Seit Jahren fordern Politiker in Deutschland – vom Bundespräsidenten bis zur Wehrbeauftragten – eine breite gesellschaftliche Debatte über staatsbürgerliche Pflichten. Der Bundesverteidigungsminister, Boris Pistorius, kündigte kürzlich einen „neuen Wehrdienst“ an, der zum Ziel hat, die „Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr durch qualitative und quantitative Stärkung der personellen Reserven zur Landes- und Bündnisverteidigung“ zu gewährleisten.
Bundesverteidigungsminister Pistorius besuchte Anfang 2024 Schweden, Norwegen und Finnland und zeigte sich beeindruckt vom dort praktizierten Ansatz der Gesamtverteidigung.
Was den schwedischen Ansatz vom deutschen unterscheidet, ist die Orientierung an einem klar formulierten Ziel: Alle Menschen, die in Schweden leben, sollen auf den Ernstfall vorbereitet sein. Sowohl in Schweden als auch in Deutschland bestimmen seit dem 24. Februar 2022 Kriegsgefahren die öffentliche Debatte. Aus dieser „neuen Bedrohungssituation“ werden jedoch unterschiedliche Schlüsse gezogen.
Warum wird diskutiert?
Mit dem russischen Angriffskrieg ist die deutsche Verteidigungspolitik ins Zentrum der gesellschaftlichen, medialen und politischen Aufmerksamkeit gerückt. Neben der militärischen Unterstützung der Ukraine werden auch Investitionen in Personal, Material und Infrastruktur der Bundeswehr diskutiert – in Gesprächssendungen und Podcasts, im Bundestag und auf Demonstrationen. Ein anfänglicher Konsens, der sich nach der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur „Zeitenwende“ einstellte, scheint einer inneren Zerrissenheit gewichen zu sein. Beispielhaft hierfür ist die Wehrpflicht-Debatte.
Ausgesetzt wurde die Wehrpflicht 2011 von einer Koalition aus CDU/CSU und FDP. Eine breite parlamentarische Mehrheit trug die Entscheidung mit. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen plädierte für eine Abschaffung der Wehrpflicht, stimmte dem Gesetzesentwurf aber zu. Die Linke stimmte als einzige Fraktion dagegen. Eine sukzessive Reduktion der Wehrdienstdauer und Wehrpflichtraten hatte seit Ende des Kalten Krieges die bestehende Regelung zusehends unterminiert.
Wurde die Aussetzung der Wehrpflicht zunächst finanz- und haushaltspolitisch begründet, setzte der Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg Ende 2010 auf sicherheitspolitische Argumente.
Ein erstes Umdenken setzte 2014 nach dem russischen Einmarsch in die Ostukraine ein: Die Verteidigungsausgaben stiegen wieder an, Landes- und Bündnisverteidigung wurde priorisiert, „Trendwenden“ sollten die Modernisierung der Bundeswehr voranbringen. Eine Rückkehr zur Wehrpflicht wurde von der damaligen Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen ausgeschlossen: „Die Bundeswehr braucht heute mehr Qualität als Masse“.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat in Deutschland nicht alle Gewissheiten schwinden lassen. So sagte der Bundeskanzler Anfang 2023, dass die Rückkehr zur Wehrpflicht (und damit auch die Einführung einer Dienstpflicht) keinen Sinn ergebe.
Was wird diskutiert?
Der Bundesverteidigungsminister spricht von einer „wehrhaften“ und „kriegstüchtigen“ Gesellschaft. Die meisten Politiker der Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP machten sich diese Worte nicht zu eigen. Es entstand aber nach dem 24. Februar 2022 ein Konsens darüber, dass sich Deutschland gemeinsam gegen innere und äußere Bedrohungen wappnen müsse. In der Nationalen Sicherheitsstrategie heißt es: „Sicherheit geht alle Menschen in unserem Land etwas an, alle tragen dafür Verantwortung und haben etwas beizutragen.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach sich für eine soziale Pflichtzeit aus, um mehr Möglichkeiten der Begegnung und des Austauschs zu schaffen und damit „wieder zu mehr Gemeinsinn [zu] kommen“.
Nicht viel ist an dem Dienst gänzlich neu, bietet die Bundeswehr doch bereits zwei Freiwilligendienste an. Die Wehrerfassung wird wieder aufgenommen. Alle Männer und Frauen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, erhalten von der Bundeswehr einen Fragebogen. Männer sind verpflichtet, die darin gelisteten Fragen zu ihrer körperlichen Eignung und ihrem Interesse an der Bundeswehr zu beantworten. Frauen müssen sich nicht zurückzumelden. Es sollen diejenigen ausgewählt werden, die „am fittesten, am geeignetsten und am motiviertesten“ sind.
Der Schluss liegt nahe, dass Pistorius’ Wehrdienstmodell das abbildet, was möglich ist, und nicht das, was dem Bundesverteidigungsminister nötig erscheint. Einschneidendere Maßnahmen wurden – mit dem Verweis auf Mehrheitsverhältnisse, weiteren Diskussionsbedarf und langwierige legislative Prozesse – auf die nächste Legislaturperiode verschoben.
Nachfolgend wird aufgezeigt, welche Argumente die Debatte bestimmen. Normative und instrumentelle Argumente konkurrieren. Werte wie Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit und sozialer Zusammenhalt bilden den Rahmen für Kosten-Nutzen-Kalkulationen.
Sicherheit: Der Bundesverteidigungsminister begründete die Einführung des „neuen Wehrdienstes“ mit einer veränderten Bedrohungslage. Russland sei spätestens 2029 in der Lage, die Nato anzugreifen, und darauf müsse Deutschland vorbereitet sein. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien beschreiben eine „unmittelbare Bedrohung für die Souveränität und territoriale Integrität Deutschlands und seiner Verbündeten“.
Freiheit: Obgleich Sicherheit und Freiheit zuweilen in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden, spricht Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von der „Sicherheit der Freiheit unseres Lebens“.
Gerechtigkeit: Frauen werden durch das neue Wehrdienstmodell zu nichts verpflichtet. Vom Bundesverteidigungsminister wird dies damit begründet, dass eine Grundgesetzänderung in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr umzusetzen sei. Die Wehrbeauftragte sprach sich dafür aus, zukünftig beide Geschlechter zu verpflichten – im Rahmen eines Gesellschaftsjahrs, das ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten bietet.
Sozialer Zusammenhalt: Der Bundesverteidigungsminister hatte die Debatte über die Wehrpflicht anfangs in einen größeren Zusammenhang gestellt. Pistorius teilte seine Beobachtung, dass sich Staat und Gesellschaft zunehmend entfremdeten.
Neben normativen bestimmten auch instrumentelle Argumente die Debatte. Wie schon in den Jahren zuvor verwiesen Politiker auf den geringen militärischen Nutzen von Wehrpflichtigen. Insbesondere die FDP kritisierte, dass die Wehrpflicht keinen Beitrag zur „gesamtgesellschaftlichen Resilienz“ leisten und die Probleme der Bundeswehr nicht lösen könne.
Neben dem militärischen Nutzen wurden auch die Kosten eines verpflichtenden Dienstes hinterfragt. Die FDP stützte ihre Kritik auf eine Studie des ifo-Instituts, die das Bundesfinanzministerium beauftragt hatte. Demnach entstünden durch einen solchen Dienst hohe volkswirtschaftliche Kosten – insbesondere durch einen späteren Einstieg in die Bildungs- und Berufsplanung und einem Rückgang des privaten Konsums.
Blick nach Schweden
Der Bundesverteidigungsminister brachte wiederholt das „schwedische Modell“ der Wehrpflicht in die Debatte ein. Insbesondere zwei Merkmale hob er hervor: Auswahl und Freiwilligkeit. In Schweden werden zurzeit die Grenzen dieses Ansatzes ersichtlich. 2024 wurden zum ersten Mal junge Männer und Frauen zur Musterung einberufen, die im Fragebogen angegeben hatten, gar nicht motiviert zu sein.
In der deutschen Debatte wird häufig der Kontext ausgeblendet, in dem die 2017 beschlossene Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden steht. 2015 wurden die Planungen ziviler und militärischer Organisationen für die gemeinsame Verteidigung Schwedens wieder aufgenommen. Begründet wurde dies mit der verschlechterten Sicherheitslage. Schweden müsse sich auf einen Krieg vorbereiten. Die gesamte Zivilbevölkerung ist rechtlich verpflichtet, zur Gesamtverteidigung beizutragen. Bei Kriegsgefahr oder Kriegsausbruch gelten Wehrpflicht (Värnplikt), Zivilpflicht (Civilplikt) und allgemeine Dienstpflicht (Allmän tjänsteplikt). Und zwar für alle Menschen, die im Land leben – nicht ausschließlich für Staatsbürger.
Der schwedische Minister für Zivilverteidigung machte zu Beginn des Jahres deutlich, dass es „Krieg in Schweden geben könne“ und sich alle jetzt darauf einstellen müssten: „Wer bist du, wenn der Krieg kommt?“
Zusätzlich zur Wehrpflicht hat Schweden Anfang 2024 die Zivilpflicht aktiviert. Zunächst können sich Personen mit einschlägiger Erfahrung melden, um im Bereich der kommunalen Rettungsdienste und der Stromversorgung tätig zu werden.
Fazit
Deutschland diskutiert seit dem 24. Februar 2022 über Krieg in Europa. Nach einem ersten Schock hat sich inner- und zwischenparteilicher Richtungsstreit Bahn gebrochen. Ein Bespiel hierfür ist die Frage nach der Wehrpflicht. Was im Jahr 2011 die Aussetzung des verpflichtenden Grundwehrdienstes begründete, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Dennoch herrscht kein Konsens darüber, wie bedrohlich die Lage ist und welche Schlüsse daraus gezogen werden müssen. Selbst der von Pistorius vorgeschlagene „neue Wehrdienst“, der das begrenzte Ziel verfolgt, die Reserve durch ehemalige freiwillig Wehrdienstleistende aufzustocken, ist umstritten. Der Vergleich mit Schweden zeigt, dass nicht eine einzelne Maßnahme entscheidend ist, um als Gesellschaft wehrhaft zu werden. Vielmehr geht es darum, ein Ziel auszugeben, an dem sich alle orientieren können. Obwohl Deutschland einen integrierten Sicherheitsansatz verfolgt und sich zur Gesamtverteidigung bekennt, scheint sich hieraus keine strategische Orientierung für Worte und Taten abzuleiten.