit gilt, wird nach wie vor von dem begrenzten Verständnis von sinnvoller Arbeit als bezahlter Beschäftigung definiert; eine Vorstellung, die während der Etablierung des kapitalistischen Systems institutionalisiert wurde. Das Missverständnis, dass sozial nützliche Aktivitäten nur dann eine finanzielle Belohnung "verdienen", wenn sie im Rahmen einer bezahlten Beschäftigung ausgeübt werden, ist tief in den Strukturen unserer Gesellschaft verwurzelt.
Die Unterscheidung zwischen bezahlter produktiver und unbezahlter reproduktiver Arbeit ließ eine Hierarchie der bezahlten Arbeit entstehen. Die politische Ökonomie der gesellschaftlichen Reproduktion in der spätkapitalistischen Gesellschaft umfasst nicht nur, dass sorgende, erhaltende und reproduktive Arbeit, die vorwiegend von Frauen geleistet wird, zum Nutzen der Allgemeinheit unentgeltlich erfolgt, sondern auch, dass die bezahlte Care-Arbeit ökonomisch unterbewertet wird. Die soziale Reproduktion ist für die Gesellschaft unverzichtbar. Dennoch wird sie systematisch missachtet, entwertet und für selbstverständlich genommen. Und sie ist zunehmend an Migration gebunden, obwohl soziale Reproduktion viel mehr umfasst als die von Migrantinnen verrichtete Care-Arbeit.
Das Konzept der Grenzen und institutionalisierter Grenzregime ist entscheidend für die Entstehung und Bewahrung von Strukturen, in denen Care-Arbeit geringgeschätzt und schlecht entlohnt wird. Grenzen werden selektiv geöffnet, um den "Nachschub" an Care-Migrantinnen zu sichern. Gleichzeitig tragen die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Ländern und deren unterschiedliche Einbindung in die globale Ökonomie dazu bei, die tagtägliche Macht der Grenzen zu wahren, mit der Menschen kategorisiert werden, und die bestehende geopolitische Hierarchie zu erhalten. Grenzen sorgen dafür, dass Arbeitskräfte in Gestalt von Migranten verfügbar sind, aber nur unzureichend von der Gesellschaft aufgenommen werden und daher eine untergeordnete Stellung einnehmen.
Ich bezeichne diese Entwicklung als "verzerrte Emanzipation".
Grenzüberschreitender Care-Markt
Die geopolitischen Herausforderungen nach 1989 wirkten sich auch auf die europäische Care-Landschaft aus. Der Trend zu einer Ökonomisierung von Care ging Hand in Hand mit den Veränderungen des europäischen Grenzregimes. Die Auflösung des ehemaligen Ostblocks und die Erweiterung der EU in mehreren Schüben hatten zur Folge, dass sich die Bedeutung und Auswirkungen der europäischen Grenzen verschoben. Den Einwohnern der neuen EU-Mitgliedsstaaten bieten sich dank der Mobilität zusätzliche Möglichkeiten, doch auch Migrantinnen aus Nicht-EU-Ländern, die zuvor in einem makroökonomischen Block lebten, überqueren heute die Grenzen zwischen "Ost" und "West" und bilden so eine eigene Gruppe, die Reserve der billigen Arbeitskräfte. Aber auch innerhalb der EU entstehen durch das Grenzregime Strukturen mit schlecht bezahlten Care-Migrantinnen und -Migranten, die meist aus mittel- und osteuropäischen Ländern kommen. Daneben existiert das Narrativ von einem nach 1989 entstandenen "Europa ohne Grenzen". Der europäische grenzüberschreitende Care-Markt ist eine subtile Kombination aus Inklusion – innerhalb der EU durch den Zugang zum Arbeitsmarkt – und Exklusion, da bestimmte Regelungen zum Arbeitsschutz und Ansprüche auf Sozialleistungen nicht für alle gelten. Die Länder, die sich für Care-Migrantinnen und -Migranten geöffnet haben, haben institutionalisierte Mechanismen für den Einsatz billiger Arbeitskräfte geschaffen, die jedoch das transnationale Leben dieser Menschen, ihre sozialen Bedürfnisse und ihre Versorgung sowie ihre Verantwortung für die eigene Familie systematisch missachten. Zudem zeichnet sich bei der Care-Mobilität ein zunehmender Trend in die umgekehrte Richtung ab: So entscheiden sich etwa deutsche Seniorinnen und Senioren in zunehmendem Maße für eine Unterbringung in einem Seniorenwohnheim oder Pflegeheim in den tschechischen oder polnischen Grenzgebieten, die deutlich günstiger ist als die Betreuung in einem deutschen Heim.
Der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt für Care wird oft als Win-Win-Situation dargestellt, in der alte Menschen und Familien mit kleinen Kindern eine erschwingliche hochwertige Betreuung oder Unterstützung im Haushalt erhalten und Migrantinnen und Migranten eine Arbeit haben, die besser bezahlt ist als vergleichbare Tätigkeiten in ihrer Heimat. Doch tatsächlich wird damit eine rechtliche Situation geschaffen, in der strukturelle Ungleichheiten aufgrund der Nationalität bestehen und bestimmte Gruppen ausgeschlossen werden, obwohl gleichzeitig der Mythos eines egalitären und integrierten Europas heraufbeschworen wird. Hauptmerkmal dieses Systems sind die ökonomischen Ungleichheiten zwischen nah beieinanderliegenden Regionen, wodurch die Idee eines geeinten Europas untergraben wird.
Mitteleuropa ist ein typisches Beispiel für diese Dynamik. So liegt etwa die Tschechische Republik zwischen den beiden Polen der transnationalen politischen Ökonomie der sozialen Reproduktion. Während tschechische Frauen in den Nachbarländern (Deutschland und Österreich) als Care-Arbeiterinnen arbeiten, werden auch in Tschechien in zunehmendem Maße Care-Tätigkeiten von Migrantinnen übernommen, die überwiegend aus der Ukraine kommen.
Die Öffnung der Grenzen nach Westen sorgte in der Tschechischen Republik für einen Anstieg der temporären und dauerhaften Migration. Trotz der politischen Versprechungen, "den Westen bald einzuholen", bestehen immer noch erhebliche Unterschiede bei den Löhnen. Das hat zur Folge, dass die Care-Arbeit im Ausland, obwohl sie nach den Arbeitsmarktstandards im Zielland unterbezahlt ist, eine attraktive Verdienstmöglichkeit darstellt. Laut Eurostat beliefen sich 2019 die geschätzten Arbeitskosten pro Stunde in Tschechien auf 13,50 Euro, verglichen mit 34,70 Euro in Österreich oder 35,60 Euro in Deutschland.
Österreich und Deutschland zählen zu den Ländern mit der höchsten Zahl osteuropäischer sogenannter Live-Ins, die bei den Betreuten wohnen (60.000 bis 85.000 in Österreich, 300.000 bis 400.000 in Deutschland).
Fazit
Die politische Ökonomie der sozialen Reproduktion im globalen Kapitalismus erfordert Grenzen, aber auch deren selektive Öffnung. Sie benötigt Grenzen, die durchlässig und im Verschwinden begriffen, aber zugleich konkret sind und bestimmte Gruppen ausschließen. Angesichts der gegenwärtigen globalen Machthierarchien und der strukturell ungleichen Einbeziehung der Makroregionen in den globalen Kapitalismus verstärken und reproduzieren offene Grenzen, sofern keine tief greifenden strukturellen Veränderungen vorgenommen werden, die bestehenden Verwundbarkeiten und die Ausbeutung marginalisierter Migrantinnen und Migranten als verfügbare billige Arbeitskräfte. Die offenen Grenzen innerhalb des europäischen Schengen-Raumes sind Kennzeichen dieser Dynamik, die ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet, als die EU-Binnengrenzen abrupt geschlossen wurden, um die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus zu verhindern. Infolge der Anti-Corona-Maßnahmen fehlten in den reicheren EU-Ländern Care-Arbeiterinnen, aber auch saisonale Erntehelfer, die überwiegend aus mittel- und osteuropäischen Ländern kommen. Dadurch wurde der Mechanismus offengelegt, bei dem Freizügigkeit als Mittel fungiert, um die Mobilität der pendelnden Migrantinnen und Migranten auszunutzen, die Löhne zu drücken und mehr Profit zu erzielen.
Die europäischen Gewerkschaften, die Arbeitskräfte im Care-Sektor vertreten, nutzten die Situation in der Pandemie, um auf die prekären Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhne der migrantischen Care-Arbeiterinnen und Hausangestellten hinzuweisen.
Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen könnte den Care-Migrantinnen in ihrer jetzigen Lage helfen, sie wird jedoch nichts an den Ursachen des Widerspruchs der sozialen Reproduktion im globalen Kapitalismus ändern. Dazu wären tief greifende Veränderungen erforderlich, die die soziale Reproduktion in den Vordergrund stellen. Dann würden sich auch der Kontext und die Auswirkungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ändern, bei der die meisten Frauen in den heutigen spätkapitalistischen (westlichen) Gesellschaften nach wie vor im Nachteil sind. Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen müssen zwei institutionalisierte Voraussetzungen der spätkapitalistischen Gesellschaft angegangen werden. Zum einen muss das begrenzte Verständnis von sinnvoller Arbeit als bezahlter Beschäftigung und ihrer zentralen Bedeutung für unser Leben infrage gestellt werden. Zum anderen muss das (neo)liberale Ideal des in der spätkapitalistischen Gesellschaft vorherrschenden atomisierten Individualismus hinterfragt werden, der die kollektive Verpflichtung ignoriert, sich um unsere Mitmenschen zu kümmern. Wenn man gegen die Vorstellung angeht, nur bezahlte Arbeit sei eine sinnvolle Betätigung, ändert man auch die Auswirkungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auf das Leben der Frauen von heute. Es gibt die These, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen, das das finanzielle Einkommen von der bezahlten Beschäftigung abkoppelt, unter bestimmten Bedingungen die Ausrichtung auf die Lohnarbeit in unserer Gesellschaft abschwächen und so unsere Vorstellung von einer sinnvollen Betätigung erweitern könnte.