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Zäsur Afghanistan-Einsatz? | Bundeswehr | bpb.de

Bundeswehr Editorial Kriegstüchtig? Zur Zeitenwende in Politik, Gesellschaft und Truppe Wie wir wehrhaft werden. Zu den Grenzen der Freiwilligkeit in Zeiten des Krieges Preis der Freiheit. Zu den ökonomischen Kosten der Zeitenwende Extremismus in der Bundeswehr. Ausmaß, Ursachen, Wirkungen Drehscheibe Deutschland. Die Bundeswehr im Nato-Kontext Zäsur Afghanistan-Einsatz? Lehren für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik Schleichende Militarisierung. Beobachtungen zur Veränderung der Zivilgesellschaft

Zäsur Afghanistan-Einsatz? Lehren für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Philipp Münch

/ 15 Minuten zu lesen

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist hinsichtlich seiner Intensität und seines Umfangs zweifellos der bisherige Höhepunkt deutscher Auslandseinsätze. Doch bedeutet er eine verteidigungspolitische Zäsur?

Mit dem Engagement in Afghanistan begab sich die Bundeswehr ab Ende 2001 in den teuersten, personalintensivsten, verlustreichsten und zweitlängsten Auslandseinsatz ihrer Geschichte. Insgesamt 93.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten dienten in den Missionen Operation Enduring Freedom (OEF) und International Security Assistance Force (ISAF) beziehungsweise ab 2015 der Resolute Support (RS). Der Großteil war in Kontingenten von bis zu 5.000 Soldatinnen und Soldaten für die ISAF im Einsatz. Sie sollte Afghanistan bis Ende 2014 „stabilisieren“. Zwei Monate nach dem Abzug der RS im Juni 2021 mussten die letzten westlichen Truppen das Land fluchtartig verlassen, als die Taliban Kabul einnahmen. Die Bilder des chaotischen Abzugs gruben sich ins kollektive Gedächtnis des Westens. Insgesamt ließen 54 deutsche Soldaten ihr Leben in dem Land.

Angesichts seiner Intensität und seines Umfangs stellt der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zweifellos den bisherigen Höhepunkt deutscher Auslandseinsätze dar. Doch bedeutet er insgesamt eine sicherheits- und verteidigungspolitische Zäsur für Deutschland? Der Beitrag vertritt die These, dass der Afghanistan-Einsatz insofern eine Zäsur ist, als er die Defizite der Bundeswehr und der sicherheitspolitischen Strategiefähigkeit Deutschlands offenbart hat. Doch erst die russische Besetzung der Krim im Februar 2014, die zeitlich etwa mit dem Ende des ISAF-Einsatzes zusammenfiel, und die vollständige russische Invasion acht Jahre später waren entscheidende Zäsuren, die ein Umdenken in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erzwangen.

Im Folgenden werden drei defizitäre Bereiche herausgearbeitet, die der Afghanistan-Einsatz offenbart hat. Erstens im Bereich der Strategie: Die Bundesregierungen hatten zwar ein Interesse daran, durch ihr Engagement in Afghanistan außenpolitische Bedeutung zu gewinnen beziehungsweise zu erhalten. Sie waren aber nicht in der Lage, daraus eine sinnvolle Strategie abzuleiten und – anders als die USA – das strategische Kernproblem des Afghanistan-Engagements zu erkennen. Zweitens waren die strukturellen Voraussetzungen der Bundeswehr hinsichtlich ihrer Organisation sowie ihrer personellen und materiellen Ausstattung nicht geeignet, kampfkräftige Verbände für den Auslandseinsatz bereitzustellen. Und drittens waren der Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr im Gefecht enge Grenzen gesetzt.

Im Fazit wird gezeigt, dass die Lehren, die die politische und militärische Führung aus dem Afghanistan-Einsatz seit 2014 gezogen hat, am strategischen Kernproblem vorbeigegangen sind – dass nämlich die Aussichten auf eine externe „Stabilisierung“ fragiler Staaten im Globalen Süden gering sind. Das Scheitern des Einsatzes hat nicht zu einem grundsätzlichen Umdenken geführt. Vielmehr brachten erst die russischen Invasionen in der Ukraine 2014 und 2022 die Erkenntnis, dass sich die Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren muss – ohne jedoch das Ziel der „Stabilisierung“ fragiler Staaten gänzlich aufzugeben.

Strategiefähigkeit

Seit Längerem wird in Studien die allgemeine Strategiefähigkeit der handelnden Akteure des deutschen Staates infrage gestellt. Diese Kritik äußerte sich auch früh beim strategischen Vorgehen Deutschlands in Afghanistan. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gesamtstrategie des von den USA dominierten internationalen Militäreinsatzes ebenso defizitär war. Die US-geführten OEF-Truppen hatten bis Anfang 2002 die Taliban gestürzt und al-Qaida weitgehend zerschlagen. Danach versuchten sie, den bald einsetzenden Aufstand der neu formierten Taliban zu bekämpfen und die afghanische Regierung aufzubauen. Das Bonner Afghanistan-Abkommen von Dezember 2001 enthielt zwar einen konkreten „Fahrplan“ zur Bildung einer neuen afghanischen Regierung. Es bot jedoch darüber hinaus wenig Konkretes zu den abstrakt umschriebenen übergeordneten Zielen. Dennoch orientierte sich die Nato-geführte ISAF ab 2003 an diesen Zielen, die nicht priorisiert wurden und teilweise miteinander konkurrierten. Eine Strategie ließ sich daraus nicht ableiten.

Auch die Bundesregierungen entwickelten für ihr Engagement in Afghanistan keine klare nationale Strategie. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 drängte sich die damalige Regierung gegen US-Präferenzen in die OEF. Die USA suchten zwar politischen Beistand, verzichteten aber lieber auf nicht ausschlaggebende militärische Beiträge und daraus abgeleitete Mitbestimmungsforderungen. Auf Wunsch der US-Regierung nahm sie dagegen an der ISAF teil. Während sich Deutschland nach 2002 weitgehend aus der OEF in Afghanistan heraushielt, stellte es bei ISAF und ab 2015 bei RS das zweit- beziehungsweise drittgrößte Kontingent. Die Bundesregierungen hatten ein Interesse daran, sich sichtbar an dem Engagement in Afghanistan zu beteiligen. Sie wollten die Position Deutschlands in der Welt verbessern beziehungsweise erhalten. Auch wenn Erfolge in Afghanistan erwünscht waren, ging es im Kern nicht darum, dort etwas Konkretes zu erreichen. Das strategische Kernproblem bestand jedoch darin, dass die Bundesregierungen – im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Absicht – nicht ausdrücklich dafür eintraten, Afghanistan nur als Vehikel zu nutzen, um Deutschlands Position im internationalen System zu stärken. Die vor Ort tätigen Regierungsorganisationen versuchten daher tatsächlich etwas zu bewirken und verstrickten sich zunehmend in Afghanistan, was die Kosten des Abzugs in die Höhe trieb.

Um öffentliche Unterstützung für das Vorhaben zu gewinnen, betonten die Bundesregierungen zudem die Bedeutung des Engagements und stellten insbesondere gesellschaftliche Ziele wie „Bildung, Erziehung, Frauen“ (Joschka Fischer, Grüne) in den Vordergrund. Vor allem in den Anfangsjahren grenzten sie dafür die ISAF als vermeintlich friedlichere Mission von der OEF ab und leugneten, dass man sich in Afghanistan im Krieg befindet. Um die weitere Beteiligung Deutschlands an dem Einsatz zu ermöglichen und die eigenen Erfolge hervorzuheben, stellten die Spitzen der beteiligten Ministerien die Lage in Afghanistan tendenziell zu positiv dar.

Sicherlich erschwerte die Schönfärberei den politisch Verantwortlichen die Einsicht, dass das Engagement in Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich enden würde, aber ähnliche Tendenzen gab es auch im internen Berichtswesen der Verbündeten., Dennoch erkannte US-Präsident Barack Obama, ebenso wie sein Vizepräsident Joe Biden, zu Beginn seiner Amtszeit 2009 nach einer umfassenden strategy review die Aussichtslosigkeit eines weiteren Engagements in Afghanistan. Nach einer letzten Truppenaufstockung leitete er daher das Ende von ISAF und OEF und damit faktisch den Anfang vom Ende des Engagements ein. Sein Nachfolger, Donald Trump, kam zum gleichen Schluss und legte – weitgehend ohne Rücksprache mit den Verbündeten oder der afghanischen Regierung – mit einem 2020 mit den Taliban geschlossenen Abkommen die Grundlage für das Ende der Intervention. Biden blieb als Präsident bei der Einschätzung der geringen Erfolgsaussichten in Afghanistan und vollzog den Abzug im Frühjahr 2021.

Ein zentrales strategisches Versäumnis der deutschen Bundesregierungen besteht daher darin, die Aussichtslosigkeit des Afghanistan-Einsatzes an sich oder zumindest unter den Bedingungen eines geringen US-Interesses nicht erkannt zu haben. Stattdessen setzte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 bei Obama dafür ein, die US-Truppen nicht schon 2016 abzuziehen, was faktisch das Ende von RS in diesem Jahr bedeutet hätte. Auch später, nach Abschluss des USA-Taliban-Abkommens, versuchte Außenminister Heiko Maas mit einer Nato-Initiative, Präsident Biden vom Abzug abzubringen. Die deutschen Bemühungen sollten ein geordnetes Ende des Einsatzes ermöglichen. Allerdings fragte Biden zu Recht, ob ein paar Jahre mehr die Situation wirklich nachhaltig verändert hätten und ob das Engagement nicht perpetuiert worden wäre.

Bundeswehr-Struktur

Dauer und Intensität des Afghanistan-Engagements haben die strukturellen Mängel der Bundeswehr offengelegt. Sie führten aber nicht dazu, dass die Verantwortlichen die Bundeswehr entsprechend den Erfordernissen der Auslandseinsätze umstrukturierten. Denn nach 1990 war lange unklar, was der Kernauftrag der Bundeswehr sein sollte: Landes- und Bündnisverteidigung oder Auslandseinsätze. In der Praxis erfordert beides unterschiedliche Fähigkeiten. Für die Verteidigung sind möglichst große Streitkräfte erforderlich, die durch Wehrpflichtige und Reservisten verstärkt werden können und in der Lage sind, lange und mit hoher Intensität Gefechte gegen einen ebenbürtigen Gegner zu führen. Für Auslandseinsätze scheinen dagegen kleine, weltweit verlegbare Streitkräfte besser geeignet. Sie benötigen nur eine leichte Bewaffnung und können sich aus Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten rekrutieren.

Die verteidigungspolitischen Schlüsseldokumente hoben den Widerspruch zwischen unterschiedlichen Anforderungen an Verteidigung und Auslandseinsätze nur rhetorisch auf. Beides erfordere „grundsätzlich identische militärische Fähigkeiten“. Unter dem zunehmenden Kostendruck eines nach 1990 kontinuierlich reduzierten Wehretats bei zusätzlichen Aufgaben verkleinerte die politische Führung die Bundeswehr jedoch immer weiter. So blieb für die größte Teilstreitkraft der Bundeswehr, dem Heer, letztlich die alte Grundstruktur von ursprünglich zwölf westdeutschen Divisionen erhalten. Allerdings wurde die Zahl der Divisionen und der untergeordneten Brigaden nach und nach drastisch reduziert.

Durch die Art und Weise der Reduzierung der Streitkräfte entstand eine organisatorisch kopflastige Armee. Da die Berufssoldatinnen und -soldaten sowie die Beamtinnen und Beamten nicht entlassen werden konnten, wurde an Einrichtungen für sie festgehalten. Dazu reduzierten die Verantwortlichen tendenziell Verbände mit einem hohen Anteil an Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten und -soldatinnen und bewahrten die Stäbe. Oft entstanden neue Ämter und Kommandos an den Standorten ehemaliger Korps- oder Divisionsstäbe, deren Truppen aufgelöst worden waren. Diese dienten also vor allem dazu, die Dienstposten der alten Stäbe zu erhalten. Im Jahr 2000 entstand mit der Streitkräftebasis (SKB) sogar ein neuer Organisationsbereich mitsamt den erforderlichen Führungsstrukturen. Die SKB zentralisierte die von allen Teilstreitkräften unterhaltenen logistischen Fähigkeiten, um dadurch die Effizienz zu steigern.

Die Zentralisierungsbestrebungen spiegelten das seit den 1990er Jahren verstärkte betriebswirtschaftliche Denken in der Bundeswehr wider. Outsourcing und die effizientere Nutzung der vorhandenen Mittel sollten Kosten sparen. Das heißt, Teile der Logistik wie Werkstätten, Fuhrparks und sogar die Kleiderkammer wurden privatisiert und damit von Zivilen betrieben. Es ist allerdings fraglich, ob dies tatsächlich Kosten sparte und Leistungen verbesserte. Dies zeigte etwa die Insolvenz der Kleiderkammer der Bundeswehr, die der Bund 2015 mit 91,86 Millionen Euro zurückkaufen musste.

Weitere Reduzierungen orientierten sich an den Erfordernissen in Afghanistan und anderen Auslandseinsätzen. Da vor allem Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten sowie Reservedienstleistende im Einsatz waren, erschien die Wehrpflicht zunehmend als reine Last. Die Bundesregierung setzte sie deshalb 2011 aus. Weder die Taliban noch andere Gegner der Bundeswehr verfügten über Luftstreitkräfte. Deshalb entschied die Heeresführung, die im Drohnenkrieg entscheidende Heeresflugabwehrtruppe 2010 aufzulösen. Der gleichen Logik folgte die starke Reduzierung der Panzertruppe.

Am Ende stand eine Bundeswehr, die faktisch darauf ausgerichtet war, zwar um Leitdivisionen gruppierte, aber teilweise aus Hunderten von Verbänden bestehende Kontingente für auf vier bis sechs Monate befristete Einsätze wie in Afghanistan und anderswo aufzustellen. In den dort gut geschützten Feldlagern konnten auch zivile Wartungsfirmen tätig sein. Damit rückte die Bundeswehr zwar nicht offiziell, aber faktisch von dem früheren Ansatz ab: im Inland Verbände unterhalten, die ab Brigadeebene „organisch“ alle Elemente für das arbeitsteilige „Gefecht der verbundenen Waffen“ von Kampftruppen, Artillerie, Pionieren, Logistik etc. aufweisen, einen Korpsgeist ausbilden und im Krieg gemeinsam kämpfen.

Durchhaltefähigkeit

Zwar hatte die Bundeswehr bereits 1997 bei der Evakuierungsoperation in Albanien und 1999 beim Einmarsch in den Kosovo zwei kurze Schusswechsel zu überstehen. Ihr Einsatz in Afghanistan war jedoch insofern eine Zäsur, als sie zum ersten Mal längere Gefechte führte und eine wesentlich höhere Kampfintensität erlebte. Allein zwischen 2006 und 2014 wurde die Bundeswehr in Afghanistan mindestens 380 Mal angegriffen und war an 150 Schusswechseln beteiligt. Im Juni 2006 gerieten deutsche Soldaten erstmals in einen komplexen Hinterhalt, der auf die Vernichtung einer ganzen Patrouille zielte. Ab Mitte 2008 häuften sich längere Gefechte, die in den Jahren 2009 und 2010 ihren Höhepunkt erreichten. Insgesamt fielen 35 Soldaten den Angriffen zum Opfer, mehr als 260 wurden körperlich verwundet.

Um sich aktiv gegen Angriffe verteidigen zu können, musste die Bundeswehr zunächst Restriktionen überwinden, die ihr von der politischen Führung auferlegt worden waren. Diese sollten Skandale durch getötete Zivilisten vermeiden helfen und die Einsätze nicht zu kriegerisch erscheinen lassen. Um dies zu erreichen, hatte das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) den Gewalteinsatz ähnlich wie bei der Polizei konzeptualisiert. Das heißt, es hatte den Schusswaffengebrauch als strenge Ausnahme behandelt und dazu etwa die Soldatinnen und Soldaten angewiesen, Gewalt nur zur Selbstverteidigung anzuwenden. Im Afghanistan-Einsatz ließ das BMVg ab 2009 erstmals seit dem mit Luftstreitkräften geführten Kosovo-Krieg das Kriegsrecht gelten. Dies erlaubte unter anderem die aktive Bekämpfung des Gegners.

Gleichzeitig erkannte das BMVg, dass es den Kriegerhabitus, den insbesondere viele Angehörige der Kampftruppen angenommen hatten, auch positiv adressieren musste. Darunter ist eine positive Einstellung zur Gewalt und damit zur eigenen, nun konkret praxisrelevant gewordenen Tätigkeit sowie zu Werten wie Tapferkeit und Opferbereitschaft zu verstehen. Am sichtbarsten hat die politische Führung den auch in militärischen Vorschriften betonten „Willen zum Kampf“ durch die Schaffung des Ehrenkreuzes für Tapferkeit und der Einsatzmedaille Gefecht in den Jahren 2008 und 2010 gewürdigt. Die Gefechtsmedaille erhielten bis 2018 insgesamt 5700 Soldatinnen und Soldaten, der weitaus größte Teil dürfte für den Afghanistankrieg verliehen worden sein.

Ab 2007 führte die Bundeswehr in Afghanistan offensive Operationen bis auf Bataillonsebene durch. Dies führte jedoch nicht dazu, dass sie zu einer Armee für counterinsurgency (Aufstandsbekämpfung) wurde. Vielmehr orientierten sich die Verantwortlichen an einem Ideal operativer „Führungskunst“ wie es sich im deutschen Militär seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Sie sah vor, auch zahlenmäßig überlegene Gegner durch eine schnellere und entschlossenere Operationsführung vor allem der mechanisierten Kräfte durch überraschende Schwerpunktbildung zu schlagen. Das operative Konzept verzichtete auf eine allzu intensive „Beurteilung der Feindlage“, um die Entscheidungsfindung nicht zu verzögern. In Afghanistan wäre es hingegen sinnvoller gewesen, die Netzwerke der Aufständischen möglichst genau und damit zwangsläufig zeitaufwändig aufzuklären und dann punktuell mit leichten Infanterie- oder Spezialkräften gegen sie vorzugehen.

Die Jahre 2009 und 2010, in denen die Bundeswehr insbesondere in der Provinz Kunduz zeitweise täglich im Gefecht stand, zeigten erstmals die Grenzen ihrer Durchhaltefähigkeit im Kampf. Aufgrund ihrer auf Kante genähten Struktur war sie angesichts ihrer sonstigen Einsatzverpflichtungen kaum in der Lage, Kontingente von deutlich mehr als 5.000 Soldatinnen und Soldaten für Afghanistan aufzubringen. Davon war der Großteil in den Bereichen Stabswesen, Logistik, Sanität, Feldlagerbetrieb etc. gebunden, um die Aktivitäten der operativen Kräfte zu ermöglichen. Auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen 2010 zeigte sich, dass die Bundeswehr zu wenig Munition im Einsatzland vorrätig hatte und nicht über die Fähigkeit verfügte, Verwundete unter Beschuss per Hubschrauber zu evakuieren.

Tiefer gehende Probleme der Truppe offenbarte die Tatsache, dass in der Zeit der intensivsten Kampfhandlungen von Mitte 2008 bis Anfang 2010 die Zahl der wegen battle stress repatriierten Angehörigen des deutschen ISAF-Kontingents rapide anstieg. Aufgrund all dieser Schwierigkeiten sahen sich die USA gezwungen, Anfang 2010 Truppen in der Stärke des gesamten deutschen ISAF-Kontingents in das von Deutschland geführte Regional Command North zu verlegen. Dies zeigte letztlich, dass die Bundeswehr nicht über die erforderliche Durchhaltefähigkeit im Kampf verfügte.

Kurswechsel

Das offensichtliche Scheitern des internationalen Engagements in Afghanistan, aber auch in zahlreichen anderen fragilen Staaten wie Mali, wo die Bundeswehr ab 2021 ihr größtes Kontingent im Ausland stationiert hatte, legt den Schluss nahe, dass das Konzept der „Stabilisierung“ nicht erfolgversprechend ist. Unter diesem nur vage definierten Ansatz versteht die Bundesregierung, wie viele Verbündete, langfristig in einem krisengeschüttelten Staat zu intervenieren und mit zivilen und gegebenenfalls militärischen Mitteln die Regierung zu stützen und die Lebensbedingungen zu verbessern. Dabei haben die Interventen jedoch regelmäßig Regierungen geholfen, die keine Legitimität in der Bevölkerung hatten, und Scheinökonomien geschaffen, die von externer Hilfe abhängig waren.

Ab 2014 setzte sich in Bundesregierung und Bundeswehr zwar langsam die Erkenntnis durch, dass der Schwerpunkt der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf der Landes- und Bündnisverteidigung und nicht auf Auslandseinsätzen liegen sollte. Auch erkannten die Verantwortlichen, dass die Bundeswehr in einem intensiven Krieg nicht kampf- und durchhaltefähig sein würde. Daraufhin wurde der Verteidigungshaushalt leicht erhöht. Dies alles war jedoch eine Folge der russischen Besetzung der Krim im Februar 2014, die die Menschen in Deutschland beunruhigte. Dies galt umso mehr nach der vollständigen russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022, als die Bundesregierung eine entschiedene sicherheitspolitische „Zeitenwende“ verkündete und die Landes- und Bündnisverteidigung eindeutig als „Kernauftrag“ der Bundeswehr definierte. Operativ besann sich die Heeresführung etwas früher auf die ohnehin bevorzugte Landes- und Bündnisverteidigung.

Das Scheitern in Afghanistan hat für den Kurswechsel offenbar keine entscheidende Rolle gespielt. Dies zeigt ein Blick auf die (halb)offiziellen Lehren, die die Verantwortlichen in Deutschland aus dem dortigen Engagement gezogen haben. Demnach sahen sie die Schwierigkeiten von ISAF nach deren Ende 2014 bloß als Problem unzureichender Mittel und eines zu kurzen Atems. Selbst in den Schlüsseldokumenten, die nach dem völligen Scheitern des Einsatzes 2021 erarbeitet wurden, findet sich „Stabilisierung“ als – wenn auch untergeordnete – Aufgabe deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ebenso beschloss die Mehrheit der Fraktionen im Deutschen Bundestag, den Afghanistan-Einsatz durch eine Enquete-Kommission aufarbeiten zu lassen, um Lehren für künftige Einsätze zur „Stabilisierung“ zu ziehen. Maßgebliche Akteure in Regierung und Parlament halten „Stabilisierung“ also offenbar weiterhin für machbar.

Das Scheitern des Westens und Deutschlands in Afghanistan von 2001 bis 2021 ist offensichtlich und nicht singulär, wie die jüngsten Fehlschläge im Sahel zeigen. Zu dieser Einsicht sollten sich die Verantwortlichen auch in Deutschland durchringen und nicht weiter versuchen, fragile Staaten zu „stabilisieren“. Die Herausforderungen eines aggressiven Russlands für die Landes- und Bündnisverteidigung Deutschlands sind gewaltig. Sie fordern nicht nur die Bundeswehr, sondern auch fast alle anderen Bereiche der nach 1990 vernachlässigten öffentlichen Infrastruktur, die wieder funktionsfähig und damit „kriegstüchtig“ gemacht werden müssen, wie es das Bundesministerium der Verteidigung anstrebt. Deutschland muss in der Lage sein, schnell und kurzfristig Kräfte weltweit einzusetzen. Sich in Zukunft wieder an langfristigen, wenig erfolgversprechenden Auslandseinsätzen zur „Stabilisierung“ fragiler Staaten zu beteiligen, würde von dem für die Existenz der Bundesrepublik im Ernstfall entscheidenden Ziel der „Kriegstüchtigkeit“ ablenken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 20/10400, Unterrichtung durch die Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands. Zwischenbericht der Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands, 19.2.2024, S. 52.

  2. Vgl. z.B. Manuela Glaab, Strategie und Politik. Das Fallbeispiel Deutschland, in: Thomas Fischer/Gregor Peter Schmitz/Michael Seberich (Hrsg.), Die Strategie der Politik. Ergebnisse einer vergleichenden Studie, Gütersloh 2007, S. 67–115.

  3. Vgl. z.B. Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008.

  4. Vgl. Philipp Münch, Strategielos in Afghanistan. Die Operationsführung der Bundeswehr im Rahmen der International Security Assistance Force, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 30/2011.

  5. Vgl. Lutz Holländer, Die politischen Entscheidungsprozesse bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr 1999–2003, Frankfurt/M. 2007, S. 116.

  6. Vgl. Philipp Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan. Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen, Freiburg/Br. 2015, S. 165–176, Externer Link: https://opus4.kobv.de/opus4-zmsbw/files/577/08179929.pdf.

  7. Vgl. Philipp Münch, Ein paradoxer Krieg. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, in: Martin Rink/Jochen Maurer (Hrsg.), Einsatz ohne Krieg?, Göttingen 2021, S. 151–171, hier S. 162.

  8. Zit. nach Winfried Nachtwei, Wie der Afghanistaneinsatz anfing – Teil III: Der wenig umstrittene 2. Afghanistanbeschluss (zu ISAF), 1.9.2011, Externer Link: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&ptid=1&catid=2-11-39-120&aid=1076.

  9. Vgl. BT-Drs. 20/10400 (Anm. 1), S. 69.

  10. Vgl. Steve Coll, Directorate S. The C.I.A. and America’s Secret Wars in Afghanistan and Pakistan, London 2018, S. 298–300.

  11. Vgl. Edmund J. „E. J.“ Degen/Mark J. Reardon, Modern War in an Ancient Land. The United States Army in Afghanistan 2001–2014, Vol. 2, Washington, D.C. 2021, S. 193f., S. 270.

  12. Vgl. BT-Drs. 20/10400 (Anm. 1), S. 51, S. 88.

  13. Vgl. Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Bundeswehrtagung, Berlin, 14.5.2018, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-bei-der-bundeswehrtagung-am-14-mai-2018-in-berlin-1008722.

  14. Vgl. Deutscher Bundestag, 1. Untersuchungsausschuss. Plötner: Deutschland wollte Bedingungen für Doha-Abkommen, 27.6.2024, Externer Link: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw26-pa-1untersuchungsausschuss-80-sitzung-1008866.

  15. Vgl. Remarks by President Biden on the End of the War in Afghanistan, 31.8.2021, Externer Link: http://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/08/31/remarks-by-president-biden-on-the-end-of-the-war-in-afghanistan.

  16. Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), Verteidigungspolitische Richtlinien, 2003, Nr. 78. Vgl. auch BMVg, Verteidigungspolitische Richtlinien. Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, 2011, S. 16.

  17. Vgl. Philipp Münch, Max Webers Albtraum: Zur Reformierbarkeit der Spitzengliederung der Bundeswehr, in: Detlef Buch (Hrsg.), Die Reform der Bundeswehr: Von Menschen für Menschen, Frankfurt/M. 2012, S. 111–143.

  18. Vgl. ebd., S. 129–132.

  19. Vgl. Gregor Richter, Ökonomisierung in der Bundeswehr, in: Sven Bernhard Gareis/Paul Klein (Hrsg.), Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden 2006, S. 40–50.

  20. Vgl. Jürgen Dahlkamp/Matthias Gebauer, Bundeswehr-Kleiderkammer vor Insolvenz. Teures Grünzeug, 22.6.2015, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-1040143.html.

  21. Vgl. Münch (Anm. 6), S. 114, S. 131.

  22. Vgl. Christian Freuding, Im Felde. Die Sicht des Soldaten, in: Christoph Schwegmann (Hrsg.), Bewährungsproben einer Nation: Die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland. Mit einem Vorwort von Volker Rühe, Berlin 2011, S. 197–208, hier S. 200.

  23. Vgl. Münch (Anm. 6), S. 275f.

  24. Vgl. Bericht der Kommission zur Untersuchung des Einsatzes des G36-Sturmgewehres in Gefechtssituationen, S. 24f.

  25. Vgl. Münch (Anm. 6), S. 270, S. 307.

  26. Vgl. ebd., S. 43f.

  27. Vgl. BT-Drs. 19/5825, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten René Springer, Gerold Otten, Martin Hess, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD, 19.11.2018, S. 4.

  28. Vgl. Münch (Anm. 6), S. 65–70, S. 296–301.

  29. Vgl. ebd., S. 207f., S. 303.

  30. Vgl. Nancy Radunz, Risikofaktoren für Repatriierungen aufgrund von psychiatrischen Erkrankungen im Auslandseinsatz. Deutsche Soldaten im Kosovo- und Afghanistaneinsatz, Doctor medicinae (Dr. med.) Dissertation, Freie Universität Berlin/Humboldt-Universität zu Berlin 2016, S. 28f., S. 48f. Die Studie beruht maßgeblich auf Daten, welche die (damaligen) Beschäftigten des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Julius Heß, Anja Seiffert und Markus Steinbrecher unter Mitarbeit von Peter Zimmermann bearbeitet und interpretiert sowie teilweise erhoben haben.

  31. Vgl. Matthias Gebauer, Afghanistan. USA starten Truppenaufmarsch im Bundeswehrgebiet, 29.1.2010, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-674705.html.

  32. Vgl. Berit Bliesemann de Guevara/Florian P. Kühn, Illusion Statebuilding: Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt, Hamburg 2010.

  33. Vgl. BMVg, Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2016, S. 88–91.

  34. Vgl. Dan Krause/Michael Staack, Die Entwicklung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands. Eine Analyse im Spiegel der strategisch-konzeptionellen Grundlagendokumente 2014 bis 2018, Wissenschaftliches Forum für Internationale Sicherheit e.V., WIFIS-Arbeitspapier 2/2019, S. 24.

  35. Vgl. Bundesregierung, Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland. Nationale Sicherheitsstrategie, 2023, S. 32; BMVg, Verteidigungspolitische Richtlinien 2023, S. 17.

  36. Vgl. Operative Leitlinien des Heeres. Zur Zukunft deutscher Landstreitkräfte 2030+ (vorläufig), 2020, Externer Link: http://www.bundeswehr.de/resource/blob/5292344/b7f7159a4e8779854b275e1a6579f1e2/
    vorlaeufige-operative-leitlinien-des-heeres-data.pdf
    .

  37. Vgl. Philipp Münch, Never Again? Germany’s Lessons from the War in Afghanistan, in: Parameters 4/2020, S. 73–84, Externer Link: https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=2689&context=parameters.

  38. Vgl. BMVg (Anm. 35), S. 18.

  39. Vgl. BT-Drs. 20/2570, Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP Einsetzung einer Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“, 5.7.2022, S. 2.

  40. Vgl. BMVg (Anm. 35), S. 9.

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