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Wie wir wehrhaft werden | Bundeswehr | bpb.de

Bundeswehr Editorial Kriegstüchtig? Zur Zeitenwende in Politik, Gesellschaft und Truppe Wie wir wehrhaft werden. Zu den Grenzen der Freiwilligkeit in Zeiten des Krieges Preis der Freiheit. Zu den ökonomischen Kosten der Zeitenwende Extremismus in der Bundeswehr. Ausmaß, Ursachen, Wirkungen Drehscheibe Deutschland. Die Bundeswehr im Nato-Kontext Zäsur Afghanistan-Einsatz? Lehren für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik Schleichende Militarisierung. Beobachtungen zur Veränderung der Zivilgesellschaft

Wie wir wehrhaft werden Zu den Grenzen der Freiwilligkeit in Zeiten des Krieges

Alexandra M. Friede

/ 13 Minuten zu lesen

Deutschland setzt beim Grundwehrdienst auf Freiwilligkeit. Die Freiwilligkeit stößt aber an Grenzen – spätestens im Spannungs- oder Verteidigungsfall, wenn die allgemeine Wehrpflicht wieder einsetzt und mobilisiert werden muss.

Seit Jahren fordern Politiker in Deutschland – vom Bundespräsidenten bis zur Wehrbeauftragten – eine breite gesellschaftliche Debatte über staatsbürgerliche Pflichten. Der Bundesverteidigungsminister, Boris Pistorius, kündigte kürzlich einen „neuen Wehrdienst“ an, der zum Ziel hat, die „Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr durch qualitative und quantitative Stärkung der personellen Reserven zur Landes- und Bündnisverteidigung“ zu gewährleisten. Zwar müssen alle Männer, die das wehrfähige Alter erreichen, einen Fragebogen ausfüllen, zurückschicken und gegebenenfalls zur Musterung erscheinen, sie werden aber nicht gegen ihren Willen eingezogen. Deutschland setzt beim Grundwehrdienst und Reservistendienst auf Freiwilligkeit. Aber Freiwilligkeit stößt unweigerlich an Grenzen – spätestens im Spannungs- oder Verteidigungsfall, wenn die allgemeine Wehrpflicht wieder auflebt und eine schnelle Mobilisierung erfolgen muss. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 wird das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung in Deutschland neu austariert. Diese Debatte wird im Folgenden beleuchtet. Hierzu werfe ich auch einen Blick nach Schweden.

Bundesverteidigungsminister Pistorius besuchte Anfang 2024 Schweden, Norwegen und Finnland und zeigte sich beeindruckt vom dort praktizierten Ansatz der Gesamtverteidigung. Auch wenn sich die Umsetzung in den genannten Ländern unterscheidet, scheint die Idee eines „skandinavischen Modells“ in der deutschen Debatte zu verfangen, insbesondere Schweden wird als Vorbild herangezogen. Oft werden einzelne Maßnahmen der schwedischen Regierung, wie die 2017 wieder eingeführte Wehrpflicht, isoliert betrachtet. Die 2015 reaktivierten Planungen der Gesamtverteidigung bilden allerdings den Rahmen aller Einzelmaßnahmen. Die gesamte Bevölkerung ist rechtlich verpflichtet, ihren Beitrag zur Verteidigung Schwedens zu leisten – sei es im zivilen oder militärischen Bereich – und wird darauf mit Informations- und Trainingsangeboten vorbereitet. Neben dem Dienst an der Waffe steht auch die psychische Widerstandsfähigkeit im Fokus.

Was den schwedischen Ansatz vom deutschen unterscheidet, ist die Orientierung an einem klar formulierten Ziel: Alle Menschen, die in Schweden leben, sollen auf den Ernstfall vorbereitet sein. Sowohl in Schweden als auch in Deutschland bestimmen seit dem 24. Februar 2022 Kriegsgefahren die öffentliche Debatte. Aus dieser „neuen Bedrohungssituation“ werden jedoch unterschiedliche Schlüsse gezogen.

Warum wird diskutiert?

Mit dem russischen Angriffskrieg ist die deutsche Verteidigungspolitik ins Zentrum der gesellschaftlichen, medialen und politischen Aufmerksamkeit gerückt. Neben der militärischen Unterstützung der Ukraine werden auch Investitionen in Personal, Material und Infrastruktur der Bundeswehr diskutiert – in Gesprächssendungen und Podcasts, im Bundestag und auf Demonstrationen. Ein anfänglicher Konsens, der sich nach der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur „Zeitenwende“ einstellte, scheint einer inneren Zerrissenheit gewichen zu sein. Beispielhaft hierfür ist die Wehrpflicht-Debatte.

Ausgesetzt wurde die Wehrpflicht 2011 von einer Koalition aus CDU/CSU und FDP. Eine breite parlamentarische Mehrheit trug die Entscheidung mit. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen plädierte für eine Abschaffung der Wehrpflicht, stimmte dem Gesetzesentwurf aber zu. Die Linke stimmte als einzige Fraktion dagegen. Eine sukzessive Reduktion der Wehrdienstdauer und Wehrpflichtraten hatte seit Ende des Kalten Krieges die bestehende Regelung zusehends unterminiert. Dennoch galt die Wehrpflicht lange als unumstößlich, insbesondere innerhalb der CDU/CSU.

Wurde die Aussetzung der Wehrpflicht zunächst finanz- und haushaltspolitisch begründet, setzte der Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg Ende 2010 auf sicherheitspolitische Argumente. Zu Guttenberg betonte auf einem Parteitag der CDU: „Wir dürfen in diesem Land keine Bundeswehr nach Kassenlage haben“. Gleichwohl müsse die Bundeswehr sich an veränderte Einsatzszenarien anpassen, um militärisch handlungsfähig zu bleiben. Strukturelle Reformen gingen mit einem sinkenden Verteidigungsetat, einer reduzierten Truppenstärke und Standortschließungen einher. Im Gesetzesentwurf wird die Aussetzung der Wehrpflicht mit der „dauerhaft veränderten sicherheits- und verteidigungspolitischen Lage“ begründet, die einen solchen Grundrechtseingriff nicht mehr rechtfertige. Das durch die Aussetzung der Wehrpflicht entstandene Vakuum sollte durch Freiwilligendienste „im Sinne einer aktiven Bürgergesellschaft“ gefüllt werden.

Ein erstes Umdenken setzte 2014 nach dem russischen Einmarsch in die Ostukraine ein: Die Verteidigungsausgaben stiegen wieder an, Landes- und Bündnisverteidigung wurde priorisiert, „Trendwenden“ sollten die Modernisierung der Bundeswehr voranbringen. Eine Rückkehr zur Wehrpflicht wurde von der damaligen Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen ausgeschlossen: „Die Bundeswehr braucht heute mehr Qualität als Masse“. Als Vorsitzende der CDU und Bundesverteidigungsministerin stellte Annegret Kramp-Karrenbauer 2019 eine Dienstpflicht zur Diskussion. In ihrem Ressort setzte sie 2021 einen Freiwilligen Wehrdienst im Heimatschutz um. Der Freiwilligendienst wird als „Dein Jahr für Deutschland“ beworben. Ein damit verbundenes Versprechen ist die heimatnahe Verwendung; Auslandseinsätze sind ausgeschlossen. Da die Wehrdienstleistenden nach ihrer Grund- und Spezialausbildung in die Reserve überführt werden, soll der Dienst auch zur Stärkung der territorialen Reserve beitragen. Nachwuchsgewinnung, militärischer Nutzen und Gemeinwohlorientierung ergänzen sich. Für Kramp-Karrenbauer ist es dieses freiwillige Engagement, das „unsere Gesellschaft zusammenhält“.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat in Deutschland nicht alle Gewissheiten schwinden lassen. So sagte der Bundeskanzler Anfang 2023, dass die Rückkehr zur Wehrpflicht (und damit auch die Einführung einer Dienstpflicht) keinen Sinn ergebe. Dass eine solche Debatte dennoch geführt wird, ist auch auf Bundesverteidigungsminister Pistorius zurückzuführen, der in seinem ersten Amtsjahr klarstellte: „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ Damit setzte er den Ton für die anschließende Debatte.

Was wird diskutiert?

Der Bundesverteidigungsminister spricht von einer „wehrhaften“ und „kriegstüchtigen“ Gesellschaft. Die meisten Politiker der Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP machten sich diese Worte nicht zu eigen. Es entstand aber nach dem 24. Februar 2022 ein Konsens darüber, dass sich Deutschland gemeinsam gegen innere und äußere Bedrohungen wappnen müsse. In der Nationalen Sicherheitsstrategie heißt es: „Sicherheit geht alle Menschen in unserem Land etwas an, alle tragen dafür Verantwortung und haben etwas beizutragen.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach sich für eine soziale Pflichtzeit aus, um mehr Möglichkeiten der Begegnung und des Austauschs zu schaffen und damit „wieder zu mehr Gemeinsinn [zu] kommen“. Ein Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Verbänden forderte einen Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst, ein höheres Taschengeld für Freiwillige und die gezielte Ansprache aller jungen Menschen, um freiwilliges Engagement „selbstverständlich“ zu machen. Während diese Vorstöße auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zielen, ist der von Bundesverteidigungsminister Pistorius vorgestellte „neue Wehrdienst“ an den Kapazitäten und Bedarfen der Streitkräfte ausgerichtet. Zwar setzt der „neue Wehrdienst“ zunächst auf Freiwilligkeit, aber Pistorius kündigte an: „Ganz ohne Pflicht wird es nicht gehen.“

Nicht viel ist an dem Dienst gänzlich neu, bietet die Bundeswehr doch bereits zwei Freiwilligendienste an. Die Wehrerfassung wird wieder aufgenommen. Alle Männer und Frauen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, erhalten von der Bundeswehr einen Fragebogen. Männer sind verpflichtet, die darin gelisteten Fragen zu ihrer körperlichen Eignung und ihrem Interesse an der Bundeswehr zu beantworten. Frauen müssen sich nicht zurückzumelden. Es sollen diejenigen ausgewählt werden, die „am fittesten, am geeignetsten und am motiviertesten“ sind. Geplant ist, 400.000 Männer und Frauen zu kontaktieren, 40.000 bis 50.000 zu mustern und 5.000 auszubilden. Die Zahl der Wehrdienstleistenden soll ansteigen und damit das Ziel von 200.000 zusätzlichen Reservisten bis 2029 erreicht werden.

Der Schluss liegt nahe, dass Pistorius’ Wehrdienstmodell das abbildet, was möglich ist, und nicht das, was dem Bundesverteidigungsminister nötig erscheint. Einschneidendere Maßnahmen wurden – mit dem Verweis auf Mehrheitsverhältnisse, weiteren Diskussionsbedarf und langwierige legislative Prozesse – auf die nächste Legislaturperiode verschoben.

Nachfolgend wird aufgezeigt, welche Argumente die Debatte bestimmen. Normative und instrumentelle Argumente konkurrieren. Werte wie Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit und sozialer Zusammenhalt bilden den Rahmen für Kosten-Nutzen-Kalkulationen.

Sicherheit: Der Bundesverteidigungsminister begründete die Einführung des „neuen Wehrdienstes“ mit einer veränderten Bedrohungslage. Russland sei spätestens 2029 in der Lage, die Nato anzugreifen, und darauf müsse Deutschland vorbereitet sein. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien beschreiben eine „unmittelbare Bedrohung für die Souveränität und territoriale Integrität Deutschlands und seiner Verbündeten“. Laut den novellierten Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung ist Deutschland „militärisch bedroht“. Während der Bundesverteidigungsminister einen „Mentalitätswandel“ forderte, versicherte der Bundeskanzler seinen Landsleuten, dass Deutschland und die Nato nicht in einen Krieg hineingezogen würden. Eine aufrüttelnde, von dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als „Kriegsrhetorik“ diffamierte Sprache steht einer beschwichtigenden entgegen. An dem Versprechen von Sicherheit, das im Koalitionsvertrag formuliert wurde, wird festgehalten.

Freiheit: Obgleich Sicherheit und Freiheit zuweilen in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden, spricht Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von der „Sicherheit der Freiheit unseres Lebens“. In der Ukraine gehe es um mehr als Sicherheit. Es gehe um ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Laut der Wehrbeauftragten Eva Högl sei es notwendig, die „Gesellschaft als Ganzes in die Lage zu versetzen, unseren Frieden und unsere Freiheit zu verteidigen“. Ein verpflichtender Dienst an der Gesellschaft könne hierzu beitragen. Der CSU-Vorsitzende Markus Söder stimmte – nach einer anfänglich ablehnenden Haltung – mit ein: „Es geht um die Sicherheit und Freiheit Deutschlands in schwierigen Zeiten“. Die FDP wiederum kritisierte einen solchen Eingriff in die persönliche Freiheit junger Menschen als „unverhältnismäßig“ und lehnte eine „Gespensterdiskussion“ ab. Die aktuelle Bedrohungslage könne einen solchen Eingriff nicht rechtfertigen. SPD-Chefin Saskia Esken sekundierte: "Ich halte wenig von einer Wiedereinführung einer Pflicht, einer Verpflichtung von erwachsenen Menschen, schon mal grundsätzlich aus meinem Menschenbild heraus." Es mag auch an dieser Kontroverse liegen, dass der Bundesverteidigungsminister immer wieder herausstellte, dass niemand die alte Wehrpflicht zurück haben wolle. Der „neue Wehrdienst“ sei freiwillig und könne jungen Menschen eine „sinnstiftende Aufgabe“ bieten.

Gerechtigkeit: Frauen werden durch das neue Wehrdienstmodell zu nichts verpflichtet. Vom Bundesverteidigungsminister wird dies damit begründet, dass eine Grundgesetzänderung in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr umzusetzen sei. Die Wehrbeauftragte sprach sich dafür aus, zukünftig beide Geschlechter zu verpflichten – im Rahmen eines Gesellschaftsjahrs, das ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten bietet. Der Generalinspekteur der Bundeswehr merkte an, dass in der Frage der Wehrpflicht Gleichberechtigung erreicht werden müsse. Selbst Politikerinnen aus Parteien, die sich gegen einen verpflichtenden Dienst an der Waffe aussprachen, zeigten sich aufgeschlossen. Kritisiert wurde von Grüner Jugend, Jungen Liberalen und FDP, dass junge Menschen übermäßig belastet würden. Eine Wehrpflicht mache jüngere Generationen „zum Notnagel der Bundeswehr“.

Sozialer Zusammenhalt: Der Bundesverteidigungsminister hatte die Debatte über die Wehrpflicht anfangs in einen größeren Zusammenhang gestellt. Pistorius teilte seine Beobachtung, dass sich Staat und Gesellschaft zunehmend entfremdeten. Der verpflichtende Grundwehrdienst hätte auch dazu beigetragen, das Band zwischen Bundeswehr und Gesellschaft zu festigen. Dieses Argument rückte zusehends in den Hintergrund – und wurde hauptsächlich mit Bezug auf soziale Pflichtzeit, Gesellschaftsjahr oder Dienstpflicht vorgebracht.

Neben normativen bestimmten auch instrumentelle Argumente die Debatte. Wie schon in den Jahren zuvor verwiesen Politiker auf den geringen militärischen Nutzen von Wehrpflichtigen. Insbesondere die FDP kritisierte, dass die Wehrpflicht keinen Beitrag zur „gesamtgesellschaftlichen Resilienz“ leisten und die Probleme der Bundeswehr nicht lösen könne. Moderne, professionelle Streitkräfte bräuchten keine Wehrpflichtigen. Vielmehr müsse die Bundeswehr reformiert werden, um den Dienst an der Waffe attraktiver zu machen. Der damalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert beschied, dass die Debatte von dringlichen Problemen ablenke und längst entschieden sei. Ähnlich äußerte sich der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn. Sein Nachfolger Carsten Breuer unterstrich wiederum, dass der von Pistorius vorgeschlagene Dienst den zusätzlichen Bedarf an Reservisten decken könne. Die CSU bezeichnete den Vorschlag als „kümmerlich“, und die CDU bekannte sich zu dem Ziel, die Wehrpflicht wieder einzusetzen und perspektivisch in ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr zu überführen.

Neben dem militärischen Nutzen wurden auch die Kosten eines verpflichtenden Dienstes hinterfragt. Die FDP stützte ihre Kritik auf eine Studie des ifo-Instituts, die das Bundesfinanzministerium beauftragt hatte. Demnach entstünden durch einen solchen Dienst hohe volkswirtschaftliche Kosten – insbesondere durch einen späteren Einstieg in die Bildungs- und Berufsplanung und einem Rückgang des privaten Konsums. Bereits zuvor hatten die Jungen Liberalen eine Wehrpflicht aufgrund der wirtschaftlichen Folgen als „politisch unverantwortlichen Wahnsinn“ gebrandmarkt. Die Replik des Bundesverteidigungsministers, wonach Krieg immer teurer als glaubhafte Abschreckung sei, veranschaulicht einen unversöhnlichen Gegensatz.

Blick nach Schweden

Der Bundesverteidigungsminister brachte wiederholt das „schwedische Modell“ der Wehrpflicht in die Debatte ein. Insbesondere zwei Merkmale hob er hervor: Auswahl und Freiwilligkeit. In Schweden werden zurzeit die Grenzen dieses Ansatzes ersichtlich. 2024 wurden zum ersten Mal junge Männer und Frauen zur Musterung einberufen, die im Fragebogen angegeben hatten, gar nicht motiviert zu sein. Bis 2030 soll die Zahl an Wehrpflichtigen auf 10.000 ansteigen; das entspräche rund zehn Prozent der Alterskohorte und einer Verdopplung innerhalb von zehn Jahren. Zudem lässt eine geschlechtsneutrale Wehrpflicht geschlechtsspezifische Unterschiede nicht verschwinden. Zurzeit sind weniger als zwanzig Prozent der Wehrdienstleistenden weiblich, obwohl alle Geschlechter den gleichen Pflichten unterliegen. Ebenfalls unterrepräsentiert sind Schweden mit Migrationshintergrund.

In der deutschen Debatte wird häufig der Kontext ausgeblendet, in dem die 2017 beschlossene Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden steht. 2015 wurden die Planungen ziviler und militärischer Organisationen für die gemeinsame Verteidigung Schwedens wieder aufgenommen. Begründet wurde dies mit der verschlechterten Sicherheitslage. Schweden müsse sich auf einen Krieg vorbereiten. Die gesamte Zivilbevölkerung ist rechtlich verpflichtet, zur Gesamtverteidigung beizutragen. Bei Kriegsgefahr oder Kriegsausbruch gelten Wehrpflicht (Värnplikt), Zivilpflicht (Civilplikt) und allgemeine Dienstpflicht (Allmän tjänsteplikt). Und zwar für alle Menschen, die im Land leben – nicht ausschließlich für Staatsbürger.

Der schwedische Minister für Zivilverteidigung machte zu Beginn des Jahres deutlich, dass es „Krieg in Schweden geben könne“ und sich alle jetzt darauf einstellen müssten: „Wer bist du, wenn der Krieg kommt?“ Bereits 2018 hatte die Zivilschutzbehörde die Broschüre „Wenn Krise oder Krieg eintreten“ an alle Haushalte verschickt, um über Risiken und Vorsorgemaßnahmen zu informieren. Eine Neuauflage erschien im Herbst 2024. Die aktualisierte Broschüre ist umfangreicher und inhaltlich an militärischen Bedrohungen ausgerichtet, beispielsweise wurden Informationen zum richtigen Verhalten während eines Luftangriffs ergänzt.

Zusätzlich zur Wehrpflicht hat Schweden Anfang 2024 die Zivilpflicht aktiviert. Zunächst können sich Personen mit einschlägiger Erfahrung melden, um im Bereich der kommunalen Rettungsdienste und der Stromversorgung tätig zu werden. Gänzlich freiwillig ist das Engagement in den Heimatschutzkräften, die in die Streitkräfte integriert sind. Die Einheiten der Heimatschutzkräfte sind über das Land verteilt und schnell einsatzbereit. Seit der russischen Vollinvasion der Ukraine hat sich das Interesse am Dienst in den Heimatschutzkräften enorm gesteigert – mit dem Effekt, dass 10.000 der 40.000 zwischen 2022 und Juli 2024 eingegangenen Bewerbungen noch bearbeitet werden. Zurzeit dienen 22.000 Schweden in den Heimatschutzkräften. Zudem gibt es 18 freiwillige Verteidigungsorganisationen mit ungefähr 400.000 Mitgliedern, die spezielle Fähigkeiten in die Gesamtverteidigung einbringen – von der Tierversorgung bis zum Funkverkehr.

Fazit

Deutschland diskutiert seit dem 24. Februar 2022 über Krieg in Europa. Nach einem ersten Schock hat sich inner- und zwischenparteilicher Richtungsstreit Bahn gebrochen. Ein Bespiel hierfür ist die Frage nach der Wehrpflicht. Was im Jahr 2011 die Aussetzung des verpflichtenden Grundwehrdienstes begründete, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Dennoch herrscht kein Konsens darüber, wie bedrohlich die Lage ist und welche Schlüsse daraus gezogen werden müssen. Selbst der von Pistorius vorgeschlagene „neue Wehrdienst“, der das begrenzte Ziel verfolgt, die Reserve durch ehemalige freiwillig Wehrdienstleistende aufzustocken, ist umstritten. Der Vergleich mit Schweden zeigt, dass nicht eine einzelne Maßnahme entscheidend ist, um als Gesellschaft wehrhaft zu werden. Vielmehr geht es darum, ein Ziel auszugeben, an dem sich alle orientieren können. Obwohl Deutschland einen integrierten Sicherheitsansatz verfolgt und sich zur Gesamtverteidigung bekennt, scheint sich hieraus keine strategische Orientierung für Worte und Taten abzuleiten.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Sie forscht zu Verteidigungspolitiken im Ostseeraum. 2024 war sie Gastwissenschaftlerin an der Universität Göteborg.