Die tiefgreifenden Veränderungen, die derzeit auf der ganzen Welt zu beobachten sind, lassen den Anbruch eines neuen Zeitalters in den internationalen Beziehungen erkennen. Die Entwicklungen reichen von möglicherweise bahnbrechenden Fortschritten in neuartigen Technologien, insbesondere in der Biotechnologie und der künstlichen Intelligenz, bis hin zu bedeutenden Verschiebungen bei Handels- und Investitionsströmen.
Die aktuell tobenden Krisen, Konflikte und Kriege räumen überdies jeden Zweifel daran aus, dass wir in angespannten Zeiten leben. Russlands Einmarsch in die Ukraine, Israels Art der Kriegsführung in Gaza und im Libanon, die von den USA durchgeführten Tötungen auf fremdem Boden und Chinas aggressiver Expansionismus im Süd- und Ostchinesischen Meer und bis in den Himalaya hinein lassen nur einen Schluss zu: Das globale System, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Führung der USA entstanden ist, weicht einer neuen Weltordnung, deren Konturen sich gerade erst abzuzeichnen beginnen. Einige wichtige globale Trends sind jedoch bereits unübersehbar. Sie deuten darauf hin, dass eine grundlegende Neuordnung des internationalen Systems im Gange ist, die weitreichende Auswirkungen sowohl auf die Geopolitik als auch auf die Weltwirtschaft haben wird.
Globale Trends
Nach dem Ende des Kalten Krieges gaben sich einige westliche Experten der romantischen Vorstellung hin, dass die Weltwirtschaft von nun an die Geopolitik bestimmen würde. In der Tat spielt die Wirtschaftsmacht in den internationalen Beziehungen heute eine größere Rolle, doch bestimmt die Geopolitik nach wie vor die Weltwirtschaft, während das politische Risiko die Finanzmärkte beeinflusst. Nach einem alten Sprichwort „folgt der Handel der Flagge“. Anders gesagt: Handelsbeziehungen entwickelten sich schon immer im Gefolge von politischer Macht, und Handel war schon immer mit Geopolitik verknüpft. Auch heute ist die Geopolitik der Schlüssel zum Verständnis der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit – auch wenn die Großmächte mitunter auch umgekehrt wirtschaftliche Initiativen dafür nutzen, ihre geostrategischen Interessen durchzusetzen. Ein klassisches Beispiel ist Chinas „Neue Seidenstraße“, die Belt and Road Initiative (BRI); auch die Kreditvergabepraxis ist häufig von geopolitischen Interessen geleitet.
Beim derzeitigen Übergang zu einer neuen internationalen Ordnung stechen einige Entwicklungen heraus: Ein Trend besteht darin, dass sich die Welt in Richtung Multipolarität verändert. Anstelle der Dominanz einer nach 1990 einzigen Macht ist eine multipolare Weltordnung im Entstehen begriffen. Mit dem Aufstieg neuer Mächte und dem kontinuierlichen Rückgang des westlichen Anteils an der globalen Wirtschaftsleistung – und einem sinkenden westlichen Anteil an der Weltbevölkerung – verschieben sich auch die politischen Kräfteverhältnisse. Die Vereinigten Staaten mögen zwar immer noch die führende Macht sein, aber es fällt ihnen immer schwerer, dem Rest der Welt ihre Regeln zu diktieren. Ansehen und Einfluss der USA im Ausland scheinen zu schwinden, und es setzt sich immer mehr der Eindruck durch, dass die glorreichen Tage Amerikas zu Ende gehen. In dem Maße, wie die amerikanische Vormachtstellung schrumpft, realisieren auch die USA allmählich, dass sie zur Stärkung ihrer Macht auf ihre Verbündeten und strategischen Partner angewiesen sind.
Ein zweiter Trend: Die Rivalitäten zwischen den Großmächten sind wieder in den Mittelpunkt der internationalen Beziehungen gerückt. Dies verschärft die aktuellen Krisen, Konflikte und Kriege und wirkt sich auch negativ auf die internationalen Institutionen aus. Die Vereinten Nationen etwa sind zunehmend an den Rand der internationalen Politik gedrängt worden, was zum Teil auf ausbleibende Strukturreformen und zum Teil auf die Blockade im UN-Sicherheitsrat zurückzuführen ist.
Ein dritter Trend ist der um sich greifende Protektionismus. Angesichts zunehmender globaler Spannungen und geopolitischer Ungewissheit setzen viele Staaten auf eine eher protektionistische und nationalistische Wirtschaftspolitik. Der Populismus ist auf dem Vormarsch, und zwar von Europa bis Asien und Nordamerika. Die Globalisierung ist nicht nur ins Stocken geraten, sondern es besteht nun sogar das Risiko einer gegenläufigen Entwicklung. Dieser zunehmende Protektionismus und wirtschaftliche Nationalismus kann zu wirtschaftlicher Fragmentierung führen – und zu einer Rivalität zwischen Handelsblöcken. Ein solcher Trend hemmt nicht nur das weltweite Wirtschaftswachstum und die Entwicklung, sondern bedroht auch den Frieden auf der Welt.
Geopolitisch geht zudem das Gespenst einer Allianz zwischen China und Russland um. Die sich abzeichnende Annäherung hat nicht nur direkte Auswirkungen auf die Sicherheit des Westens, sondern könnte auch die globale Geopolitik aufmischen. Jahrzehntelang hielten sich Moskau und Beijing gegenseitig auf Distanz, schließlich sind beide benachbarten Giganten von Natur aus keine Verbündeten, sondern Konkurrenten. Doch angesichts einer eher konfrontativen US-Politik sind China und Russland heute so eng miteinander verbunden wie seit den 1950er Jahren nicht mehr.
Genau besehen erhöhen diese Kriege sogar das Risiko einer kriegerischen Auseinandersetzung um Taiwan. Denn angesichts der Aggression Russlands gegen die Ukraine und der daraus resultierenden Fokussierung der USA auf Europa könnte Xi der Einschätzung erliegen, dass sich für China eine Gelegenheit auftut, die „historische Mission“ der gewaltsamen Eingliederung Taiwans anzugehen. Xis diesbezüglichen Ziele sind offenkundig – die„Vereinigung des Mutterlandes“ hat er längst zur „Essenz“ seiner nationalen Verjüngungskur erklärt.
Befeuert der Westen seinen eigenen Niedergang?
Die neue Weltordnung wird sich nicht in Europa oder im Nahen Osten entscheiden – den beiden Regionen, in denen die USA tief in Konflikte verstrickt sind –, sondern im indopazifischen Raum, einer Region, die sich gerade zum wirtschaftlichen und geopolitischen Zentrum der Welt entwickelt. Die maßgeblich von den USA angeführte Unterstützung der Ukraine hat jedoch die strategischen Prioritäten des Westens auf den Kopf gestellt. Folgt man dem ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnson, dann geht es für den Westen in der Ukraine nicht zuletzt auch um die Frage, ob er seine globale Vorherrschaft behält. „Ein russischer Sieg“, so Johnson, „wäre der Moment, in dem der Westen seine Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig verliert“.
In einem kürzlich erschienenen Buch beklagen die beiden ehemaligen Politikberater Robert Blackwill und Richard Fontaine, dass Amerikas „Pivot to Asia“-Strategie, die erstmals 2011 vorgestellt wurde, bisher gescheitert sei, weil ein kohärenter Ansatz für den indopazifischen Raum weitgehend fehle.
Auf globaler Ebene haben die USA nur einen wirklichen Herausforderer: China, das Russland in Bezug auf Wirtschaftsleistung, Militärausgaben und andere materielle Größen in den Schatten stellt. Chinas Bevölkerung übertrifft die russische um ein Zehnfaches, seine Wirtschaft ist ebenfalls beinahe zehnmal so groß, seine Militärausgaben sind etwa viermal so hoch. Während Russlands strategische Pläne im Wesentlichen regional begrenzt sind, strebt China danach, die USA als führende Weltmacht abzulösen und eine chinesisch geprägte Ordnung zu etablieren. China ist mächtig genug, um eine weitreichende Vision zu verfolgen und den Versuch zu wagen, die Welt neu zu gestalten. Solange Konflikte in anderen Regionen die USA ablenken, ist es unwahrscheinlich, dass der indopazifische Raum tatsächlich ins Zentrum ihrer strategischen Überlegungen rückt.
Tatsächlich haben die USA noch nicht begriffen, dass sie ihre eigenen langfristigen Interessen untergruben, als sie Chinas wirtschaftlichen Aufstieg über mehr als vier Jahrzehnte hinweg unterstützten und sich auf diese Weise eigenhändig den größten strategischen Gegner schufen, dem sie je gegenüberstanden. Heute verfügt China nicht nur über die größte Marine und Küstenwache der Welt, sondern es fordert auch die westliche Vorherrschaft in Finanz- und Wirtschaftsfragen heraus. Als Teil seines Strebens nach einer alternativen Weltordnung versucht es, sich vom Druck der USA abzuschotten, und koppelt dafür große Teile seiner Wirtschaft vom Westen ab. China treibt heute mehr Handel mit dem Globalen Süden als mit der entwickelten Welt.
Was Russland betrifft, hat der Westen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine darum gerungen, Wege zu finden, Moskau spürbar zu bestrafen, ohne sich dabei selbst zu schaden. Diese Aufgabe gestaltet sich immer schwieriger, weil die beispiellosen Sanktionen der USA gegen Moskau weder die russische Wirtschaft zum Erliegen gebracht noch irgendetwas am Verhalten des Kremls geändert haben. Wenn überhaupt ein Effekt zu beobachten ist, dann der, dass Russland auf Kriegswirtschaft umgestellt und zum Beispiel seine Raketen- und Munitionsproduktion über das Vorkriegsniveau hinaus ausgeweitet hat.
Hinzu kommt, dass Europa von billiger russischer Energie auf teurere Lieferungen aus anderen Ländern umgestellt hat, was zur Stagnation oder zumindest Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in Europa beiträgt. Die erhöhten Brennstoffpreise, die direkt auf die Erschütterungen der Coronapandemie folgten, sind ein wichtiger Faktor für die derzeitige wirtschaftliche Misere Europas. Das beste Beispiel dafür ist der ehemalige Wirtschaftsmotor Deutschland, dessen Boomjahre voller Wachstum und Haushaltsüberschüsse nun in die Agonie einer schrumpfenden Wirtschaft übergehen.
Auch die Entscheidung westlicher Akteure, die Erträge aus den eingefrorenen russischen Zentralbankguthaben zu beschlagnahmen, erscheint kontraproduktiv für die langfristigen westlichen Interessen – und dürfte den 2022 eingeschlagenen Irrweg, das Finanzwesen als Waffe einzusetzen, noch vertiefen. Die BRICS-Länder und andere nicht-westliche Initiativen suchen bereits nach alternativen Lösungen, um ihre starke Abhängigkeit vom US-Dollar bei internationalen Transaktionen und Währungsreserven zu reduzieren.
Da Zentralbanken im globalen Finanzsystem eine so wichtige Funktion einnehmen, galten ihre Guthaben bislang als sakrosankt. Dennoch wurden die russischen Vermögenswerte, die zu mehr als zwei Dritteln von der in Brüssel ansässigen Clearingstelle Euroclear gehalten werden, einseitig eingefroren, ohne dass der Internationale Gerichtshof oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dies genehmigt hätten, wie es das Völkerrecht verlangt. Um die Erlöse aus den eingefrorenen Vermögenswerten konfiszieren zu können, hat die Europäische Kommission behauptet, einen „legalen Weg“ gefunden zu haben, der in Wirklichkeit aber nichts anderes ist als Rechtsbeugung. Machen wir uns nichts vor: Der Westen kann seine globale Vormachtstellung nur aufrechterhalten, wenn er einen kooperativen, regelbasierten Ansatz wählt und seine privilegierte Position – seine Dominanz in den internationalen Institutionen und den Status von Dollar und Euro als Weltreservewährungen – nicht als Waffe einsetzt. Der routinemäßige Einsatz von Sanktionen als außenpolitisches Instrument und die Benutzung des Finanzsektors zu militärischen Zwecken setzen kontraproduktive Entwicklungen in Gang, die nicht im Interesse des Westens sein können.
Die Hebelwirkung der westlichen Sanktionen gegen andere Länder beruht auf der Dominanz des US-Dollars. Doch die Vorherrschaft des Dollars befand sich schon vor dem Ukraine-Krieg im Niedergang, und der Beginn eines Finanzkriegs wird die Erosion wohl eher noch beschleunigen.
Wenn ein Trend einmal ins Rollen gekommen ist, dauert es oft noch Jahre, bis sich die konkreten Formen abzeichnen. Es wird zweifellos noch einige Zeit dauern, bis die „Entdollarisierung“ klare Formen annimmt. Wichtig aber ist, sich klar zu machen, dass dieser Trend schon begonnen hat. Dass der Dollar die wichtigste Reservewährung der Welt ist, so der ehemalige und nun wiedergewählte US-Präsident Donald Trump im Jahr 2023, „macht uns mächtig und stark“. Sollte es zu einer Entdollarisierung kommen, so Trump, „wäre das so, als würde man einen Weltkrieg verlieren. Wir werden ein Land der zweiten Reihe sein.“
Auf dem Weg zu einer neuen globalen Ordnung?
In der Neuzeit waren es nicht die Friedens-, sondern die Kriegszeiten, die die internationale Ordnung und die internationalen Institutionen formten. Die gegenwärtige globale Ordnung unter Führung der USA, einschließlich der Währungsordnung, wie sie von den Bretton-Woods-Institutionen verkörpert wird, ist aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen. Auch die Vereinten Nationen sind als Organisation aus diesem Krieg heraus entstanden.
Das entscheidende Merkmal unserer Zeit ist aber kein Weltkrieg, sondern eine Vielzahl von Krisen, Konflikten und Kriegen, die zunehmend zu internationalen Turbulenzen führen. Die Welt scheint an einer Schwelle zu größeren geopolitischen und ökonomischen Veränderungen zu stehen, die sich schrittweise entfalten und die globale Finanzordnung sowie die Investitions- und Energiehandelsmuster allmählich umgestalten könnten. Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, reichen vom Mangel an globaler Führung über zunehmende Ungleichheit und wachsenden Autoritarismus in weiten Teilen der Welt bis hin zu den globalen Auswirkungen von Umweltzerstörung und Klimawandel. Die schwindende Macht des Westens, der erodierende Einfluss der USA – auch auf ihre eigenen Verbündeten –, die zunehmend militarisierte Wirtschaft Russlands, das stockende Wachstum Chinas und das wachsende Gewicht des Globalen Südens mit seinen am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften verändern die Weltordnung. Die daraus resultierenden geopolitischen Spannungen waren noch nie so groß wie heute.
Vor diesem Hintergrund stellen neue Allianzen und Koalitionen die Vormachtstellung des Westens in internationalen Institutionen, auch in der globalen Finanzarchitektur, zunehmend infrage. Die wachsende internationale Anziehungskraft der derzeit neun Mitglieder umfassenden BRICS-Gruppe, zu der Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören, lässt sich schon daran ablesen, dass 40 weitere Länder ihren Beitrittswunsch bekundet haben. Sie alle eint das Ziel einer multipolaren Weltordnung anstelle westlicher Dominanz. Die BRICS sind nicht nur eine glaubwürdige Alternative zur Gruppe der G7, sondern haben auch das Potenzial, zur Speerspitze der Neugestaltung des internationalen Systems zu werden.
Der BRICS-Verbund – der erste große, nicht von den USA geprägte Zusammenschluss von Staaten seit Langem – ist zwar keine geschlossene Gruppierung; seine internen Spaltungen und Rivalitäten, insbesondere die zwischen den demografischen Titanen China und Indien, belasten ihn bis zu einem gewissen Grad. Doch alle anderen informellen Organisationen ohne Charta und ständiges Sekretariat, die G7 eingeschlossen, stehen ebenfalls vor Zerreißproben. Zudem beruht die den BRICS innewohnende Stärke auf der seit ihrer Gründung 2006 bestehenden grundsätzlichen Übereinkunft zwischen ihren Mitgliedstaaten, dass die Förderung der Multipolarität der beste Weg ist, um die Ausübung hegemonialer Macht zu kontrollieren – die, wenn sie nicht in Schach gehalten wird, zu Willkür führt, die internationale Sicherheit bedroht und internationale Normen und Regeln untergräbt. Ein großer Teil der Welt will keineswegs an einer von den USA geführten Weltordnung festhalten, sondern strebt ein eher multipolares System an, das der Willkür Einzelner Einhalt gebietet und Fairness fördert.
Obwohl das derzeitige internationale System oft mit neutral klingenden Begriffen wie „regelbasierte Weltordnung“ beschrieben wird, haben die USA hier zweifellos einen besonderen Status inne. Die Vereinigten Staaten haben nicht nur die Regeln, auf denen diese Ordnung beruht, weitgehend selbst aufgestellt, sondern scheinen auch der Meinung zu sein, dass sie selbst von wichtigen Regeln und Normen ausgenommen seien, etwa von dem Verbot, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen.
Wenn sich das internationale System nicht grundlegend ändert, werden sich die kommenden Jahre und Jahrzehnte hinsichtlich der Verletzung der Souveränität schwächerer Staaten durch mächtige Staaten – mit militärischen Mitteln oder durch Sanktionen als politische Waffe – nicht grundlegend von den vergangenen Jahrzehnten unterscheiden. Auch die Folgen militärischer Interventionen dürften sich dann nicht grundlegend ändern. Allein in diesem Jahrhundert haben ausländische Militäreinsätze mehrere Länder destabilisiert zurückgelassen. Manche der betroffenen Staaten sind zu gescheiterten oder scheiternden Staaten geworden, zu Schauplätzen von endloser Gewalt und Blutvergießen. Libyen, Afghanistan, Jemen, Irak und Syrien sind Beispiele dafür.
Die derzeitige globale Situation ist die gefährlichste Phase seit dem Kalten Krieg. Wir scheinen den Beginn einer Welt ohne Ordnung zu erleben. Doch handelt es sich eindeutig nur um eine Übergangsphase, in den kommenden Jahren wird sich ein klareres Bild einer zukünftigen Ordnung ergeben. Abgesehen von den westlichen Machteliten werden nur wenige den wahrscheinlichen Untergang einer „regelbasierten“ internationalen Ordnung beklagen, die weder auf Regeln basierte noch jemals wirklich international war. Es handelte sich um eine machtbasierte Ordnung, die von den USA mithilfe ihrer Verbündeten errichtet wurde. Diejenigen Staaten, die es wagten, sich dieser Ordnung zu widersetzen, wurden vom Westen abgestraft – durch Sanktionen, durch militärische Interventionen oder durch andere Mittel, die einen Regimewechsel herbeiführen sollten.
Dass die USA beschuldigt werden, beim Sturz von Regimen nachzuhelfen oder, im gegenteiligen Fall, diese an der Macht zu halten, indem sie sich in Wahlen einmischen oder zum Teil gewaltsame Aufstände wie die sogenannten Farbrevolutionen unterstützen, ist nicht neu. In jüngster Zeit wurden sie mit Anschuldigungen der abgesetzten Premierminister von Bangladesch und Pakistan konfrontiert, sie seien an deren Sturz beteiligt gewesen. Von den mehr als zwei Dutzend Militärputschen oder indirekten militärischen Machtübernahmen der vergangenen 15 Jahre haben die USA bei etwa der Hälfte von einer öffentlichen Missbilligung abgesehen, weil sie den jeweiligen Regimewechsel vorteilhaft für ihre regionale Macht und ihren Einfluss hielten.
Aus Sicht des Globalen Südens hat diese „regelbasierte“ Ordnung eigentlich nur eines mit größter Deutlichkeit gezeigt: dass das internationale Recht mächtig gegenüber den Ohnmächtigen, aber machtlos gegenüber den Mächtigen ist. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Sehnsucht nach Veränderung in großen Teilen der Welt weit verbreitet ist – eine Sehnsucht, die sich sowohl auf Strukturreformen innerhalb der bestehenden internationalen Institutionen richtet als auch auf eine ganz neue globale Ordnung.
Die gegenwärtigen turbulenten Zeiten könnten also den Weg bereiten für eine tiefgreifende geopolitische und weltwirtschaftliche Neuordnung. Doch die Veränderungen werden sich eher als Evolution denn als Revolution vollziehen. Früher oder später aber wird der Prozess des allmählichen Wandels zu grundlegenden Verschiebungen der internationalen Landschaft führen. In der Zwischenzeit, während die gegenwärtige Ordnung schwindet, wird es zu größerer Instabilität in den internationalen Beziehungen kommen, samt neuartiger oder erhöhter Gefahrenlagen. Das Recht des Stärkeren, das sich bereits jetzt durchzusetzen beginnt, könnte weiter an Zugkraft gewinnen.
Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff, Dresden