Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht nur die nach dem Kalten Krieg etablierte europäische Sicherheitsordnung zerstört, sondern auch die Nato mit einem Schlag zu ihren Wurzeln zurückgeführt. Die schrittweise Verlagerung der strategischen Schwerpunkte von fast ausschließlichem Krisenmanagement und sogenannten Out-of-area-Einsätzen in verschiedenen Krisenherden des Anti-Terror-Krieges außerhalb Europas hin zu einer verstärkten Präsenz an der Ostflanke des Bündnisses begann zwar bereits 2014 nach der russischen Annexion der Krim, wurde aber erst 2022 abgeschlossen. Die 180-Grad-Wende in der Bedrohungsanalyse wird in den strategischen Konzepten der Nato deutlich: Noch im Strategiedokument von 2010 wurde trotz Meinungsverschiedenheiten mit Russland eine strategische Partnerschaft mit dem Land angestrebt, dessen Sicherheit mit der der Nato verknüpft sei. Das neue Dokument, das auf dem Nato-Gipfel in Madrid wenige Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges verabschiedet wurde, identifiziert Russland als die größte Bedrohung für die Sicherheit der Nato-Mitglieder sowie für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.
Eine unmittelbare Folge des russischen Angriffskrieges war die Entscheidung Finnlands und Schwedens, ihre langjährige Bündnisneutralität aufzugeben und der Nato beizutreten. Weniger als drei Monate nach Beginn des Krieges in der Ukraine stellten Finnland und Schweden den Antrag auf Nato-Mitgliedschaft, und am 4. April 2023 wurde Finnland Vollmitglied des atlantischen Bündnisses, Schweden folgte ein knappes Jahr später am 7. März 2024. Die Norderweiterung der Nato kam für das Bündnis zur rechten Zeit. Denn auf dem Gipfel von Madrid hatte die Nato versprochen, jeden Zentimeter des Bündnisgebietes jederzeit zu verteidigen, und dieses Versprechen wäre für den Fall einer horizontalen Eskalation des russischen Krieges von der Ukraine auf das Bündnisgebiet – insbesondere im verwundbaren Baltikum – ohne Finnland und Schweden nur schwer zu halten gewesen. Sowohl der russische Krieg als auch die Norderweiterung haben somit den strategischen Schwerpunkt der Nato nach Nordosten verschoben – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Bundeswehr.
Spezialfall Bundeswehr
Deutschland ist unter den Nato-Mitgliedern ein Spezialfall, weil die Bundeswehr zu den Streitkräften gehört, die am tiefsten in die Nato-Kommandostrukturen eingebunden sind. Landes- und Bündnisverteidigung sind in Deutschland traditionell untrennbar miteinander verbunden. Aufgrund der deutschen Geschichte als Aggressor in den Weltkriegen wurde die Bundeswehr in einem internationalen Kontext konzipiert und agierte daher nie von diesem losgelöst. Nach dem Nato-Beitritt 1955 wurde die neu gegründete Bundeswehr in die Befehls- und Kommandostruktur des Bündnisses eingegliedert und besaß bis zur Wiedervereinigung 1990 keine eigenständige Führungskompetenz. Die militärische Integration in die Nato spielte eine wichtige Rolle bei der Einbindung Deutschlands in die europäische und euro-atlantische Staatengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und ermöglichte die Vertrauensbildung zwischen Deutschland und seinen Bündnispartnern.
In den vergangenen 30 Jahren hat die Bundeswehr auch die Entwicklung der allgemeinen Ausrichtung der Nato widergespiegelt. Nach starker Abrüstung im Zuge der Wiedervereinigung und in den 2000er Jahren begann die Wiedereinführung des sogenannten Mindset Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) nach der Krim-Annexion durch Russland 2014. Zwei Jahre später sah das „Weißbuch 2016“ jedoch weiterhin nur ein sogenanntes single set of forces vor. Die Bundeswehr sollte demnach alle Aufgaben – sowohl das Krisenmanagement weit außerhalb des Nato-Bündnisgebietes als auch die Präsenz im Bündnisgebiet – mit einem nur einmal vorhandenen Kräftedispositiv bewältigen. Schlagwörter wie „Agilität“, „Flexibilität“ und „Mehrrollenfähigkeit“ standen dabei im Vordergrund.
Die neue Ausrichtung LV/BV, verkörpert durch die Präsenz der Bundeswehr in Litauen ab 2017, blieb jedoch bis 2022 weitgehend ohne starke öffentliche Wahrnehmung und wurde sowohl politisch als auch militärisch als nachrangige Priorität wahrgenommen. Der russische Angriffskrieg auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine im Jahr 2022 hat die Bedrohungswahrnehmung an der Ostflanke der Nato verstärkt und auch die Warnungen der baltischen Staaten und Polens bestätigt, dass Russland weiterhin eine ernst zu nehmende Bedrohung für seine Nachbarn ist. Deutschland hat bereits vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine darauf reagiert und seine Truppenstärke in Litauen um 350 Soldatinnen und Soldaten erhöht, 2023 folgte die Ankündigung einer dauerhaft in Litauen stationierten Brigade als starkes Zeichen der Bündnissolidarität. Die Brigade soll bis 2027 voll einsatzfähig sein. Deutschland engagiert sich mit der Litauen-Brigade richtigerweise stark an der Ostflanke, was allerdings Konsequenzen und Einschränkungen für andere potenzielle Einsatzgebiete mit sich bringt. Die Ausrichtung der Nato auf ihre Kernaufgaben Verteidigung und Abschreckung spiegelt sich auch in den neuen deutschen Strategiedokumenten wie der Nationalen Sicherheitsstrategie und – beeindruckend selbstkritisch – den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 wider.
Operationsumfeld Nordosteuropa
Bis zum Beitritt Finnlands und Schwedens bereitete das Baltikum den Verteidigungsplanern der Nato Kopfzerbrechen. Trotz enger Partnerschaft war weder eine gemeinsame Planung noch eine direkte Beteiligung Finnlands und Schwedens an den neuen Nato-Strukturen an der Ostflanke möglich. Die baltischen Staaten waren somit aufgrund ihrer geografischen Lage zwischen der Ostsee auf der einen und Russland auf der anderen Seite im Kriegsfall für Nato-Truppen nur schwer zu erreichen und versorgen. Szenarioübungen der Nato deuteten auf die Gefahr hin, dass Russland die Nato vor vollendete Tatsachen stellen könnte: Teile des Baltikums schnell besetzen und der Nato ein nukleares Ultimatum stellen. Eine 2016 von der US-amerikanischen RAND Corporation veröffentlichte Studie, die auf mehreren sogenannten Wargames basiert, stellte lakonisch fest, dass die Nato im Falle eines solchen raschen Verlusts nur wenige schlechte Optionen hätte.
Durch die Integration Finnlands und Schwedens in das Bündnis hat sich die geostrategische Lage jedoch grundlegend verändert – zugunsten der Nato. Waren bisher die Nord- und Ostflanke durch Finnland und Schweden getrennt, so sind sie nun durch die beiden Länder verbunden. Finnland hat eine neue Versorgungsroute in die baltischen Staaten von Norden her eröffnet, sodass die baltischen Staaten nicht mehr so leicht vom Rest des Bündnisses abgeschnitten werden können. Das schwedische Staatsgebiet wiederum erstreckt sich von Nordnorwegen in der Arktis bis nach Dänemark in der südlichen Ostsee und bildet damit ein wichtiges logistisches Bindeglied in der gesamten nordisch-baltischen Region. Auch die Arktis ist nun stärker mit der Ostflanke verbunden. Hinzu kommt die Zusage Schwedens, ab 2025 mit einem Bataillon von 600 Soldatinnen und Soldaten in Lettland einen konkreten Beitrag zur Verteidigung des Baltikums zu leisten.
Der Beitritt Finnlands zur Nato hat die Länge der Grenze zwischen Russland und der Nato verdoppelt. Anstatt jedoch eine Belastung für das Bündnis darzustellen, hat die neue lange Grenze das Kalkül Russlands erheblich erschwert. Russland kann nun nicht mehr einen Angriff auf die baltischen Staaten planen, ohne die Grenze zu Finnland zu berücksichtigen. Im Norden ist die Grenze zu Finnland nur rund 200 Kilometer vom Militärstützpunkt der Nordflotte auf der Halbinsel Kola entfernt, wo Russland seine strategischen nuklearfähigen U-Boote stationiert hat. Diese sind entscheidend für die Zweitschlagfähigkeit Russlands im hypothetischen Fall eines nuklearen Gefechts. Sollte Russland in die baltischen Staaten einmarschieren, müsste es daher in der Lage sein, die strategisch wichtigen Militärstützpunkte in der Arktis unweit der finnischen Grenze ausreichend zu schützen. Nach Angaben des finnischen Militärgeheimdienstes hat Russland seit Beginn seines Angriffskrieges bis zu 80 Prozent seiner Truppen und Ausrüstung von den Militärbasen nahe der finnischen Grenze in die Ukraine verlegt. Für einen Angriff auf Nato-Staaten, sei es im hohen Norden oder im Baltikum, müsste Russland zunächst seine Truppenstärke an der finnischen Grenze erhöhen und mehr Gerät in die Nähe verlegen. Zwar hatte Russland angekündigt, die westlichen Militärbezirke Moskau und Leningrad Anfang 2023 wieder in Betrieb zu nehmen, noch ist aber nichts Konkretes entlang der finnischen Grenze zu beobachten, und es bleibt unklar, ob und wann Russland die neuen Militärbezirke mit Truppen und Gerät ausstatten kann.
Für die Nato wiederum sind die neue nördliche Versorgungsroute sowie die Möglichkeit, erstmals in der Geschichte des atlantischen Bündnisses eine kohärente Verteidigung für die gesamte Region von Nordnorwegen bis Südlitauen zu planen, ein enormer Vorteil. Welchen Unterschied Schweden für die Gesamtplanung der Verteidigung Nordeuropas macht, wird aus einem Strategiedokument der Nato aus dem Jahr 1950 deutlich, in dem die Wichtigkeit Nordeuropas für die Verteidigung ganz Europas betont wird. In dem Dokument wird auch darauf hingewiesen, dass die Verteidigungsplanung für den gesamten nordeuropäischen Raum als Ganzes zu betrachten sei. De facto war dies jedoch ohne Finnland und Schweden nicht möglich, trotz einer weitgehenden geheimen Zusammenarbeit zwischen Schweden und der Nato im Kalten Krieg. Mit dem Beitritt der beiden nordischen Länder 73 beziehungsweise 74 Jahre später ist eine solche einheitliche Planung Wirklichkeit geworden. Im Spannungsverhältnis mit Russland ist die Nato mit den neuen Mitgliedern also deutlich besser aufgestellt.
Bundeswehr an der Nordflanke
Deutschland hat in jüngster Zeit nicht nur seine Präsenz an der Ostflanke ausgebaut, sondern auch wichtige Schritte in der Zusammenarbeit mit Norwegen unternommen. Im Juli 2021 unterzeichneten Norwegen und Deutschland ein umfangreiches Abkommen über die gemeinsame Produktion neuartiger U-Boote für die Marinen beider Länder, die ab 2029 an Norwegen und ab 2032 an Deutschland ausgeliefert werden sollen. Das Projekt ist wichtig, weil U-Boote Fähigkeiten besitzen, von denen die gesamte Region profitieren kann. Darüber hinaus verfügt im nordisch-baltischen Raum nur Schweden über U-Boote. Dem gemeinsamen deutsch-norwegischen Beschaffungsprojekt folgte 2023 eine neue Absichtserklärung zur weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit.
Auch andere strategische Interessen verbinden Deutschland und Norwegen: Nach der Abkopplung Deutschlands von russischem Gas ist Norwegen Ende 2023 zum wichtigsten Gaslieferanten für Deutschland geworden. Die Sprengung der für Deutschland wichtigen Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee im September 2022 und die Beschädigung der Balticconnector-Pipeline zwischen Finnland und Estland im Oktober 2023 haben die erhöhte Gefahr von Sabotageakten gegen maritime Infrastrukturen und die damit verbundene Verwundbarkeit in das Bewusstsein der europäischen Gesellschaften und Entscheidungsträgerinnen und -träger gerückt. Insbesondere die Bedeutung Norwegens für die Versorgungssicherheit Deutschlands im Energiebereich hat deutlich zugenommen. Das dringende Eigeninteresse Deutschlands am Schutz der norwegischen Unterwasserinfrastruktur hat sich in einer deutsch-norwegischen Initiative manifestiert, in der beide Länder gemeinsam die Nato aufgefordert haben, den Schutz kritischer maritimer Infrastrukturen zu verbessern. Im April 2024 unterzeichneten vier weitere Nordsee-Anrainerstaaten (Belgien, Dänemark, die Niederlande und Schweden) mit Deutschland und Norwegen eine gemeinsame Erklärung zur Verbesserung der Zusammenarbeit und Koordinierung im Bereich des Schutzes maritimer Infrastrukturen. Seit Mai 2024 ist das neue Maritime Centre for Security of Critical Undersea Infrastructure der Nato in Großbritannien im Einsatz.
Deutschland hat daher ein Interesse daran, auch an der Nordflanke der Nato präsent zu sein. So beteiligte sich die deutsche Marine 2022 an der Überwachung des Seegebietes vor der norwegischen Küste. Für Norwegen ist die Anwesenheit der Bundeswehr und die enge Kooperation mit der deutschen Marine willkommen. Sollte Deutschland den Fokus im maritimen Bereich auf die Nordsee und die Kooperation mit Norwegen legen, müssten die Verpflichtungen Deutschlands im nordisch-baltischen Raum einzuhalten sein, weil die Litauen-Brigade wiederum die Landstreitkräfte beansprucht. So werden nicht dieselben Truppenstrukturen für mehrere Aufgabengebiete belastet. Jedoch kommen globale Einsätze wie das Indo-Pacific Deployment 2024 hinzu – laut der deutschen Marine eines der Manöver, die „das Engagement Deutschlands für freie und sichere Schifffahrtswege, eine regelbasierte internationale Ordnung und eine verstärkte Zusammenarbeit für maritime Sicherheit unter Beweis stellen. Für eine stark exportabhängige Volkswirtschaft wie die deutsche sind freie Seewege von vitalem Interesse. Der deutschen Marine droht jedoch eine Überdehnung, wenn immer mehr Aufgaben und Einsätze hinzukommen – bei einer Stellenbesetzungsquote von nur 79 Prozent. Wenn es nicht mehr nur darum geht, in Friedenszeiten Präsenz zu zeigen, sondern sich auf einen möglichen Krieg vorzubereiten, muss Deutschland seine trotz Sondervermögen begrenzten Ressourcen priorisieren. Dann kann es wichtiger sein, dass die Bundeswehr in Europa präsent und einsatzfähig ist, als sich weltweit zu zerstreuen. Eine sinnvolle Arbeitsteilung im Bündnis setzt Kapazitäten für andere Bündnispartner frei, um im Indopazifik effektiver zu agieren.
Logistische Drehscheibe
Wurde während des Kalten Krieges die erste Reaktion auf einen Angriff auf die Nato in Deutschland geplant, so liegt die neue antizipierte Front deutlich weiter östlich. Deutschland kommt damit die Rolle einer logistischen Drehscheibe zu, über die sich die Bündnistruppen von West nach Ost bewegen sollen. In der Bundeswehr herrscht ein klares Verständnis der Erwartungen an Deutschland im Bündnis. Aufgrund seiner Lage in der Mitte Europas und seiner Bevölkerungszahl kommen dem Land drei Hauptaufgaben zu: erstens als Truppensteller, zweitens als Empfänger von Bündnistruppen und drittens als Bereitsteller einer logistischen Basis für die Truppen. Mit Deutschland steht und fällt gegebenenfalls die erfolgreiche Verteidigung der Ostflanke, weshalb die Entwicklung des neuen Operationsplans Deutschland ein wichtiger Schritt zur „Kriegstüchtigkeit“ Deutschlands ist. Dabei muss auch die Infrastruktur neu bewertet werden, wenn beispielsweise tonnenschwere Kampfpanzer deutsche Brücken passieren sollen.
Die Herausforderungen für die Drehscheibe Deutschland sind beträchtlich, denn das Erwachen der deutschen politischen Führung aus dem Dornröschenschlaf der Friedensdividende erfolgte erst mit dem russischen Angriffskrieg am 24. Februar 2022. Es ist bezeichnend, dass die Bundeswehr trotz neuer Bündnisaufgaben nach 2014 bis 2022 alles mit dem single set of forces schaffen sollte, das eigentlich für die Ära des Krisenmanagements gedacht war. Mangelnde Voraussicht führt nun zu höheren Kosten und längeren Lieferzeiten, die sich bereits im Sondervermögen der Bundeswehr bemerkbar machen. Ein europaweites Problem ist auch, dass die meisten Länder keine ausreichenden Vorräte an Munition und anderem wichtigen Gerät haben, das an die Ukraine geliefert werden könnte. Die Doppelaufgabe, die Ukraine militärisch zu unterstützen und gleichzeitig die eigenen Streitkräfte auszubauen und zu modernisieren, erhöht den Bedarf und die Kosten exorbitant. Außerdem schlägt sich die Energiesituation auch in den Streitkräften nieder: Laut Wehrbericht 2023 sind die Betriebskosten der Truppe von rund 410 Millionen Euro für Heizung und Strom im Jahr 2022 auf über eine Milliarde Euro im Jahr 2023 enorm gestiegen.
Hinzu kommt, dass Deutschland nicht nur die 4800 Soldatinnen und Soldaten starke Litauen-Brigade versprochen hat, sondern ab 2025 auch 35.000 Kräfte für das neue Truppenmodell (New Force Model) der Nato, das die bisherige Reaction Force ablöst. Nach Angaben der Bundeswehr liegt der Schwerpunkt für Deutschland in Mittel- und Nordosteuropa sowie in östlichen Nachbarländern wie Polen oder Litauen. Die Truppenstärke der Bundeswehr ist jedoch rückläufig, und die Personalgewinnung bleibt eines der größten Probleme in Deutschland. Auch eine viel diskutierte Wehrpflicht kann das Problem nicht lösen, denn aufgrund der zahlreichen weiteren eingegangenen Nato-Verpflichtungen fehlt es der Bundeswehr an Ausbildungspersonal und -einrichtungen. Hinzu kommt eine im Wehrbericht 2023 zitierte Umfrage aus dem Jahr 2022, nach der sich in der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen nur 19 Prozent der Männer und 6 Prozent der Frauen vorstellen können, in der Bundeswehr zu dienen. Eine Zeitenwende zeichnet sich also zumindest in den Einstellungen junger Menschen, die das Land und das Bündnis verteidigen sollen, nicht ab. Um eine Überdehnung auch der Landstreitkräfte zu vermeiden, muss Deutschland bei seinen Plänen realistisch bleiben und nicht mehr versprechen, als es leisten kann.
Schluss
Die anfängliche Begeisterung über die von Bundeskanzler Olaf Scholz wenige Tage nach der russischen Invasion verkündete Zeitenwende ist im Nordosten Europas inzwischen verflogen. Die trotz Sondervermögen bestehenden Defizite der Bundeswehr sind inzwischen hinlänglich bekannt, was sich auf die Erwartungen in Nordosteuropa auswirkt. Von Deutschland wird keine Führungsrolle mehr erwartet – dazu sind die Deutschen trotz gegenteiliger Beteuerungen der politischen Führung offensichtlich noch nicht bereit. Das weitgehend unerfüllte Konzept Deutschlands als Anlehnungsmacht, an die sich kleinere europäische Staaten in Einsätzen andocken können, würde dem Anspruchsniveau entsprechen, das Deutschland sich selbst zutraut und seine Partner Deutschland zutrauen.
Unter den nordischen EU-Mitgliedern wird Deutschland zwar – insbesondere seit dem Brexit – als wichtiger gleichgesinnter größerer Partner in Politik und Wirtschaft angesehen. Laut einem Bericht des Norwegischen Instituts für Außenpolitik von 2021 hat der Brexit jedoch nichts daran geändert, dass Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden das Vereinigte Königreich weiterhin als ihren wichtigsten Sicherheits- und Verteidigungspartner betrachten. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Deutschland von keinem der nordischen Länder als wichtigster Verteidigungspartner in Europa eingestuft wird. Deutschland hat zwar die Verteidigungszusammenarbeit mit Norwegen deutlich erhöht, aber mit den neuen Nato-Mitgliedern Finnland und Schweden hat sich über Absichtserklärungen und gemeinsame Übungen hinaus noch nicht viel getan. Deutlich präsenter in der Region sind die beiden Nuklearmächte USA und Großbritannien. Die von Großbritannien geführte Joint Expeditionary Force mit den fünf nordischen und drei baltischen Ländern sowie den Niederlanden hat sich inzwischen zu einer operativen Gruppierung entwickelt, die dank ihrer Agilität in der Anfangsphase eines Konflikts eine Lücke zwischen der nationalen Verteidigung und der potenziell langsamen Aktivierung des Bündnisfalls der Nato füllen könnte. Deutschland fehlt eine ähnlich klare Rolle in der Region, und aufgrund der begrenzten personellen Möglichkeiten der kleinen nordischen Länder müssen auch bei Partnerschaften Prioritäten gesetzt werden.
Die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin verfasste 2018 einen Artikel in der Zeitschrift „Internationale Politik“ mit dem Titel „Rolle rückwärts. Deutschland droht ein sicherheitspolitischer Ansehens- und Vertrauensverlust“. Der Titel des Beitrags beschreibt die aktuelle Situation weiterhin treffend. Die Herausforderungen, vor denen die Bundeswehr steht, sind vielfältig. Umso wichtiger ist es, Aufgaben und Verpflichtungen realistisch zu priorisieren. Wenn die Bundesrepublik ihre Zusagen für die Litauen-Brigade einhält, ist das ein wichtiger Beitrag zur Bündnisverteidigung und ein Zeichen, dass Deutschland zu seinen Partnern steht, die sich für ihre Sicherheit auf Deutschland verlassen. Werden die Zusagen jedoch nicht eingehalten, droht ein endgültiger Ansehens- und Vertrauensverlust.