Als Jim O’Neill, Chefvolkswirt der Investmentbank Goldman Sachs, im Jahr 2001 erstmals das Akronym "BRIC" in die Welt setzte, ahnten nur die wenigsten, dass aus der damit bezeichneten Gruppe aufstrebender "Schwellenländer" einmal ein Akteur von weltpolitischem Rang werden würde. Der 2006 gegründete informelle Staatenverbund, dem seit 2010 neben Brasilien, Russland, Indien und China auch Südafrika angehört, hat sich mittlerweile auf neun Staaten erweitert ("BRICS plus") – vierzig weitere sollen ihr Interesse an einer Mitgliedschaft bekundet haben. Aus einem Wortspiel für lohnende Kapitalanlagen ("building better global economic BRICs") ist eine Staatengruppe geworden, die zunehmend als politischer und ökonomischer Herausforderer "des Westens" gesehen wird.
Mitunter gerät dabei allzu schnell die Heterogenität der BRICS-Staaten aus dem Blick. Diese unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer politischen Systeme fundamental voneinander, sondern auch in ihren Einstellungen zur Geltung von Menschenrechten, ihren wirtschafts- und geopolitischen Interessen und Ressourcen oder ihrer Einschätzung internationaler Konflikte. Was sie eint, ist die dezidierte Kritik an der vom Westen geprägten und von ihm dominierten internationalen Ordnung – und die Betonung der Prinzipien nationale Souveränität, territoriale Integrität und Nichteinmischung. Dass ihr Gründungsmitglied Russland mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine eklatant gegen diese Prinzipien verstößt, irritiert allenfalls hinter verschlossenen Türen; wichtiger sind die gemeinsamen ökonomischen und geopolitischen Interessen.
Für den Westen, vor allem für Europa, stellt sich die Frage, wie mit diesem zunehmend relevanten Akteur umgegangen werden soll. Die Antwort wird auch davon abhängen, ob man den BRICS-Verbund in erster Linie als von China dominierten Herausforderer sieht, oder ob man seine Heterogenität als Chance begreift, Brücken zu jenen Staaten des Globalen Südens zu bauen, die zwar Kritik an der westlichen Vorherrschaft formulieren, einer chinesisch oder russisch dominierten internationalen Ordnung aber ebenfalls wenig abgewinnen können. Diesen Staaten auf Augenhöhe zu begegnen, ohne die eigenen Werte und Interessen zu verleugnen, wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer besseren multilateralen Zusammenarbeit.