Mit dem Engagement in Afghanistan begab sich die Bundeswehr ab Ende 2001 in den teuersten, personalintensivsten, verlustreichsten und zweitlängsten Auslandseinsatz ihrer Geschichte. Insgesamt 93.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten dienten in den Missionen Operation Enduring Freedom (OEF) und International Security Assistance Force (ISAF) beziehungsweise ab 2015 der Resolute Support (RS). Der Großteil war in Kontingenten von bis zu 5.000 Soldatinnen und Soldaten für die ISAF im Einsatz. Sie sollte Afghanistan bis Ende 2014 „stabilisieren“. Zwei Monate nach dem Abzug der RS im Juni 2021 mussten die letzten westlichen Truppen das Land fluchtartig verlassen, als die Taliban Kabul einnahmen. Die Bilder des chaotischen Abzugs gruben sich ins kollektive Gedächtnis des Westens. Insgesamt ließen 54 deutsche Soldaten ihr Leben in dem Land.
Angesichts seiner Intensität und seines Umfangs stellt der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zweifellos den bisherigen Höhepunkt deutscher Auslandseinsätze dar. Doch bedeutet er insgesamt eine sicherheits- und verteidigungspolitische Zäsur für Deutschland? Der Beitrag vertritt die These, dass der Afghanistan-Einsatz insofern eine Zäsur ist, als er die Defizite der Bundeswehr und der sicherheitspolitischen Strategiefähigkeit Deutschlands offenbart hat. Doch erst die russische Besetzung der Krim im Februar 2014, die zeitlich etwa mit dem Ende des ISAF-Einsatzes zusammenfiel, und die vollständige russische Invasion acht Jahre später waren entscheidende Zäsuren, die ein Umdenken in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erzwangen.
Im Folgenden werden drei defizitäre Bereiche herausgearbeitet, die der Afghanistan-Einsatz offenbart hat. Erstens im Bereich der Strategie: Die Bundesregierungen hatten zwar ein Interesse daran, durch ihr Engagement in Afghanistan außenpolitische Bedeutung zu gewinnen beziehungsweise zu erhalten. Sie waren aber nicht in der Lage, daraus eine sinnvolle Strategie abzuleiten und – anders als die USA – das strategische Kernproblem des Afghanistan-Engagements zu erkennen. Zweitens waren die strukturellen Voraussetzungen der Bundeswehr hinsichtlich ihrer Organisation sowie ihrer personellen und materiellen Ausstattung nicht geeignet, kampfkräftige Verbände für den Auslandseinsatz bereitzustellen. Und drittens waren der Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr im Gefecht enge Grenzen gesetzt.
Im Fazit wird gezeigt, dass die Lehren, die die politische und militärische Führung aus dem Afghanistan-Einsatz seit 2014 gezogen hat, am strategischen Kernproblem vorbeigegangen sind – dass nämlich die Aussichten auf eine externe „Stabilisierung“ fragiler Staaten im Globalen Süden gering sind. Das Scheitern des Einsatzes hat nicht zu einem grundsätzlichen Umdenken geführt. Vielmehr brachten erst die russischen Invasionen in der Ukraine 2014 und 2022 die Erkenntnis, dass sich die Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren muss – ohne jedoch das Ziel der „Stabilisierung“ fragiler Staaten gänzlich aufzugeben.
Strategiefähigkeit
Seit Längerem wird in Studien die allgemeine Strategiefähigkeit der handelnden Akteure des deutschen Staates infrage gestellt.
Auch die Bundesregierungen entwickelten für ihr Engagement in Afghanistan keine klare nationale Strategie. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 drängte sich die damalige Regierung gegen US-Präferenzen in die OEF. Die USA suchten zwar politischen Beistand, verzichteten aber lieber auf nicht ausschlaggebende militärische Beiträge und daraus abgeleitete Mitbestimmungsforderungen. Auf Wunsch der US-Regierung nahm sie dagegen an der ISAF teil.
Um öffentliche Unterstützung für das Vorhaben zu gewinnen, betonten die Bundesregierungen zudem die Bedeutung des Engagements und stellten insbesondere gesellschaftliche Ziele wie „Bildung, Erziehung, Frauen“ (Joschka Fischer, Grüne) in den Vordergrund.
Sicherlich erschwerte die Schönfärberei den politisch Verantwortlichen die Einsicht, dass das Engagement in Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich enden würde, aber ähnliche Tendenzen gab es auch im internen Berichtswesen der Verbündeten.,
Ein zentrales strategisches Versäumnis der deutschen Bundesregierungen besteht daher darin, die Aussichtslosigkeit des Afghanistan-Einsatzes an sich oder zumindest unter den Bedingungen eines geringen US-Interesses nicht erkannt zu haben. Stattdessen setzte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 bei Obama dafür ein, die US-Truppen nicht schon 2016 abzuziehen, was faktisch das Ende von RS in diesem Jahr bedeutet hätte.
Bundeswehr-Struktur
Dauer und Intensität des Afghanistan-Engagements haben die strukturellen Mängel der Bundeswehr offengelegt. Sie führten aber nicht dazu, dass die Verantwortlichen die Bundeswehr entsprechend den Erfordernissen der Auslandseinsätze umstrukturierten. Denn nach 1990 war lange unklar, was der Kernauftrag der Bundeswehr sein sollte: Landes- und Bündnisverteidigung oder Auslandseinsätze. In der Praxis erfordert beides unterschiedliche Fähigkeiten. Für die Verteidigung sind möglichst große Streitkräfte erforderlich, die durch Wehrpflichtige und Reservisten verstärkt werden können und in der Lage sind, lange und mit hoher Intensität Gefechte gegen einen ebenbürtigen Gegner zu führen. Für Auslandseinsätze scheinen dagegen kleine, weltweit verlegbare Streitkräfte besser geeignet. Sie benötigen nur eine leichte Bewaffnung und können sich aus Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten rekrutieren.
Die verteidigungspolitischen Schlüsseldokumente hoben den Widerspruch zwischen unterschiedlichen Anforderungen an Verteidigung und Auslandseinsätze nur rhetorisch auf. Beides erfordere „grundsätzlich identische militärische Fähigkeiten“.
Durch die Art und Weise der Reduzierung der Streitkräfte entstand eine organisatorisch kopflastige Armee. Da die Berufssoldatinnen und -soldaten sowie die Beamtinnen und Beamten nicht entlassen werden konnten, wurde an Einrichtungen für sie festgehalten. Dazu reduzierten die Verantwortlichen tendenziell Verbände mit einem hohen Anteil an Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten und -soldatinnen und bewahrten die Stäbe. Oft entstanden neue Ämter und Kommandos an den Standorten ehemaliger Korps- oder Divisionsstäbe, deren Truppen aufgelöst worden waren. Diese dienten also vor allem dazu, die Dienstposten der alten Stäbe zu erhalten. Im Jahr 2000 entstand mit der Streitkräftebasis (SKB) sogar ein neuer Organisationsbereich mitsamt den erforderlichen Führungsstrukturen. Die SKB zentralisierte die von allen Teilstreitkräften unterhaltenen logistischen Fähigkeiten, um dadurch die Effizienz zu steigern.
Die Zentralisierungsbestrebungen spiegelten das seit den 1990er Jahren verstärkte betriebswirtschaftliche Denken in der Bundeswehr wider. Outsourcing und die effizientere Nutzung der vorhandenen Mittel sollten Kosten sparen. Das heißt, Teile der Logistik wie Werkstätten, Fuhrparks und sogar die Kleiderkammer wurden privatisiert und damit von Zivilen betrieben. Es ist allerdings fraglich, ob dies tatsächlich Kosten sparte und Leistungen verbesserte.
Weitere Reduzierungen orientierten sich an den Erfordernissen in Afghanistan und anderen Auslandseinsätzen. Da vor allem Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten sowie Reservedienstleistende im Einsatz waren, erschien die Wehrpflicht zunehmend als reine Last. Die Bundesregierung setzte sie deshalb 2011 aus. Weder die Taliban noch andere Gegner der Bundeswehr verfügten über Luftstreitkräfte. Deshalb entschied die Heeresführung, die im Drohnenkrieg entscheidende Heeresflugabwehrtruppe 2010 aufzulösen. Der gleichen Logik folgte die starke Reduzierung der Panzertruppe.
Am Ende stand eine Bundeswehr, die faktisch darauf ausgerichtet war, zwar um Leitdivisionen gruppierte, aber teilweise aus Hunderten von Verbänden bestehende Kontingente für auf vier bis sechs Monate befristete Einsätze wie in Afghanistan und anderswo aufzustellen.
Durchhaltefähigkeit
Zwar hatte die Bundeswehr bereits 1997 bei der Evakuierungsoperation in Albanien und 1999 beim Einmarsch in den Kosovo zwei kurze Schusswechsel zu überstehen.
Um sich aktiv gegen Angriffe verteidigen zu können, musste die Bundeswehr zunächst Restriktionen überwinden, die ihr von der politischen Führung auferlegt worden waren. Diese sollten Skandale durch getötete Zivilisten vermeiden helfen und die Einsätze nicht zu kriegerisch erscheinen lassen. Um dies zu erreichen, hatte das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) den Gewalteinsatz ähnlich wie bei der Polizei konzeptualisiert. Das heißt, es hatte den Schusswaffengebrauch als strenge Ausnahme behandelt und dazu etwa die Soldatinnen und Soldaten angewiesen, Gewalt nur zur Selbstverteidigung anzuwenden. Im Afghanistan-Einsatz ließ das BMVg ab 2009 erstmals seit dem mit Luftstreitkräften geführten Kosovo-Krieg das Kriegsrecht gelten. Dies erlaubte unter anderem die aktive Bekämpfung des Gegners.
Gleichzeitig erkannte das BMVg, dass es den Kriegerhabitus, den insbesondere viele Angehörige der Kampftruppen angenommen hatten, auch positiv adressieren musste. Darunter ist eine positive Einstellung zur Gewalt und damit zur eigenen, nun konkret praxisrelevant gewordenen Tätigkeit sowie zu Werten wie Tapferkeit und Opferbereitschaft zu verstehen.
Ab 2007 führte die Bundeswehr in Afghanistan offensive Operationen bis auf Bataillonsebene durch. Dies führte jedoch nicht dazu, dass sie zu einer Armee für counterinsurgency (Aufstandsbekämpfung) wurde. Vielmehr orientierten sich die Verantwortlichen an einem Ideal operativer „Führungskunst“ wie es sich im deutschen Militär seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Sie sah vor, auch zahlenmäßig überlegene Gegner durch eine schnellere und entschlossenere Operationsführung vor allem der mechanisierten Kräfte durch überraschende Schwerpunktbildung zu schlagen. Das operative Konzept verzichtete auf eine allzu intensive „Beurteilung der Feindlage“, um die Entscheidungsfindung nicht zu verzögern. In Afghanistan wäre es hingegen sinnvoller gewesen, die Netzwerke der Aufständischen möglichst genau und damit zwangsläufig zeitaufwändig aufzuklären und dann punktuell mit leichten Infanterie- oder Spezialkräften gegen sie vorzugehen.
Die Jahre 2009 und 2010, in denen die Bundeswehr insbesondere in der Provinz Kunduz zeitweise täglich im Gefecht stand, zeigten erstmals die Grenzen ihrer Durchhaltefähigkeit im Kampf. Aufgrund ihrer auf Kante genähten Struktur war sie angesichts ihrer sonstigen Einsatzverpflichtungen kaum in der Lage, Kontingente von deutlich mehr als 5.000 Soldatinnen und Soldaten für Afghanistan aufzubringen. Davon war der Großteil in den Bereichen Stabswesen, Logistik, Sanität, Feldlagerbetrieb etc. gebunden, um die Aktivitäten der operativen Kräfte zu ermöglichen. Auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen 2010 zeigte sich, dass die Bundeswehr zu wenig Munition im Einsatzland vorrätig hatte und nicht über die Fähigkeit verfügte, Verwundete unter Beschuss per Hubschrauber zu evakuieren.
Tiefer gehende Probleme der Truppe offenbarte die Tatsache, dass in der Zeit der intensivsten Kampfhandlungen von Mitte 2008 bis Anfang 2010 die Zahl der wegen battle stress repatriierten Angehörigen des deutschen ISAF-Kontingents rapide anstieg.
Kurswechsel
Das offensichtliche Scheitern des internationalen Engagements in Afghanistan, aber auch in zahlreichen anderen fragilen Staaten wie Mali, wo die Bundeswehr ab 2021 ihr größtes Kontingent im Ausland stationiert hatte, legt den Schluss nahe, dass das Konzept der „Stabilisierung“ nicht erfolgversprechend ist. Unter diesem nur vage definierten Ansatz versteht die Bundesregierung, wie viele Verbündete, langfristig in einem krisengeschüttelten Staat zu intervenieren und mit zivilen und gegebenenfalls militärischen Mitteln die Regierung zu stützen und die Lebensbedingungen zu verbessern. Dabei haben die Interventen jedoch regelmäßig Regierungen geholfen, die keine Legitimität in der Bevölkerung hatten, und Scheinökonomien geschaffen, die von externer Hilfe abhängig waren.
Ab 2014 setzte sich in Bundesregierung und Bundeswehr zwar langsam die Erkenntnis durch, dass der Schwerpunkt der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf der Landes- und Bündnisverteidigung und nicht auf Auslandseinsätzen liegen sollte.
Das Scheitern in Afghanistan hat für den Kurswechsel offenbar keine entscheidende Rolle gespielt. Dies zeigt ein Blick auf die (halb)offiziellen Lehren, die die Verantwortlichen in Deutschland aus dem dortigen Engagement gezogen haben. Demnach sahen sie die Schwierigkeiten von ISAF nach deren Ende 2014 bloß als Problem unzureichender Mittel und eines zu kurzen Atems.
Das Scheitern des Westens und Deutschlands in Afghanistan von 2001 bis 2021 ist offensichtlich und nicht singulär, wie die jüngsten Fehlschläge im Sahel zeigen. Zu dieser Einsicht sollten sich die Verantwortlichen auch in Deutschland durchringen und nicht weiter versuchen, fragile Staaten zu „stabilisieren“. Die Herausforderungen eines aggressiven Russlands für die Landes- und Bündnisverteidigung Deutschlands sind gewaltig. Sie fordern nicht nur die Bundeswehr, sondern auch fast alle anderen Bereiche der nach 1990 vernachlässigten öffentlichen Infrastruktur, die wieder funktionsfähig und damit „kriegstüchtig“ gemacht werden müssen, wie es das Bundesministerium der Verteidigung anstrebt.