„Wir müssen kriegstüchtig werden – wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ Es waren bemerkenswerte Worte, die Verteidigungsminister Boris Pistorius am 29. Oktober 2023 in der Sendung „Berlin direkt“ sprach.
„Kriegstüchtigkeit“ ist ein alter militärischer Begriff, der in der Bundeswehr mal mehr und mal weniger im Gebrauch war. In der Zeit der Auslandseinsätze in den 1990er Jahren wurde er seltener verwendet, erlebte aber ab 2019 ein Revival. Was Militärs hinter verschlossenen Türen schrieben, war freilich das eine, was Politiker öffentlich sagten, das andere. Verteidigungsminister haben in den vergangenen Jahrzehnten die Begriffe „Krieg“ und „Kampf“ gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Im „Weißbuch 2016“ zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr kommen sie praktisch nicht vor. Zwei Jahre nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass war die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen offenbar nicht willens, die Dinge beim Namen zu nennen. Boris Pistorius folgt dieser Haltung nicht. Er spricht vom „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ – so wie Politiker zuletzt im Kalten Krieg.
Nach alter bundesrepublikanischer Sitte wäre nach solchen Worten ein Sturm der Entrüstung zu erwarten gewesen. Erinnert sei an Horst Köhler, der 2005 von seinem Amt als Bundespräsident zurücktrat, weil seine Äußerung, Deutschland müsse mit seinem Militär auch wirtschaftliche Interessen sichern, auf heftige öffentliche Kritik gestoßen war. Mit dem Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 sind Dinge sagbar geworden, die vorher geradezu unvorstellbar waren. So stimmte etwa der Journalist Carsten Schmiester im Deutschlandfunk den Aussagen von Pistorius zur Kriegstüchtigkeit zu und forderte, die Deutschen müssten raus aus der „friedensbewegten Komfortzone“.
Der Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ ist in der Debatte eingeführt und wird als Referenzpunkt deutscher Verteidigungspolitik verwendet. Die allermeisten Politiker haben den Begriff trotzdem nicht übernommen. Man wisse zwar, was Pistorius meine, wolle es aber so nicht ausdrücken, hieß es. Zustimmung kam lediglich von der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann und der Wehrbeauftragten Eva Högl.
Boris Pistorius hat einen von mehreren Impulsen für einen Kulturwandel im Umgang mit sicherheitspolitischen Realitäten gesetzt. Zuvor hatten der Linkedin-Beitrag des Inspekteurs des Heeres, Alfons Mais, vom 24. Februar 2022 – die Landstreitkräfte stünden „mehr oder weniger blank“ – sowie die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers drei Tage später die Dinge in Bewegung gebracht. Sie eröffneten auch den Raum etwa für den Generalinspekteur Carsten Breuer, der seit seiner Amtsübernahme im März 2023 in seinen Reden immer wieder von „Kriegstüchtigkeit“ sprach und damit dem Ministerwort diskursiv den Boden bereitete.
Diese semantische Entwicklung ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Boris Pistorius und Carsten Breuer haben mit dem Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ deutlich gemacht, wo es hingehen soll: Deutschland und Europa sollen in der Lage sein, einen russischen Angriff auf das Nato-Gebiet abzuwehren. Und ein solcher Angriff wäre dann nicht mehr ein niederschwelliger Konflikt, sondern ein zwischenstaatlicher Krieg. Und sie sagen auch, dass die Bundesrepublik diesen potenziell drohenden Kampf nicht nur führen, sondern auch gewinnen können sollte. „Kriegstüchtigkeit“ ist also nicht Ausdruck eines überbordenden Selbstbewusstseins, Gewalt als Mittel der Politik einzusetzen,
Vom Zaudern der Politik
Die Entscheidungen der Bundesregierung zur Zeitenwende lagen bislang weitgehend unterhalb der politischen Schmerzgrenze. Durch das Sondervermögen wurde niemandem Geld weggenommen, deshalb gab es auch keine Verteilungskämpfe. Zwar war es für die Parteilinken in der SPD ein Graus, überhaupt Geld für mehr Rüstung auszugeben. Aber angesichts der dramatischen sicherheitspolitischen Lage und einer unterfinanzierten Bundeswehr stellten sie sich nicht gegen den Bundeskanzler. Auch die Zusage, dauerhaft zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren, hat bislang niemandem wehgetan. Olaf Scholz wurde zwar nicht müde, die Gültigkeit dieser Zusage zu betonen. Er hat aber bislang noch nicht gesagt, woher das Geld für ein Aufstocken des regulären Verteidigungshaushalts auf über 80 Milliarden Euro kommen soll, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist. Es kann letztlich nur über Umschichtungen im Haushalt, durch mehr Schulden oder durch einen Kompromiss aus beidem finanziert werden. Für eine Lösung gibt es zurzeit keine politischen Mehrheiten, sodass die Bedeutung der Zusage begrenzt ist.
Auch in anderen Bereichen bewegten sich Kabinett und Parlament bisher nicht. Eines der zentralen Probleme der Bundeswehr ist der Personalmangel. Der angestrebte Aufwuchs auf 203.000 Soldaten kommt nicht voran, und stattdessen stagniert die Kopfstärke auf dem Level von rund 181.000 Soldaten. Verbesserte Werbung und Beratung, Investitionen in die Ausbildung von Fachkräften oder die Regionalisierung der Personalrekrutierung, wie sie die Task Force Personal im Dezember 2023 vorgestellt hat,
Auch in anderen – weniger im Vordergrund stehenden – Bereichen hat die Regierung bis heute noch keine Entscheidungen getroffen. Lange schon wird debattiert, ob es nicht an der Zeit wäre, das Prinzip der sogenannten 25-Millionen-Vorlagen zu ändern. Danach müssen alle Beschaffungen für die Streitkräfte, die einen Wert von 25 Millionen Euro übersteigen, dem Haushaltsausschuss des Bundestages zur Zustimmung vorgelegt werden. Der Ausschuss hatte diese Regelung 1981 eingeführt, nachdem die Kosten für das Kampfflugzeug Tornado aus dem Ruder gelaufen waren. Diese Praxis verlangsamt den Beschaffungsprozess, zumal es ein erheblicher Aufwand ist, die Vorlagen zu erstellen. Zudem gibt diese Verfahrensweise den Abgeordneten die Möglichkeit, eigene Lobbyinteressen durchzusetzen. Alle Versuche, diese Praxis zu reformieren, sind gescheitert. Die Abgeordneten des Haushaltsausschusses verteidigen hartnäckig ihre Privilegien und demonstrieren einmal mehr, dass andere für die Zeitenwende zuständig seien. Ein Signal der Reform wäre es, wenn sich das Parlament darauf beschränken würde, nur noch bei besonders kostspieligen und politisch bedeutsamen Beschaffungen wie der F-35 oder neuen Fregatten ein prüfendes Auge auf die Vorlagen zu werfen.
Eigentlich ist es die Aufgabe des Kabinetts und des Bundestages, die für die Streitkräfte relevanten Gesetze, Normen und Verfahren so anzupassen, dass die Bundeswehr der Kriegstüchtigkeit rasch näherkommt. Allerdings müssten die Parteien, das Kabinett und auch der Bundestag willens sein, dafür einen politischen Preis zu zahlen. Eine solche Bereitschaft ist bislang nicht erkennbar, sodass selbst die drängendsten Probleme – die Finanzierung und die Personalfrage – weiterhin einer Lösung harren.
Der dritte große Komplex, der bislang nicht angegangen wurde, ist eine Strategie für die Rüstungsindustrie. Seit vielen Jahren darf die Forderung nach mehr europäischer Kooperation bei der Ausrüstung der europäischen Armeen in keiner Rede fehlen. Passiert ist bisher wenig. Was die Vizepräsidentin der EU-Kommission Margrethe Vestager im März 2024 ankündigte, firmierte zwar unter dem Begriff „Rüstungsstrategie“, umfasste dann aber nur Vorschläge für Koordinierungsmaßnahmen.
Die Unfähigkeit, die großen sicherheitspolitischen Fragen zu lösen, führt dazu, dass die Bundesregierung die selbst gesetzte Latte nicht überspringen kann. Dies betrifft vor allem die Zusagen an die Nato. Bis 2025 soll dem Bündnis eine einsatzbereite schwere Division und bis 2027 eine zweite Division zugeordnet werden. Dieses Ziel wird trotz des Sondervermögens nicht erreicht werden. Beide Verbände werden zum vereinbarten Zeitpunkt noch erhebliche Ausbildungs- und Ausrüstungslücken aufweisen. Die größten Probleme bestehen derzeit in den Bereichen Munition, Drohnenabwehr und Luftverteidigung. Für die Schließung dieser Fähigkeitslücken gibt es Konzepte und marktverfügbare Systeme, aber es ist unklar, wann diese in ausreichender Zahl in der Truppe verfügbar sein werden. Wirklich beunruhigt scheint der Bundeskanzler darüber aber nicht zu sein, zumal die Lage bei anderen Bündnispartnern in Europa – etwa Großbritannien oder Frankreich – nicht grundsätzlich besser aussieht.
Die Hoffnung, dass es die Nato schon nicht so genau nehmen werde mit den Zusagen, trägt allerdings wenig zur Stärkung der europäischen Verteidigung bei. Zumal es diesmal – anders als vor 30 Jahren – nicht nur um eher abstrakte Pläne und Versprechungen geht. Die Lage ist ernster als während des Kalten Krieges, als die Sowjetunion zumindest in Europa eine Status-quo-Macht war. Das ist heute anders, und die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs eines konventionellen Konflikts ist deutlich höher. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Bundeswehr in einigen Jahren an der Ostflanke der Nato kämpfen muss. Für einen längeren Kampf gegen einen hochgerüsteten Gegner fehlen aber die grundlegenden Voraussetzungen. Es gibt zu wenig Munition, nicht genügend leistungsfähige Drohnen und eine zu schwache Luftverteidigung. Bei Marine und Luftwaffe sieht es nicht viel anders aus. Verantwortlich dafür ist die Bundesregierung, die sich auf ein sicherheitspolitisches Vabanquespiel einlässt, bei dem das Äußerste nicht eintritt.
Mehrheiten und Minderheiten in der Gesellschaft
Die deutsche Gesellschaft war nie pazifistisch. Eine Mehrheit der Westdeutschen hielt 1955 die Wiederbewaffnung für notwendig, und Helmut Kohl gewann im März 1983 die Bundestagswahl, obwohl er den Nato-Doppelbeschluss umgesetzt hatte. Kaum mehr als zehn Prozent eines Jahrgangs verweigerten während des Kalten Krieges den Wehrdienst, selbst auf dem Höhepunkt im Jahr 2002 waren es „nur“ rund 50 Prozent der Tauglichen.
Neben denjenigen, die den mühsamen Weg der Anpassung gehen, gibt es natürlich auch diejenigen, die an ihren Narrativen festhalten. Diese Variante im Diskurs gibt es in unterschiedlichen Nuancen. Während die einen die militärische Unterstützung der Ukraine von Anfang an ablehnten und weiterhin die Idee der gemeinsamen Sicherheit mit Russland in Europa beschwören, akzeptieren andere zähneknirschend die Haltung des Bundeskanzlers. Sie wünschen sich aber mehr Initiativen für eine Verhandlungslösung und kritisieren die Kriegsrhetorik, die einen kulturellen Rückfall darstelle.
Obwohl in der deutschen Gesellschaft heftig über Krieg und Frieden, militärische und zivile Machtkonzepte gestritten wird, spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung dafür aus, Waffen an die Ukraine zu liefern, langfristig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben und die Wehrpflicht wieder einzuführen.
Wenn die Medien das eine Extrem auf der Skala sind, bilden die Universitäten das andere. Hier hat sich der Diskurs am wenigsten verändert, und gerade in den Geisteswissenschaften gibt es immer noch ein pazifistisches Milieu. Für Politologen und Historiker stand die Analyse von Außenpolitik, Krieg und Militär bisher ohnehin nicht im Vordergrund. Im Kern beschäftigten sich diese Disziplinen mit anderen Fragen,
Eine Änderung dieses Zustandes ist nicht in Sicht. Weder an den Universitäten noch bei den großen Wissenschaftsorganisationen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder der Max-Planck-Gesellschaft sind bisher Initiativen bekannt geworden.
Im Verteidigungsministerium wird stets betont, dass sich die Kriegstüchtigkeit nicht nur auf die Streitkräfte beziehe, sondern dass die gesamte Gesellschaft wehrhaft sein müsse. Allerdings sollten die Erwartungen nicht zu hoch gesteckt werden. So sehr sich die veröffentlichte Meinung gewandelt hat, so sehr sich etwa eine Mehrheit der Bundesbürger für die Einführung der Wehrpflicht ausspricht, so wenig realistisch ist die Forderung nach einer wehrhafteren Bevölkerung. Diese wird von ihrer unmittelbaren Lebensrealität geprägt, und die ist in der Bundesrepublik nicht mit Krieg verbunden. So verwundert es nicht, dass im März 2024 in einer Umfrage nur ein Drittel der Deutschen angab, im Ernstfall bereit zu sein, das eigene Land zu verteidigen.
Bundeswehr – kein Wille zur Reform?
So wichtig die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für einen wehrhaften Staat sind, so sehr muss die Bundeswehr selbst ihre Reformfähigkeit unter Beweis stellen. Je mehr sie sich als leistungsfähige Institution präsentiert, desto mehr kann sie von Regierung und Parlament zum Beispiel eine bessere finanzielle Ausstattung einfordern. Und weiter: Nur wenn die Streitkräfte von ihren Soldaten als effiziente Institution wahrgenommen werden, ist zu erwarten, dass sie im Ernstfall ihr Leben einsetzen. Und nur eine effiziente und damit attraktive Organisation kann ausreichend Nachwuchs gewinnen und Soldaten dauerhaft in ihren Reihen halten. An der Dringlichkeit einer grundlegenden Reform der Streitkräfte besteht auch in Fachkreisen kein Zweifel. Die rund einjährige Amtszeit von Christine Lambrecht als Bundesverteidigungsministerin war eine verlorene Zeit für Reformen. Umso größer sind die Erwartungen an ihren Nachfolger Boris Pistorius. Dieser kündigte bereits im Juni 2023 die dauerhafte Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen an. Zudem leitete er Reformen in der Struktur des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte ein, die am 30. April 2024 im Osnabrücker Erlass festgeschrieben wurden. Eine Task Force Personal und eine Task Force Drohnen wurden eingerichtet und Vorschläge zur Lösung der Missstände in diesen Bereichen erarbeitet.
Boris Pistorius hat auf den ersten Blick viel erreicht. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass die eigentlichen Probleme nicht angegangen wurden. Die Reform des Verteidigungsministeriums war nicht mehr als eine Art Modellpflege, da sich an der Grundstruktur nichts ändert. Auch die Zahl der Mitarbeiter bleibt mit rund 3.000 außerordentlich hoch.
Und was ist von einer Armee zu halten, in deren offiziellem Traditionsbild die Bewährung im Kampf kaum vorkommt?
„Wir müssen kriegstüchtig werden – wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen“, sagte Boris Pistorius am 29. Oktober 2023. Doch das sind – cum grano salis – bislang nur hehre Worte. Noch können die Soldaten in einem Kriegsszenario wie in der Ukraine nur beweisen, dass sie mit Anstand zu sterben verstehen. Das mag überspitzt klingen, aber ohne ausreichende Munition, ohne moderne Drohnen, ohne effiziente Luftabwehr fehlen ihnen die Voraussetzungen, um auf einem Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts zu bestehen. Und den Spitzen von Politik und Militär fehlt offensichtlich der Wille, aus diesem Befund die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.