Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kriegstüchtig? | Bundeswehr | bpb.de

Bundeswehr Editorial Kriegstüchtig? Zur Zeitenwende in Politik, Gesellschaft und Truppe Wie wir wehrhaft werden. Zu den Grenzen der Freiwilligkeit in Zeiten des Krieges Preis der Freiheit. Zu den ökonomischen Kosten der Zeitenwende Extremismus in der Bundeswehr. Ausmaß, Ursachen, Wirkungen Drehscheibe Deutschland. Die Bundeswehr im Nato-Kontext Zäsur Afghanistan-Einsatz? Lehren für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik Schleichende Militarisierung. Beobachtungen zur Veränderung der Zivilgesellschaft

Kriegstüchtig? Zur Zeitenwende in Politik, Gesellschaft und Truppe

Sönke Neitzel

/ 17 Minuten zu lesen

Boris Pistorius fordert „Kriegstüchtigkeit“: Deutschland muss in der Lage sein, einen militärischen Angriff abzuwehren. Politik, Gesellschaft und Bundeswehr haben noch einen weiten Weg vor sich.

„Wir müssen kriegstüchtig werden – wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ Es waren bemerkenswerte Worte, die Verteidigungsminister Boris Pistorius am 29. Oktober 2023 in der Sendung „Berlin direkt“ sprach.

„Kriegstüchtigkeit“ ist ein alter militärischer Begriff, der in der Bundeswehr mal mehr und mal weniger im Gebrauch war. In der Zeit der Auslandseinsätze in den 1990er Jahren wurde er seltener verwendet, erlebte aber ab 2019 ein Revival. Was Militärs hinter verschlossenen Türen schrieben, war freilich das eine, was Politiker öffentlich sagten, das andere. Verteidigungsminister haben in den vergangenen Jahrzehnten die Begriffe „Krieg“ und „Kampf“ gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Im „Weißbuch 2016“ zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr kommen sie praktisch nicht vor. Zwei Jahre nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass war die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen offenbar nicht willens, die Dinge beim Namen zu nennen. Boris Pistorius folgt dieser Haltung nicht. Er spricht vom „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ – so wie Politiker zuletzt im Kalten Krieg.

Nach alter bundesrepublikanischer Sitte wäre nach solchen Worten ein Sturm der Entrüstung zu erwarten gewesen. Erinnert sei an Horst Köhler, der 2005 von seinem Amt als Bundespräsident zurücktrat, weil seine Äußerung, Deutschland müsse mit seinem Militär auch wirtschaftliche Interessen sichern, auf heftige öffentliche Kritik gestoßen war. Mit dem Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 sind Dinge sagbar geworden, die vorher geradezu unvorstellbar waren. So stimmte etwa der Journalist Carsten Schmiester im Deutschlandfunk den Aussagen von Pistorius zur Kriegstüchtigkeit zu und forderte, die Deutschen müssten raus aus der „friedensbewegten Komfortzone“. Aber es gab natürlich auch kritische Stimmen: Für falsch und gefährlich hielt der Journalist Heribert Prantl den Begriff. Eine Diskurshoheit haben solche Stimmen aus dem linken pazifistischen Kulturlager angesichts der sicherheitspolitischen Realitäten aber nicht mehr.

Der Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ ist in der Debatte eingeführt und wird als Referenzpunkt deutscher Verteidigungspolitik verwendet. Die allermeisten Politiker haben den Begriff trotzdem nicht übernommen. Man wisse zwar, was Pistorius meine, wolle es aber so nicht ausdrücken, hieß es. Zustimmung kam lediglich von der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann und der Wehrbeauftragten Eva Högl. Insgesamt wiederholte sich ein Befund, der auch schon bei den Auslandseinsätzen, etwa bei der Debatte um den „Krieg“ in Afghanistan, zu beobachten war: Die Politik hinkte dem öffentlichen Diskurs semantisch hinterher.

Boris Pistorius hat einen von mehreren Impulsen für einen Kulturwandel im Umgang mit sicherheitspolitischen Realitäten gesetzt. Zuvor hatten der Linkedin-Beitrag des Inspekteurs des Heeres, Alfons Mais, vom 24. Februar 2022 – die Landstreitkräfte stünden „mehr oder weniger blank“ – sowie die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers drei Tage später die Dinge in Bewegung gebracht. Sie eröffneten auch den Raum etwa für den Generalinspekteur Carsten Breuer, der seit seiner Amtsübernahme im März 2023 in seinen Reden immer wieder von „Kriegstüchtigkeit“ sprach und damit dem Ministerwort diskursiv den Boden bereitete. Breuer war in seiner Sprache selbst für einen Militär ungewöhnlich deutlich. Er benutzte in der Öffentlichkeit auch Formulierungen, die bislang zumeist nur intern verwendet wurden: etwa die „Bereitschaft zum Kampf“ und diesen auch zu gewinnen.

Diese semantische Entwicklung ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Boris Pistorius und Carsten Breuer haben mit dem Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ deutlich gemacht, wo es hingehen soll: Deutschland und Europa sollen in der Lage sein, einen russischen Angriff auf das Nato-Gebiet abzuwehren. Und ein solcher Angriff wäre dann nicht mehr ein niederschwelliger Konflikt, sondern ein zwischenstaatlicher Krieg. Und sie sagen auch, dass die Bundesrepublik diesen potenziell drohenden Kampf nicht nur führen, sondern auch gewinnen können sollte. „Kriegstüchtigkeit“ ist also nicht Ausdruck eines überbordenden Selbstbewusstseins, Gewalt als Mittel der Politik einzusetzen, sondern ein Bezugspunkt für die eigene Wehrhaftigkeit, sodass zumindest die Hoffnung besteht, Russland von einem Angriff abzuschrecken. Und wenn das nicht gelingt, dann soll dieses Land sich nicht der Gewalt beugen, sondern sich erfolgreich verteidigen können. Dass Politik, Gesellschaft und Bundeswehr bis dahin noch einen weiten Weg vor sich haben, dürfte niemand bestreiten.

Vom Zaudern der Politik

Die Entscheidungen der Bundesregierung zur Zeitenwende lagen bislang weitgehend unterhalb der politischen Schmerzgrenze. Durch das Sondervermögen wurde niemandem Geld weggenommen, deshalb gab es auch keine Verteilungskämpfe. Zwar war es für die Parteilinken in der SPD ein Graus, überhaupt Geld für mehr Rüstung auszugeben. Aber angesichts der dramatischen sicherheitspolitischen Lage und einer unterfinanzierten Bundeswehr stellten sie sich nicht gegen den Bundeskanzler. Auch die Zusage, dauerhaft zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren, hat bislang niemandem wehgetan. Olaf Scholz wurde zwar nicht müde, die Gültigkeit dieser Zusage zu betonen. Er hat aber bislang noch nicht gesagt, woher das Geld für ein Aufstocken des regulären Verteidigungshaushalts auf über 80 Milliarden Euro kommen soll, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist. Es kann letztlich nur über Umschichtungen im Haushalt, durch mehr Schulden oder durch einen Kompromiss aus beidem finanziert werden. Für eine Lösung gibt es zurzeit keine politischen Mehrheiten, sodass die Bedeutung der Zusage begrenzt ist.

Auch in anderen Bereichen bewegten sich Kabinett und Parlament bisher nicht. Eines der zentralen Probleme der Bundeswehr ist der Personalmangel. Der angestrebte Aufwuchs auf 203.000 Soldaten kommt nicht voran, und stattdessen stagniert die Kopfstärke auf dem Level von rund 181.000 Soldaten. Verbesserte Werbung und Beratung, Investitionen in die Ausbildung von Fachkräften oder die Regionalisierung der Personalrekrutierung, wie sie die Task Force Personal im Dezember 2023 vorgestellt hat, werden das Problem nicht lösen. Eine zentrale Forderung von Boris Pistorius war daher die Wiedereinführung der Wehrpflicht, wobei eine Orientierung am sogenannten schwedischen Modell angedacht war: Alle jungen Männer und Frauen im Alter von 18 Jahren werden angeschrieben, ein tauglich erscheinender Teil wird gemustert, und von diesen werden diejenigen eingezogen, die die Bundeswehr benötigt. Der Bedarf liegt momentan bei etwa 30.000 bis 40.000 Rekruten, das sind vier bis fünf Prozent eines Geburtsjahrgangs. Mit diesem Personalpool könnten die 16 Heimatschutzregimenter zum Schutz kritischer Infrastrukturen aufgestellt werden. Und ebenso wichtig: Aus diesem Pool von Wehrpflichtigen könnte die Bundeswehr länger dienende Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere gewinnen, wie es im Kalten Krieg der Fall war. Es ging also nicht um die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, denn die Bundeswehr wäre gar nicht in der Lage, jährlich mehrere Hunderttausend junge Männer (und Frauen) auszubilden. Doch Boris Pistorius konnte sich mit seinem „Schweden-Modell“ im Kabinett im Sommer 2024 nicht durchsetzen. Von den Plänen blieb nur ein Fragebogen für alle 18-Jährigen übrig, den die Männer beantworten müssen und die Frauen beantworten können. Mit anderen Worten: Das Kabinett war nicht willens und in der Lage, die Personalprobleme der Streitkräfte zu lösen, und schiebt diese Aufgabe dem nächsten Kabinett zu. Aber selbst wenn eine neue Regierung einen Konsens in dieser Frage fände und – hypothetisch gesprochen – im Frühjahr 2026 eine „schwedische“ Wehrpflicht beschließen würde, wären die ersten Wehrpflichtigen wohl nicht vor 2028 in den Kasernen, die dafür erst entsprechend ertüchtigt werden müssten. Mit seiner Entscheidung gegen Pistorius’ Pläne entzog Olaf Scholz der Bundesrepublik auf absehbare Zeit die personelle Grundlage zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages. Die Folgenschwere dieser Entscheidung ist bislang medial kaum beachtet worden. Dies liegt wohl auch daran, dass die Personallage nur von der militärischen Führung beurteilt werden kann und diese sich nicht dazu durchringen konnte, die dramatische Lage öffentlich zu schildern.

Auch in anderen – weniger im Vordergrund stehenden – Bereichen hat die Regierung bis heute noch keine Entscheidungen getroffen. Lange schon wird debattiert, ob es nicht an der Zeit wäre, das Prinzip der sogenannten 25-Millionen-Vorlagen zu ändern. Danach müssen alle Beschaffungen für die Streitkräfte, die einen Wert von 25 Millionen Euro übersteigen, dem Haushaltsausschuss des Bundestages zur Zustimmung vorgelegt werden. Der Ausschuss hatte diese Regelung 1981 eingeführt, nachdem die Kosten für das Kampfflugzeug Tornado aus dem Ruder gelaufen waren. Diese Praxis verlangsamt den Beschaffungsprozess, zumal es ein erheblicher Aufwand ist, die Vorlagen zu erstellen. Zudem gibt diese Verfahrensweise den Abgeordneten die Möglichkeit, eigene Lobbyinteressen durchzusetzen. Alle Versuche, diese Praxis zu reformieren, sind gescheitert. Die Abgeordneten des Haushaltsausschusses verteidigen hartnäckig ihre Privilegien und demonstrieren einmal mehr, dass andere für die Zeitenwende zuständig seien. Ein Signal der Reform wäre es, wenn sich das Parlament darauf beschränken würde, nur noch bei besonders kostspieligen und politisch bedeutsamen Beschaffungen wie der F-35 oder neuen Fregatten ein prüfendes Auge auf die Vorlagen zu werfen.

Eigentlich ist es die Aufgabe des Kabinetts und des Bundestages, die für die Streitkräfte relevanten Gesetze, Normen und Verfahren so anzupassen, dass die Bundeswehr der Kriegstüchtigkeit rasch näherkommt. Allerdings müssten die Parteien, das Kabinett und auch der Bundestag willens sein, dafür einen politischen Preis zu zahlen. Eine solche Bereitschaft ist bislang nicht erkennbar, sodass selbst die drängendsten Probleme – die Finanzierung und die Personalfrage – weiterhin einer Lösung harren.

Der dritte große Komplex, der bislang nicht angegangen wurde, ist eine Strategie für die Rüstungsindustrie. Seit vielen Jahren darf die Forderung nach mehr europäischer Kooperation bei der Ausrüstung der europäischen Armeen in keiner Rede fehlen. Passiert ist bisher wenig. Was die Vizepräsidentin der EU-Kommission Margrethe Vestager im März 2024 ankündigte, firmierte zwar unter dem Begriff „Rüstungsstrategie“, umfasste dann aber nur Vorschläge für Koordinierungsmaßnahmen. Ein großer Wurf sieht anders aus und müsste etwa die Frage klären, wie die europäische Militärluftfahrtrüstung international konkurrenzfähig werden will und ob es nicht zumindest in diesem Bereich eines Zusammenschlusses bedarf, wie er in der Zivilluftfahrt bereits erfolgt ist. Es geht um nicht weniger als den nächsten Schritt der europäischen Integration, und es bräuchte wohl mehrere bedeutende Spitzenpolitiker, um hier voranzukommen. Auf nationaler Ebene haben das Verteidigungs- und das Wirtschaftsministerium unlängst verkündet, im September 2024, also 30 Monate nach der „Zeitenwende“-Rede, erstmals eine Strategie für die Verteidigungsindustrie verabschieden zu wollen. Geschehen ist bislang nichts, und es bleibt abzuwarten, ob es sich dabei um mehr als Absichtserklärungen handeln wird.

Die Unfähigkeit, die großen sicherheitspolitischen Fragen zu lösen, führt dazu, dass die Bundesregierung die selbst gesetzte Latte nicht überspringen kann. Dies betrifft vor allem die Zusagen an die Nato. Bis 2025 soll dem Bündnis eine einsatzbereite schwere Division und bis 2027 eine zweite Division zugeordnet werden. Dieses Ziel wird trotz des Sondervermögens nicht erreicht werden. Beide Verbände werden zum vereinbarten Zeitpunkt noch erhebliche Ausbildungs- und Ausrüstungslücken aufweisen. Die größten Probleme bestehen derzeit in den Bereichen Munition, Drohnenabwehr und Luftverteidigung. Für die Schließung dieser Fähigkeitslücken gibt es Konzepte und marktverfügbare Systeme, aber es ist unklar, wann diese in ausreichender Zahl in der Truppe verfügbar sein werden. Wirklich beunruhigt scheint der Bundeskanzler darüber aber nicht zu sein, zumal die Lage bei anderen Bündnispartnern in Europa – etwa Großbritannien oder Frankreich – nicht grundsätzlich besser aussieht.

Die Hoffnung, dass es die Nato schon nicht so genau nehmen werde mit den Zusagen, trägt allerdings wenig zur Stärkung der europäischen Verteidigung bei. Zumal es diesmal – anders als vor 30 Jahren – nicht nur um eher abstrakte Pläne und Versprechungen geht. Die Lage ist ernster als während des Kalten Krieges, als die Sowjetunion zumindest in Europa eine Status-quo-Macht war. Das ist heute anders, und die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs eines konventionellen Konflikts ist deutlich höher. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Bundeswehr in einigen Jahren an der Ostflanke der Nato kämpfen muss. Für einen längeren Kampf gegen einen hochgerüsteten Gegner fehlen aber die grundlegenden Voraussetzungen. Es gibt zu wenig Munition, nicht genügend leistungsfähige Drohnen und eine zu schwache Luftverteidigung. Bei Marine und Luftwaffe sieht es nicht viel anders aus. Verantwortlich dafür ist die Bundesregierung, die sich auf ein sicherheitspolitisches Vabanquespiel einlässt, bei dem das Äußerste nicht eintritt.

Mehrheiten und Minderheiten in der Gesellschaft

Die deutsche Gesellschaft war nie pazifistisch. Eine Mehrheit der Westdeutschen hielt 1955 die Wiederbewaffnung für notwendig, und Helmut Kohl gewann im März 1983 die Bundestagswahl, obwohl er den Nato-Doppelbeschluss umgesetzt hatte. Kaum mehr als zehn Prozent eines Jahrgangs verweigerten während des Kalten Krieges den Wehrdienst, selbst auf dem Höhepunkt im Jahr 2002 waren es „nur“ rund 50 Prozent der Tauglichen. Die weit überwiegende Mehrheit der männlichen Bundesbürger leistete den Wehrdienst. Für die große Mehrheit der Kulturelite kann allerdings schon von einer pazifistischen Grundhaltung gesprochen werden. Wehrdienstverweigerung gehörte in diesem Milieu ebenso zum guten Ton wie ein Weltbild, in dem sich Antiamerikanismus mit einem bisweilen grotesk verzerrten Bild der Streitkräfte und ihrer Vergangenheit mischte. Die Wehrdienstverweigerer von einst sitzen heute in vielen gesellschaftlichen und politischen Schlüsselpositionen und ringen mit der neuen sicherheitspolitischen Lage, die ihr Koordinatensystem durcheinander gebracht hat. Olaf Zimmermann, Vorsitzender des Deutschen Kulturrats, räumte ein, dass es für ihn persönlich eine große Herausforderung gewesen sei, einen Schwerpunkt „Bundeswehr“ in seiner Zeitung einzurichten. Er habe die Unterstützung der Wehrbeauftragten Eva Högl gebraucht, um die Tür zu einer ihm unbekannten Welt zu öffnen. Man mag einerseits über so viel Ignoranz die Nase rümpfen. Andererseits muss sich im Land schon etwas verändert haben, wenn sich sogar der Deutsche Kulturrat mit der Bundeswehr befasst. Und auch bei den Vorreitern einer pazifistischen Weltsicht, der evangelischen Kirche, tut sich etwas.

Neben denjenigen, die den mühsamen Weg der Anpassung gehen, gibt es natürlich auch diejenigen, die an ihren Narrativen festhalten. Diese Variante im Diskurs gibt es in unterschiedlichen Nuancen. Während die einen die militärische Unterstützung der Ukraine von Anfang an ablehnten und weiterhin die Idee der gemeinsamen Sicherheit mit Russland in Europa beschwören, akzeptieren andere zähneknirschend die Haltung des Bundeskanzlers. Sie wünschen sich aber mehr Initiativen für eine Verhandlungslösung und kritisieren die Kriegsrhetorik, die einen kulturellen Rückfall darstelle. In diesem Milieu wird argumentiert, dass es nicht mehr Aufrüstung bedarf, sondern mehr Entspannungspolitik. Ein tief sitzender Antiamerikanismus und Antikapitalismus führen dazu, dass der Krieg in der Ukraine eher als Ausdruck eines illegitimen Machtstrebens der Nato und der USA interpretiert wird, denn als Expansionsstreben Russlands.

Obwohl in der deutschen Gesellschaft heftig über Krieg und Frieden, militärische und zivile Machtkonzepte gestritten wird, spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung dafür aus, Waffen an die Ukraine zu liefern, langfristig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben und die Wehrpflicht wieder einzuführen. Dies hat sicherlich auch mit dem medialen Diskurs zu tun. Überspitzt formuliert hat sich die Zeitenwende in den klassischen Rundfunk- und Printmedien am schnellsten vollzogen. Selbst der Verfasser dieser Zeilen war überrascht, mit welcher Vehemenz einige Journalisten, die vor dem 24. Februar 2022 kaum durch ihre Nähe zum Militär aufgefallen waren, nun die Wehrhaftigkeit der Ukraine und die Aufrüstung der Bundeswehr forderten. So wird Boris Pistorius im „Bericht aus Berlin“ der ARD nicht für seine markigen Worte kritisiert, sondern dafür, dass die Reformen der Bundeswehr nicht schnell genug vorankommen. Man muss die These von Harald Welzer und Richard David Precht nicht teilen, dass die Medienberichterstattung über den Ukrainekrieg nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung widerspiegelt. Richtig ist wohl, dass die Kritiker von Waffenlieferungen, Zeitenwende und Kriegstüchtigkeit eine Minderheitenposition einnehmen.

Wenn die Medien das eine Extrem auf der Skala sind, bilden die Universitäten das andere. Hier hat sich der Diskurs am wenigsten verändert, und gerade in den Geisteswissenschaften gibt es immer noch ein pazifistisches Milieu. Für Politologen und Historiker stand die Analyse von Außenpolitik, Krieg und Militär bisher ohnehin nicht im Vordergrund. Im Kern beschäftigten sich diese Disziplinen mit anderen Fragen, und ein friedensethischer Bias war unverkennbar. An 70 Hochschulen gibt es Zivilklauseln, die militärisch nutzbare Forschung verbieten. Das sind zwar nur 17 Prozent, aber darunter befinden sich sehr renommierte Einrichtungen wie die TU Darmstadt oder die TU Berlin. In Bremen und Thüringen ist die Zivilklausel in den Landeshochschulgesetzen verankert. Hinzu kommt eine hochdotierte institutionalisierte Friedensforschung, die sich seit den 1970er Jahren zweifellos professionalisiert hat, aber nicht immer zu einem realistischeren Blick auf militärische Konflikte beigetragen hat. In Deutschland gibt es nur vier politikwissenschaftliche Lehrstühle, die sich mit Sicherheitspolitik befassen, und einen einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Dieses Fach, das durchaus ein intellektuelles Hinterland für die Analyse aktueller Krisen und Kriege liefern kann, findet an deutschen Universitäten vor allem auf der Ebene von Dissertationen statt. Habilitationen in diesem Bereich sind nicht als Türöffner für eine akademische Karriere bekannt. Demgegenüber stehen 173 Professuren für verschiedene Aspekte der Gender Studies an deutschen Hochschulen. Der Studiengang Gender Studies wird an 18 Hochschulen und Universitäten angeboten, Peace and Conflict Studies an vier und War and Conflict Studies an einer.

Eine Änderung dieses Zustandes ist nicht in Sicht. Weder an den Universitäten noch bei den großen Wissenschaftsorganisationen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder der Max-Planck-Gesellschaft sind bisher Initiativen bekannt geworden.

Im Verteidigungsministerium wird stets betont, dass sich die Kriegstüchtigkeit nicht nur auf die Streitkräfte beziehe, sondern dass die gesamte Gesellschaft wehrhaft sein müsse. Allerdings sollten die Erwartungen nicht zu hoch gesteckt werden. So sehr sich die veröffentlichte Meinung gewandelt hat, so sehr sich etwa eine Mehrheit der Bundesbürger für die Einführung der Wehrpflicht ausspricht, so wenig realistisch ist die Forderung nach einer wehrhafteren Bevölkerung. Diese wird von ihrer unmittelbaren Lebensrealität geprägt, und die ist in der Bundesrepublik nicht mit Krieg verbunden. So verwundert es nicht, dass im März 2024 in einer Umfrage nur ein Drittel der Deutschen angab, im Ernstfall bereit zu sein, das eigene Land zu verteidigen. Das ist gewiss nur eine Momentaufnahme, aber sie deutet an, dass das Entgegenkommen auch Grenzen hat. Im Kalten Krieg stand die Generalität übrigens vor einem ähnlichen Problem: Die Motivation vieler junger Menschen, den Staat zu verteidigen, blieb trotz aller Appelle überschaubar.

Bundeswehr – kein Wille zur Reform?

So wichtig die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für einen wehrhaften Staat sind, so sehr muss die Bundeswehr selbst ihre Reformfähigkeit unter Beweis stellen. Je mehr sie sich als leistungsfähige Institution präsentiert, desto mehr kann sie von Regierung und Parlament zum Beispiel eine bessere finanzielle Ausstattung einfordern. Und weiter: Nur wenn die Streitkräfte von ihren Soldaten als effiziente Institution wahrgenommen werden, ist zu erwarten, dass sie im Ernstfall ihr Leben einsetzen. Und nur eine effiziente und damit attraktive Organisation kann ausreichend Nachwuchs gewinnen und Soldaten dauerhaft in ihren Reihen halten. An der Dringlichkeit einer grundlegenden Reform der Streitkräfte besteht auch in Fachkreisen kein Zweifel. Die rund einjährige Amtszeit von Christine Lambrecht als Bundesverteidigungsministerin war eine verlorene Zeit für Reformen. Umso größer sind die Erwartungen an ihren Nachfolger Boris Pistorius. Dieser kündigte bereits im Juni 2023 die dauerhafte Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen an. Zudem leitete er Reformen in der Struktur des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte ein, die am 30. April 2024 im Osnabrücker Erlass festgeschrieben wurden. Eine Task Force Personal und eine Task Force Drohnen wurden eingerichtet und Vorschläge zur Lösung der Missstände in diesen Bereichen erarbeitet.

Boris Pistorius hat auf den ersten Blick viel erreicht. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass die eigentlichen Probleme nicht angegangen wurden. Die Reform des Verteidigungsministeriums war nicht mehr als eine Art Modellpflege, da sich an der Grundstruktur nichts ändert. Auch die Zahl der Mitarbeiter bleibt mit rund 3.000 außerordentlich hoch. Die Bundeswehr-Strukturkommission, die sogenannte Weise-Kommission, hat 2010 einmal vorgeschlagen, das Ministerium auf unter 1500 Dienstposten zu verkleinern. Von solch weitreichenden Veränderungen ist man im Bundesverteidigungsministerium aber weit entfernt. Auch die Strukturreformen der Streitkräfte bleiben hinter den Erwartungen zurück. Die Task Force Personal hat zwar viele sinnvolle Vorschläge zur Personalgewinnung gemacht. Überlegungen, wie das Bundesamt für das Personalwesen der Bundeswehr in Köln mit seinen beachtlichen 6800 Dienstposten effizienter aufgestellt werden könnte, sind aber nicht bekannt geworden. Intern wird viel darüber geklagt, dass die Bundeswehr zu viele zivile Gesetze, Normen und Vorschriften übernommen hat, die die Verteidigungsbereitschaft stark behindern. So müssten beispielsweise Arbeitsschutz-, Umwelt- und Arbeitszeitrichtlinien dringend an die Realitäten einer kriegstüchtigen Armee angepasst werden. Es bleibt abzuwarten, ob in dieser Legislaturperiode noch ein Artikelgesetz verabschiedet wird, in dem grundlegende Änderungen des Rechtsrahmens beschlossen werden.

Und was ist von einer Armee zu halten, in deren offiziellem Traditionsbild die Bewährung im Kampf kaum vorkommt? Die sich seit drei Jahren nicht traut, ein fertiges Liederbuch einzuführen, weil sie kritische Diskussionen fürchtet? Von all dem hängt im Einzelnen nicht das Wohl und Wehe der Bundeswehr ab. Aber zusammengenommen sind diese Punkte doch ein Indiz dafür, dass an der Spitze des Ministeriums der Mut zu großen Reformen fehlt.

„Wir müssen kriegstüchtig werden – wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen“, sagte Boris Pistorius am 29. Oktober 2023. Doch das sind – cum grano salis – bislang nur hehre Worte. Noch können die Soldaten in einem Kriegsszenario wie in der Ukraine nur beweisen, dass sie mit Anstand zu sterben verstehen. Das mag überspitzt klingen, aber ohne ausreichende Munition, ohne moderne Drohnen, ohne effiziente Luftabwehr fehlen ihnen die Voraussetzungen, um auf einem Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts zu bestehen. Und den Spitzen von Politik und Militär fehlt offensichtlich der Wille, aus diesem Befund die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

ist Professor für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam.