Stimme des Südens?
BRICS bei den Vereinten Nationen
Sebastian Haug
/ 14 Minuten zu lesen
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Die BRICS-Staaten sind so heterogen aufgestellt, dass sie in zentralen Arbeitsgebieten der Vereinten Nationen keine gemeinsamen Positionen vertreten. Im multilateralen Raum sind sie weit davon entfernt, als geeinte Stimme des Globalen Südens zu agieren.
Die BRICS sind seit ihrer formellen Gründung im Jahr 2009 zu einem zentralen Akronym in weltpolitischen Debatten geworden. Die ursprünglichen Mitglieder der Staatengruppe – neben Brasilien, Russland, Indien und China seit 2010 auch Südafrika – stehen für Verschiebungen in der globalen politisch-ökonomischen Gemengelage. Die BRICS-Staaten selbst sowie unterschiedliche Beobachter*innen haben dabei immer wieder darauf hingewiesen, dass die Gruppierung die „Stimme des Südens“ in der Welt stärke oder diese sogar verkörpere: Durch das gemeinsame Auftreten großer Volkswirtschaften jenseits der Vereinigten Staaten von Amerika, der Europäischen Union und ihrer Verbündeten sollen all jene Länder, die lange an die Peripherie globaler Ordnung verbannt waren, stärker gehört und miteingebunden werden.
Ein zentrales Forum für den Anspruch, den Globalen Süden zu vertreten, sind die Vereinten Nationen (VN) – als zwischenstaatliche Weltorganisation mit universalem Anspruch. Alle BRICS-Länder sind VN-Mitgliedstaaten. Auch bei den Mitgliedschaftskriterien, welche die BRICS für die potenzielle Erweiterung ihrer eigenen Gruppierung definiert haben, spielen die Vereinten Nationen eine wichtige Rolle: Als Teil der Grundprinzipien verpflichten sich Neumitglieder, nicht nur die VN-Charta als Grundlage der internationalen Ordnung anzuerkennen, sondern auch gemeinsame Bemühungen zu VN-Reformen zu unterstützen. Für die aktuelle Erweiterungsrunde etwa – bei der sich Ägypten, Äthiopien, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate Anfang 2024 den BRICS angeschlossen haben – waren diese Kriterien offiziell leitgebend. Als minilaterale Gruppierung verorten sich die BRICS damit in einem breiteren multilateralen Rahmen, der für ihr Selbstverständnis und als Wirkungsraum von zentraler Bedeutung ist.
Welche Rolle aber spielen die BRICS als Gruppierung bisher bei den Vereinten Nationen? Im Folgenden werden die Positionen der fünf ursprünglichen BRICS-Staaten in den drei zentralen VN-Arbeitsgebieten Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte näher analysiert. Im Zentrum des Interesses steht, ob die BRICS bei den Vereinten Nationen mit einer Stimme sprechen und inwiefern sie mit anderen Staaten des Südens an einem Strang ziehen. Insgesamt zeigt sich, dass die BRICS in VN-Prozessen bisher sehr heterogen aufgestellt sind. Eine gemeinsame Position ist in zentralen multilateralen Arbeitsgebieten, besonders bei Sicherheits- und Menschenrechtsfragen, nicht erkennbar. Dem teilweise selbst formulierten und von außen angetragenen Anspruch, als Stimme des Südens zu fungieren, wird die BRICS-Gruppe insofern nicht gerecht. Allerdings bietet sie – besonders durch die jüngste Erweiterungsrunde – China und Russland eine Möglichkeit, den postulierten Fokus auf die Belange des Südens stärker mit einer explizit antiwestlichen Agenda zu verknüpfen.
Entwicklung
Entwicklungsfragen spielen eine zentrale Rolle für jene Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, die sich mit der Selbstbeschreibung „Entwicklungsländer“ in der Gruppe der 77 (G77) zusammengeschlossen haben. Als Teil der G77 – die momentan 134 Mitglieder zählt – ziehen Brasilien, China, Indien und Südafrika traditionell an einem Strang, wenn es um entwicklungspolitische Fragen geht. In der VN-Generalversammlung votieren sie regelmäßig für eine fairere globale Wirtschaftsordnung und die Aufstockung westlicher Gelder für globale Entwicklungsprozesse. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas hat sich allerdings die multilaterale Position der Volksrepublik verändert. Als zweitgrößtem Beitragszahler für das reguläre VN-Budget kommt China inzwischen eine Rolle zu, die sich in manchen Fragen jener westlicher Geberstaaten annähert. So pocht China beispielsweise mittlerweile stärker auf die effiziente Verwendung von VN-Ressourcen. Auch hat China, anders als die meisten Entwicklungsländer, eine differenziertere Position zu Schuldenerlassforderungen, da die Volksrepublik inzwischen selbst zu einem zentralen globalen Kreditgeber geworden ist. Außerdem verfolgt Peking als aufstrebende Großmacht eine eigene strategische Agenda: Durch Initiativen wie die Belt and Road Initiative und die Global Development Initiative formuliert die Volksrepublik einen globalen Führungsanspruch, der Chinas duale Position – Großmacht und Entwicklungsland – als Alleinstellungsmerkmal nutzt.
Indien, Brasilien und Südafrika stehen als Staaten mit vor allem regionalem Einfluss auf einer anderen Stufe in der internationalen Rangordnung. Im Selbstverständnis Demokratien, die sich damit vom chinesischen Einparteiensystem unterscheiden, hatten sich die drei Länder bereits in den 2000er Jahren unter dem Akronym IBSA zusammengeschlossen und damit begonnen, durch einen VN-Fonds gemeinsam Entwicklungsprozesse in anderen Ländern des Südens zu unterstützen. Durch Machtwechsel und Eigendynamiken in den drei Staaten ist die gemeinsame IBSA-Agenda allerdings mit den Jahren weniger sichtbar geworden. Hinzu kommt, dass, auch wenn sich alle drei Länder aktiv in Süd-Süd-Kooperationsprozesse einbringen und eigene Entwicklungserfahrungen mit anderen G77-Staaten teilen, keines dabei mit Peking mithalten kann. Die Dominanz Chinas in Partnerländern sowie das Portfolio, das die Volksrepublik zusammen mit VN-Organisationen für Kooperationsprozesse bereitstellt, suchen ihresgleichen.
Eine weitere Herausforderung, der die Kohäsion der BRICS im VN-Entwicklungsbereich ausgesetzt ist, hängt mit jenem Mitgliedstaat der Gruppierung zusammen, der als einziger nicht Teil der G77 ist: Russland. In dem Ausschuss der Generalversammlung, der sich mit Entwicklungsangelegenheiten befasst, unterstützt Russland nicht per se die Agenda der G77, sondern fokussiert auf Themen, die aus russischer Perspektive besonders relevant sind. Die Verurteilung der (westlichen) Praxis, wirtschaftliche Sanktionen aufzusetzen, ist dabei ein zentrales russisches Anliegen. Andere Aspekte, die traditionell im Zentrum südlicher Belange stehen – wie etwa der Ruf nach einer Aufstockung westlicher Entwicklungsgelder –, sind für Russland weniger bedeutsam. Insgesamt verkompliziert die Nord-Süd-Unterteilung, die für VN-Entwicklungsfragen nach wie vor zentral ist, die russische Position: Russland ist weder Teil des Nordens – für den die westlichen Geberländer stehen – noch Teil der G77 als Inbegriff des multilateralen Südens und spielt damit oft eine Außenseiterrolle.
Insgesamt ergibt sich für die Rolle der BRICS im VN-Entwicklungsbereich so ein ambivalentes Bild. Einerseits besteht, aufbauend auf der gemeinsamen G77-Mitgliedschaft von Brasilien, China, Indien und Südafrika, ein sichtbares Potenzial für gemeinsames Agieren. Wie alle anderen VN-Mitgliedstaaten bekennen sich die BRICS zur Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und zu den VN-Nachhaltigkeitszielen. Auch ist die Reform der internationalen Wirtschafts- und Finanzarchitektur seit Beginn ein Kernanliegen der BRICS, was sich unter anderem an der Gründung der New Development Bank und den gemeinsamen Vorbereitungen einer „De-Dollarisierung“ globaler Finanzströme zeigt. Andererseits aber spielen genau diese Themen im VN-Entwicklungssystem bisher keine wichtige Rolle. Zudem verkomplizieren Chinas Aufstieg zur Großmacht und seine Strategien globaler Einflussnahme, auch und besonders im Entwicklungsbereich, eine längerfristige enge Allianz. Dazu kommt Russlands Außenseiterposition, die die Heterogenität der BRICS in diesem für südliche Belange so wichtigen Politikfeld unterstreicht und dazu beiträgt, dass die Gruppierung bisher zu VN-Entwicklungsfragen keine starke gemeinsame Stimme gefunden hat.
Sicherheit
Jenseits von Entwicklungsthemen identifizieren die BRICS Sicherheit als zentrales Arbeitsfeld der Vereinten Nationen, in dem gemeinsame Reformbemühungen vonnöten sind. Die Reform des VN-Sicherheitsrats – des einzigen Gremiums, in dem einzelne VN-Mitgliedstaaten formal ein Vetorecht besitzen – wird in BRICS-Verlautbarungen dabei als zentrales Anliegen genannt. Entwicklungsländern soll im Sicherheitsrat ein stärkeres Gewicht zukommen. Tatsächlich ist China, das gemeinsam mit Russland die beiden nicht-westlichen ständigen Vetositze im Sicherheitsrat hält, für viele ein Beispiel dafür, wie ein Entwicklungsland als sicherheitspolitische Großmacht agiert. Traditionell fokussieren die ständigen Mitglieder – neben China und Russland die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich – auf Verhandlungen und Entscheidungen im Sicherheitsrat, während Entwicklungsländer die Truppen stellen, die vor Ort die Mandate des Sicherheitsrats umsetzen sollen. China aber tut beides: Es ist (als Großmacht) nicht nur ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, sondern stellt (wie viele andere G77-Staaten) auch Truppen, aktuell mehr als alle anderen ständigen Mitglieder zusammen.
Während China und Russland also unterschiedlich mit ihrer zentralen Rolle in der VN-Sicherheitsarchitektur umgehen, arbeiten sie in anderer Hinsicht eng zusammen, besonders in Abgrenzung zu den drei westlichen Vetomächten. Brasilien, Indien und Südafrika wiederum sind keine ständigen Mitglieder, haben kein Vetorecht und können nur für begrenzte Perioden in den Sicherheitsrat gewählt werden. Diese Heterogenität innerhalb der BRICS – die durch die jüngste Erweiterungsrunde noch verstärkt wird – untergräbt den Kern einer gemeinsamen substanziellen Position zu Sicherheitsratsreformen. Offizielle BRICS-Verlautbarungen lassen wissen, dass die Gruppierung „die legitimen Bestrebungen von Schwellen- und Entwicklungsländern aus Afrika, Asien und Lateinamerika, darunter Brasilien, Indien und Südafrika, unterstützt, eine größere Rolle in internationalen Angelegenheiten zu spielen, insbesondere in den Vereinten Nationen, einschließlich ihres Sicherheitsrats“. Was genau diese angemahnte größere Rolle bedeuten soll, bleibt allerdings unklar. Und das ist kein Zufall: Innerhalb der BRICS gibt es dazu keinen Konsens.
Einerseits haben sich Brasilien und Indien mit Deutschland und Japan zusammengetan, um allen vier Staaten einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu ermöglichen. Andererseits machen es realpolitische Dynamiken geradezu unmöglich, dass die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder einer Reform zustimmen, die neue Mitglieder mit Vetorecht etabliert. Tatsächlich liegt es auch und besonders an China und Russland, dass Brasilien, Indien und Südafrika wohl nie in das Herz des Sicherheitsrats aufrücken werden. Während sich die drei westlichen Vetomächte generell offen gegenüber der Idee zeigen, neue ständige Mitglieder aufzunehmen, sind Peking und Moskau explizit gegen eine solche Erweiterung. Für Russland geht es dabei besonders um die Wahrung von internationalem Status im Kontext relativen Machtverfalls. Für China ist es unter anderem die regionale Rivalität mit Indien, die eine Veränderung des Status quo besonders unattraktiv erscheinen lässt. Tatsächlich sind die Spannungen zwischen China und Indien für BRICS-Positionen zu Sicherheitsfragen – und darüber hinaus – besonders brisant. Von Scharmützeln an der chinesisch-indischen Grenze bis hin zu regionalen Vormachtstellungsfragen, auch mit Bezug auf den Globalen Süden als Kontinente übergreifenden Raum, hat die Liste der chinesisch-indischen Spannungen eine beachtliche Länge. Da Indien als inzwischen bevölkerungsreichstes Land der Erde bei einer grundlegenden Reform des Sicherheitsrats schwer zu übergehen wäre, ist es für Peking ausgemachte Sache, dass sich grundsätzlich nichts an der Zusammensetzung der Vetomächte ändern soll.
Aller allgemeinen Verlautbarungen zum Trotz gibt es für die BRICS also keine gemeinsame substanzielle Stoßrichtung, was die Reform des VN-Sicherheitsrats angeht. Zwischen China und Russland einerseits und Indien, Brasilien und Südafrika andererseits – von den G77 ganz zu schweigen – besteht auch keine kohärente Allianz zu globalen Sicherheitsfragen. Partikularinteressen dominieren das Handeln der Mitglieder und unterminieren so das Potenzial der BRICS als starke Stimme im VN-Sicherheitsbereich.
Menschenrechte
Als drittes Kernarbeitsfeld der Vereinten Nationen spielen Menschenrechtsfragen eine zentrale normative Rolle für die Zusammenarbeit der 193 VN-Mitgliedstaaten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist dabei Grundlage und Referenz, wobei im Laufe der Jahrzehnte andere Rahmenwerke und Instrumente hinzugekommen sind. Mit ihrem starken Fokus auf soziale und wirtschaftliche Rechte ist für viele Mitgliedstaaten der G77 das Recht auf Entwicklung besonders relevant, das 1986 von der Generalversammlung als Menschenrecht etabliert wurde. Zum Grundverständnis davon, was Menschenrechte sind und welche Rolle sie für multilaterale Zusammenarbeit spielen, gibt es in der großen Gruppe der Entwicklungsländer und auch bei den BRICS aber keinen Konsens. Wie viele lateinamerikanische Staaten unterstützt Brasilien traditionell eine dem Individuum verpflichtete Interpretation der Menschenrechte und ist damit westlichen Staaten recht nahe. Für Südafrika gilt im Großen und Ganzen das Gleiche. China dagegen vertritt eine Auffassung der Menschenrechte, die auf das nationalstaatliche Kollektiv fokussiert und Souveränität über globale Rahmenwerke stellt. Außerhalb der G77 vertritt Russland eine ähnliche Position, die noch expliziter antiwestliche Züge trägt und von einigen der BRICS-Neuzugänge – vor allem Ägypten und dem Iran – geteilt wird.
Besonders deutlich wird die extreme Heterogenität der BRICS zu Menschenrechtsfragen im VN-Menschenrechtsrat. Die meisten Resolutionen in dem Gremium, dessen Mitgliedschaft regelmäßig von der VN-Generalversammlung gewählt wird, werden einstimmig angenommen. Die Themen, bei denen es zur formellen Abstimmung kommt, zeigen, welche Bruchlinien es im Rat gibt, auch und besonders innerhalb der BRICS. Russland ist das einzige der ursprünglichen BRICS-Mitglieder, das aktuell nicht im Menschenrechtsrat vertreten ist, da es im April
2022 wegen des Angriffs auf die Ukraine von der Generalversammlung aus dem Rat suspendiert wurde. China war das einzige BRICS-Mitglied, das mit Russland gegen die Suspendierung votierte; die drei anderen enthielten sich. Generell ergibt sich bei kontrovers diskutierten Resolutionen im Menschenrechtsrat ein ähnliches Muster, wobei Abstimmungen zu Änderungsanträgen, die von Russland als Nichtmitglied des Rats eingebracht werden, besonders aufschlussreich sind (Abbildung). Inhaltlich geht es dabei um Themen wie Kinderrechte, die Diskriminierung von Frauen und Mädchen oder die Rolle von Menschenrechten im Kontext von HIV/AIDS. China votiert generell mit Russland oder enthält sich. Südafrika und besonders Brasilien votieren gegen die von Russland eingebrachten Vorschläge und vertreten Positionen, die oft mit denen westlicher Staaten übereinstimmen. Indiens Abstimmungsverhalten wiederum ist ambivalenter und oszilliert zwischen Unterstützung und Ablehnung russischer Anträge.
Insgesamt zeigt sich bei Menschenrechtsfragen ein stark divergierendes Abstimmungsverhalten innerhalb der BRICS. Während Russland als Antagonist zu westlichen Positionen auftritt, koordiniert sich China mit der sogenannten Like-Minded Group, in der sich vor allem autoritär regierte Staaten zusammengeschlossen haben, um gegen den Westen Stellung zu beziehen. Südafrika hingegen hält sich bei kontroversen Abstimmungen eher bei Brasilien. Hinzu kommt, dass China versucht, ein kollektives Verständnis des Rechts auf Entwicklung als Grundlage eines überarbeiteten Menschenrechtsverständnisses zu propagieren, was grundlegenden Überzeugungen zur Rolle des Individuums in Brasilien und auch Südafrika zuwiderläuft. Die Gräben zwischen den Positionen einzelner BRICS-Staaten sind damit so groß, dass eine gemeinsame substanzielle Agenda zu Menschenrechtsfragen nicht zu erkennen ist.
vom Süden zum Anti-Westen?
Auch wenn die BRICS-Staaten die allgemeine Vision eines pluralistischeren internationalen Systems teilen, fällt es ihnen in den drei zentralen Arbeitsfeldern der Vereinten Nationen schwer, als Gruppierung mit einer Stimme zu sprechen. Bisher haben sie sich zwar gegenseitig bei VN-Abstimmungen unterstützt, soweit nationale Interessen dabei kein Hindernis waren. Allerdings gibt es von diesen Hindernissen einige, wie die Debatten zu Entwicklungsressourcen, zur Reform des Sicherheitsrats und zum Grundverständnis von Menschenrechten zeigen. Das Spektrum an grundlegenden strategischen Positionen reicht dabei von Brasiliens und Südafrikas Fokus auf internationale Eigenständigkeit und besonders Indiens Strategie des „Multi-Alignment“ bis hin zu Chinas und vor allem Russlands explizit antiwestlichem Programm. Diese oft grundsätzlich unterschiedlichen Ausrichtungen führen dazu, dass sich die BRICS-Staaten auch bei systemweiten VN-Reformprozessen auf unterschiedlichen Seiten wiederfinden können. Die Verhandlungen zum Zukunftspakt der Vereinten Nationen sind ein aktuelles Beispiel: Während die meisten G77-Staaten – unter anderem auch Brasilien, Indien und Südafrika – an einem pragmatischen Vorgehen interessiert waren, um vor allem sozioökonomische Herausforderungen im Globalen Süden anzugehen, wollte Russland einen Fokus auf westliche Sanktionen lenken. Ein russischer Versuch, gemeinsam mit dem Iran – einem der BRICS-Neuzugänge – und anderen Verbündeten den Text des Zukunftspakts anzupassen, um den Spielraum des VN-Systems zu begrenzen, wurde von afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten gestoppt.
Spannungen und Brüche scheinen so nicht nur innerhalb der BRICS auf, sondern auch zwischen Russland und vielen Staaten, die sich dem Globalen Süden zugehörig fühlen. Für Brasilien, Indien und Südafrika macht das die BRICS-Mitgliedschaft nicht einfacher, weil Russland von vielen Entwicklungsländern immer wieder als Störenfried gesehen wird, für den südliche Belange nicht unmittelbar relevant sind. Russland selbst lanciert inzwischen den Begriff der „Global Majority“ als Rahmung für die eigene Rolle und auch die der BRICS. In der von Moskau forcierten antiwestlichen Lesart wird daraus eine Kategorie, die – anders als der Globale Süden – problemlos Platz für Russland und den postsowjetischen Raum bietet. Dass die BRICS genauso wenig „die“ Stimme der Mehrheitswelt werden wie sie bisher „die“ Stimme des Südens gewesen sind, ist dabei nicht besonders relevant. Durch die jüngste Runde der BRICS-Erweiterung hat sich das Gleichgewicht innerhalb der Gruppierung Richtung Autokratien verschoben, was der Rückzug Argentiniens als Beitrittskandidat noch verstärkt hat.
Die Erweiterung ermöglicht es Russland – und in seinem rhetorischen Schatten auch China –, mit neu hinzugekommenen Verbündeten die BRICS stärker als antiwestliche Gruppierung auszurichten. Dass die autokratisch regierten Neuzugänge – wie etwa Äthiopien und Ägypten – nicht immer einer Meinung sind, was multilaterale Fragen angeht, lässt vermuten, dass Uneinigkeit auch weiterhin die Rolle der BRICS bei den Vereinten Nationen prägen wird. Der Statur und Sichtbarkeit der Gruppierung im VN-Kontext wird dies wohl nicht zuträglich sein. Mehr noch als vor der Erweiterung scheint es unwahrscheinlich, dass die BRICS bei den Vereinten Nationen mit einer Stimme sprechen werden.
ist promovierter Politikwissenschaftler und Senior Researcher des German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn.
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