„Über Wein und Essen sind wir uns näher gekommen“ – nein, hier geht es nicht um ein Date, sondern um politische Zusammenarbeit in der ehemaligen Bundeshauptstadt. Denn in Bonn, und wohl auch in vielen anderen Machtzentren damals wie heute, spielte sich Politik auch jenseits der offiziellen Örtlichkeiten ab: Kantinen- und Gaststättenbesuche, Kaffeepausen und Stehempfänge sind ebenfalls Teil des politischen Alltags. Eine Situation verändert sich, wenn gemeinsam gegessen und getrunken wird. Das Eingangszitat stammt von der ehemaligen Grünen-Politikerin Margareta Wolf, die das Zusammenkommen von Abgeordneten der Grünen und der Union in den 1990er Jahren beschreibt. Im italienischen Lokal „Sassella“ im Bonner Stadtteil Kessenich waren nicht nur damalige politische Spitzen wie Bundeskanzler Helmut Kohl zu Gast. Im Weinkeller traf sich auch die „Pizza-Connection“, eine Gruppe junger PolitikerInnen der CDU und der Grünen, die sich über die damals tiefen Parteigräben hinaus kennenlernen wollte. Für die CDU waren beispielsweise Peter Altmaier, Norbert Röttgen und Armin Laschet dabei, Grüne-Mitglieder waren etwa Cem Özdemir, Matthias Berninger oder Volker Beck.
„Über Wein und Essen (…) sind wir uns näher gekommen und (…) haben uns wechselseitig auch gefragt, wie war denn deine Sozialisation, warum bist du so, wie du jetzt heute bist. Warum bist du in der Partei und warum bist du in der Partei. Also man hat sich wirklich darüber kennengelernt. (…) [I]ch glaube, dass auch diese Freundschaft so ne Vorbereitung für Schwarz-Grün ist, weil man ganz offen miteinander sprechen kann.“
Dieser Artikel beruht im Wesentlichen auf den Erkenntnissen meiner Masterarbeit, für die ich mehr als 20 Interviews mit ZeitzeugInnen der Bonner Republik geführt und ausgewertet habe, darunter Abgeordnete, JournalistInnen, Lobbyisten und Mitarbeitende der Gastronomie. Die Kernfrage ist, welche Bedeutung gemeinsames Essen für die politische Kommunikation hat. Diese ist im basalen Wortsinn gemeint: Es geht um das Kommunizieren zwischen im weitesten Sinne an politischen Entscheidungsprozessen beteiligten Einzelpersonen. Dabei werden weder Staatsbankette noch andere formalisierte Ereignisse gemeinsamen Essens thematisiert, sondern informale Zusammenkünfte, bei denen gegessen und getrunken wurde, zumeist in der Gastronomie. Privater Gastlichkeit kam im Alltag des Bonner Hauptstadtbetriebs nur eine untergeordnete Bedeutung zu.
Das Informale spielt für die politische Kommunikation eine wichtige Rolle, die allerdings wissenschaftlich wenig beleuchtet ist.
Das hier untersuchte gemeinsame Essen und Trinken ist ein Teil dieses informalen politischen Handels und hat zunächst einen pragmatischen Grund: Das Bedürfnis nach Nahrung macht selbst vor den vollsten Terminkalendern nicht Halt. Dennoch spricht den Interviewten zufolge noch mehr dafür, sich in der Gastronomie und nicht zum Beispiel in einem Büroraum zu treffen, denn Essen beeinflusst den Charakter einer Zusammenkunft und damit auch das politische Kommunizieren. Ausgewählte Aussagen von ZeitzeugInnen der Bonner Republik zeigen hier mehrere Merkmale gemeinsamen Essens für die politische Kommunikation auf, die sich allerdings nicht trennscharf voneinander unterscheiden.
Beziehungsfestigung und Abgrenzung
Die Pizza-Connection ist ein gutes Beispiel dafür, wie gemeinsames Essen dem Aufbau von Vertrauensverhältnissen dient. Die jungen Grünen- und CDU-Abgeordneten trafen sich bei „Sassella“ gewissermaßen auf neutralem Boden. Sie begegneten sich auf Augenhöhe. In einem Lokal treten Funktionen und Titel häufig in den Hintergrund, und anders als in Sitzungssälen gibt es seltener eine Sitzordnung. Das ermöglicht offenere Gespräche. Im Fall der Pizza-Connection, sicherlich einem sehr eng gefassten Beispiel, fand sogar eine Vergemeinschaftung der Mitglieder statt.
Bei der Pizza-Connection hat sich also eine neue Gemeinschaft im Kontext der Gastronomie gebildet. Die Bonner Republik bietet aber auch Beispiele für das Gegenteil, nämlich für Fraktionierung. So gab es die „Kanalarbeiter“, ein Kreis von SPD-Abgeordneten. Ihre Treffen in einem festen Stammlokal, zunächst die „Rheinlust“, später der „Kessenicher Hof“, waren jahrelang institutionalisiert, und es sei ebenso Politik besprochen worden wie Postenvergaben, sagt der ehemalige SPD-Abgeordnete Klaus Thüsing (von 1977–1983 im Bundestag). Die Kanalarbeiter pflegten außerdem gemeinsame Rheinschifffahrten und ein traditionelles Spargelessen.
Die SPD-Linke, der sogenannte Leverkusener Kreis, war laut Thüsing damals eine weniger feste Gruppe ohne Stammkneipe. Die Mitglieder seien eher in linken Szenekneipen wie zum Beispiel der „Schumann-Klause“ oder dem „Gambrinus“ unterwegs gewesen. Hier zeigt sich, dass der Raum und die Atmosphäre einer Gaststätte beeinflussten, inwiefern das Lokal ein Ort politischer Kommunikation war. An einem festen Stammtisch mit Sitzplätzen liegt es näher, semi-offizielle Vorabsprachen zu treffen, als stehend in einer beengten und lauten Kneipe, in der wechselnde Personenkombinationen üblich sind. Ein Lokal ist daher niemals nur ein Ort, an dem Hunger und Durst gestillt werden, sondern immer auch ein Raum, in dem soziales Handeln stattfindet – und unterschiedliche Lokale sind unterschiedlich sozial codiert.
Kennenlernen
Gerade ungezwungene Kneipen oder parteiübergreifende Orte, wie etwa der Presseclub, bieten einen Rahmen, in dem Kontakte geknüpft und Begegnungen ermöglicht werden, die in anderen Räumen als unpassend empfunden würden.
Carl Otto Lenz, CDU-Bundestagsabgeordneter von 1965 bis 1984, sieht die wichtigste Bedeutung des gemeinsamen Essens und Trinkens darin, Gelegenheiten und eine Atmosphäre zu schaffen, die zu einem ungezwungeneren Umgang miteinander führen und Gespräche in Gang bringen. Er erläutert, dass die Besprechungen genauso gut im Büro stattfinden könnten, die Anbahnung der Gespräche aber nicht. Neben kulinarischen Treffen nennt er dabei auch die parteiübergreifende Fußballmannschaft „FC Bundestag“ und Abgeordneten-Fahrradtouren. Diese seien „als solche unpolitisch, aber die Tatsache, dass man da Leute kennengelernt hat, von denen man weiß, die interessieren sich für das Gleiche, die war schon politisch. Auf dem Gang ansprechen – das tust du nicht bei einem, den du nicht kennst. Aber wenn du ihn kennst und weißt, was der macht und der hat einen Bezug zu dem Thema, was dich gerade beschäftigt, dann kannst du ihn ansprechen.“
Hierzu passt auch die aus journalistischer Perspektive mehrfach beschriebene Gelegenheit, gewünschte GesprächspartnerInnen auf dem kleinen Dienstweg „abzufangen“, um an Informationen zu gelangen. „Man wusste, wo man wen auch treffen konnte“, beschreibt der Journalist Ansgar Burghof.
Der ehemalige CDU-Bundesminister Christian Schwarz-Schilling (von 1976–2002 im Bundestag) berichtet, dass informales Zusammenkommen auch genutzt wurde, um politische Einstellungen und mögliches Abstimmungsverhalten abzuklopfen. Er beschreibt beispielsweise, dass sein Staatssekretär Wilhelm Rawe vor strittigen Gesetzgebungsvorhaben abends in der Parlamentarischen Gesellschaft im lockeren Rahmen prüfte, wer aus der eigenen Fraktion beziehungsweise Koalition zustimmen wird und wer unsicher ist. Die Parlamentarische Gesellschaft ist eine Vereinigung, in der nur Abgeordnete beitreten können. In ihren Räumen konnten und können sie interfraktionell essen, trinken, tagen und verweilen. Schwarz-Schilling sieht in dieser „Kneipendiplomatie“ auch eine politische Fertigkeit.
Sitzungssaal vs. Gaststätte
Ansgar Burghof beschreibt den Unterschied zwischen Treffen im Sitzungssaal oder in der Gastronomie so: „Wenn du in eine Sitzung gehst, hast du eine Agenda und meistens einen zeitlichen Rahmen, in dem du bestimmte Dinge diskutieren musst und entscheiden musst. Und das führt dazu, dass der Rahmen eher steif, eher förmlich (…) ist. Und in dem Augenblick, in dem man diesen Rahmen verlässt, und man geht in ein Restaurant oder man sitzt am Tisch und isst zusammen, dann löst sich (…) diese Strenge auf und dann wird es – ich sage das mal in Anführungsstrichen – dann wird es „menschlicher“. Dann (…) kommen plötzlich auch Themen auf den Tisch, die möglicherweise formal (…), in einem Sitzungssaal gar nicht auf den Tisch kämen. Und das, das macht im Grunde genommen das Spannende aus, dass die Atmosphären in Kneipen, in Restaurants oder in Nicht-Sitzungssälen eben lockerer sind, und gerade deshalb (…) dazu beitragen, dass gerade dort es zu politischen Entscheidungen kommt.“
Durch Geselligkeit werden formale Verhandlungsdynamiken aufgebrochen, sodass Handlungsspielräume entstehen. Zum Beispiel gibt es weniger Druck, unmittelbar einen Verhandlungserfolg vorzuweisen. Außerdem können bei informalen Zusammenkommen die politische Funktion und die Parteimeinung eher in den Hintergrund treten, anders als zum Beispiel in Ausschüssen oder öffentlichen Debatten. Hinter verschlossenen Türen ist ein offenerer Austausch möglich. Konflikten kann so vorgebeugt werden. Sie werden mit weniger Gesichtsverlust gelöst, und Kompromisse können leichter geschlossen werden. Laut Burghof erzeugen Gaststätten eine Nähe, die im politischen Geschäft notwendig ist.
Burghofs Aspekt, dass Politik an Tisch und Theke „menschlicher“ wird, benennt auch Klaus Thüsing. Gesellschaftlicher beziehungsweise außerparlamentarischer Kontakt beispielsweise in Kneipen oder Clubs ist ihm zufolge „ganz ganz wichtig und entscheidend“. Man lerne andere Meinungen kennen und die anderen Abgeordneten auch menschlich schätzen. Es sei wichtig, in „menschlichen Kategorien“ zu denken und trotz politischer Gegensätze nicht in ein Diffamierungsschema zu verfallen. Austausch jenseits von Sitzungen und Tagesordnungen fördert den Aufbau von Vertrauensverhältnissen, die es für das formale politische Handeln ebenso braucht wie für das informale. Dem Soziologen Niklas Luhmann folgend finden sich die Relevanz und das Bilden von Vertrauensverhältnissen besonders stark in sozialen Zusammenhängen, die dem „Gesetz des Wiedersehens“ folgen.
Nähe und Vertraulichkeit
Nähe – das ist das Stichwort, das in fast keinem der Interviews über das politische Bonn fehlt. Die Bonner Republik war geprägt von einer geografischen Nähe der Institutionen und somit auch der politischen AkteurInnen. Man lief sich über den Weg. Auch das politische Essen konzentrierte sich letztlich auf wenige Gaststätten. Eindeutiger Tenor der Gespräche ist, dass die BonnerInnen gegenüber dem politischen Bonn eine gewisse Diskretion wahrten, auch in den Gaststätten.
Dennoch liegt es nahe, zu vermuten, dass die Gastronomie kein Ort für vertrauliche Themen war. Hierzu zeigten die Interviews aber eine interessante Ambivalenz. Denn gerade in den Anfängen der Bonner Republik hatten Abgeordnete nicht unbedingt ein Büro für sich alleine. Auch boten die Gaststätten und Kneipen eine räumliche Distanz zum Büroalltag mit ständig klingelndem Telefon oder anderen Störungen. Verabredungen zum Essen hatten zudem den Vorteil, dass der eventuell dahinterstehende Grund für das Treffen vorab nicht klar kommuniziert werden muss, das Essen also als Vorwand dient.
Gleichzeitig berichtet Eisel aber auch, dass besonders vertrauliche Gespräche nur im eigenen Büro geführt worden sind.
Beeinflussung
Inwiefern dienten Essenseinladungen auch als Lockmittel? Mehrere GesprächspartnerInnen erzählten, dass das erwartete kulinarische Angebot bei oder nach einer Veranstaltung durchaus mitentscheidend sein konnte, zu welchen Terminen man ging. Hubert Kleinert, Grünen-Abgeordneter in den 1980er Jahren, berichtet zum Beispiel, er habe als junger Abgeordneter durchaus mal Reden „über sich ergehen lassen“,
Mehrere interviewte Lobbyisten sagten, dass mit der Auswahl eines Lokals erreicht werden müsse, dass sich der oder die Eingeladene wohlfühlt und somit der Lobbyvertreter möglichst lange Zeit für sein Anliegen hat. Einflussnahme erfolgte also häufig über die passende Atmosphäre. Die Interviews mit Lobbyisten machen deutlich, dass die Auswahl einer passenden Gaststätte zum festen Instrumentarium ihrer Tätigkeit gehört.
„Die Landesvertretungen haben abends ja eigene Veranstaltungen gemacht und da kriegte man dann Einladungen. (…) Wir sowieso von der ARD, wir wurden immer gern gesehen und hofiert, in der Hoffnung, dass wir dann auch in der Tagesschau darüber berichten [lacht]. Also es gab sehr, sehr viele Einladungen. Man hätte sich komplett durchfüttern können die ganze Zeit. Und im Presseclub, oder auch woanders gab es natürlich auch Verbände, Verlage, die dort ihre Präsentationen machten, ihre Diskussionen. (…) Sehr berühmt berüchtigt waren immer die Weihnachtsessen. Also, jeder Minister hat dann zu Weihnachten Weihnachtsessen gemacht für die Journalisten.“
Dieser Eindruck von ARD-Journalistin Johanna Holzhauer (tätig von 1985–2000) beschreibt die Ess- und Trinklandschaft im journalistischen Bonner Hauptstadtalltag vor allem mit Blick auf die Landesvertretungen. Diese dienen bis heute als Interessenvertretung und Repräsentation der Bundesländer. In dieser Funktion waren sie in Bonn Teil der politischen Kommunikationskultur und ermöglichten durch Einladungen zu Pressefrühstücken, Ausstellungen, Konzerten, Themenabenden und Festen mehr oder weniger informale Begegnungen.
Ein besonderes Essen führte sicherlich nicht unmittelbar zu einer bestimmten Berichterstattung – es führe aber durchaus vielleicht zu Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema.
Ablenkung und Alkohol
Die allermeisten genießen es wohl, wenn die Atmosphäre stimmig ist und das Essen gut. Mehrere Interviewte beschreiben, dass das Zusammenkommen bei Essen und Trinken für Ablenkung oder Erholung sorgte. Dabei ist die besondere Lebenssituation der Abgeordneten zu bedenken. Sie lebten in der Regel in den Nicht-Sitzungswochen in ihrer Heimat mit ihren Familien, in den Sitzungswochen in Bonn in eher spartanischen Verhältnissen ohne vertrautes persönliches Umfeld. Gerade in den Anfangsjahren der Bonner Republik bewohnten sie oft Gästezimmer von Privathäusern, die nicht unbedingt eine Möglichkeit zum Kochen boten – sofern die mehrheitlich männlichen Abgeordneten dies überhaupt gekonnt oder getan hätten. Auch Kontaktmöglichkeiten zur Familie waren selbstredend eingeschränkter als in der Gegenwart. Nicht umsonst waren abendliche Skatrunden beliebt, zum Beispiel in der Parlamentarischen Gesellschaft.
Ab und zu erwähnten die Interviewten, dass die Nahrungsaufnahme als solche die Stimmung hob, viel mehr aber noch der Alkohol: „Es wurde schon relativ viel gesoffen, das ist schon wahr. (…) Also nicht, dass Sie denken, dass alle immer besoffen gewesen wären, aber natürlich hat es den ein oder anderen Abend gegeben auch in der ‚Provinz‘, wo man mal ein Glas mehr trank. Und wenn man so zusammensaß, dann wird die Zunge lockerer, dann wird die Rücksicht geringer, die Vorsicht vielleicht auch, dann entstehen auch Ideen, man lacht, das ist dann alles halb ernst gemeint, aber dann irgendwie doch nicht ganz unernst usw. Da ist der Alkohol natürlich hilfreich. (…) Ich will jetzt hier nicht das Saufen verteidigen, aber das ist schon für vieles hilfreich gewesen.“
Der damalige Grünen-Politiker Hubert Kleinert nimmt Bezug auf die kleine Gaststätte „Provinz“, die Mittag- und Abendessen anbot, aber auch die Feierabendkneipe einer linken Klientel war.
Auch die kulturelle Bedeutung der verschiedenen alkoholischen Getränke ist hier relevant. Etwa, wenn Abgeordnete aus Weinanbaugebieten in der Hauptstadt ihren Heimatwein trinken und bewerben, oder ob ein Abgeordneter edlen Wein in entsprechender Atmosphäre oder Bier in der Kneipe trinkt. Es kann Ausdruck eines Selbstbildes oder einer gewünschten Außenwahrnehmung sein. Wie überall in der Gesellschaft war es auch im Bonner Hauptstadtalltag sehr üblich, Alkohol zu trinken – auch tagsüber im Büro oder bei Ausschusssitzungen. Interessanterweise unterscheiden sich bei den verschiedenen Befragten auch die Einschätzungen rund um den Alkohol. Während einerseits Suchtproblematiken, unter anderem wegen der Einsamkeit durch die Lebensweise, sehr deutlich genannt werden, wird Alkoholkonsum andererseits nicht als besonderes Thema bewertet.
Schluss
Ob in spontan entstehenden Gesprächssituationen oder in geplanten Verabredungen: Beim Essen und Trinken werden Informationen ausgetauscht, politische Standpunkte klargestellt, Gemeinsamkeiten entdeckt, politische Grundfragen erörtert, Posten vergeben, Verhandlungen geführt oder es werden im Vorfeld zu formalen Verhandlungen Konflikte ausgeräumt. Gemeinsames Essen ist als Kommunikationshandlung und Symbolträger Ausdruck und Regulativ sozialer Verhältnisse und kann ein Akt der Vergemeinschaftung ebenso wie ein Akt der Abgrenzung sein.
Die Art der Nahrung spielt eine untergeordnete Rolle. Vielmehr sind es die mit Gaststätten zusammenhängenden Eigenschaften, die für die politische Kommunikation von Bedeutung sind: eine andere Atmosphäre, eine andere soziale Codierung als bei einem Termin in einem Büro oder Sitzungsaal. Auch entlastet eine Verabredung zum Essen davon, den eigentlich dahinterliegenden Grund des Treffens von Beginn an kommunizieren zu müssen. Gemeinsames Essen trägt ebenso zur Erholung der Einzelnen wie zur Entspannung einer Situation bei. Viele der Befragten sehen eine größere Offenheit als Vorteil, woran auch alkoholische Getränke nicht immer unbeteiligt sind.
Gemeinsame Mahlzeiten beeinflussen den Charakter einer Zusammenkunft und damit auch das politische Kommunizieren. Somit sind sie Teil der politischen Kommunikation und des informalen politischen Handelns. Wie groß die Bedeutung ist, lässt sich nur schwer messen. Mit Blick auf die geführten Interviews finden sich jedoch viele Anzeichen dafür, dass die „Lokal-Politik“ eine wichtige Rolle spielt. Aber: Für die Interviews zu dieser Untersuchung gab es auch viele Absagen mit der Begründung, man könne zu dem Thema nichts beitragen. Offen ist, ob für die Absagenden die Gastronomie als politischer Ort wirklich keine Rolle spielte oder ob sie sich gar nicht bewusst waren, dass auch das Teil ihrer politischen Arbeit gewesen war.
Es ist selbsterklärend, dass nicht nur das Essen Einfluss auf die politische Kommunikation hat, und ebenso findet politische Kommunikation nicht ausschließlich in Gaststätten statt. Beteiligte des politischen Betriebs nutzen gemeinsames Essen gewissermaßen als Handwerkszeug, dessen Beherrschung ihre Arbeit erleichtert. Die Auswertung der Interviews und auch die Absagen haben aber demonstriert, dass Abgeordnete auch ohne dieses Instrument politisch handeln können. Sie können, um im Bild zu bleiben, auch mit anderen Werkzeugen zum Ziel kommen. LobbyistInnen und JournalistInnen sind in ihrem Arbeitsalltag deutlich stärker auf Möglichkeiten der informalen Kommunikation im kulinarischen Rahmen angewiesen.
Viele der herausgearbeiteten Eigenschaften gemeinsamen Essens unterscheiden sich in anderen westlichen Machtzentren wohl nicht, gewiss gibt es im Einzelnen aber Unterschiede. Spezifisch für Bonn sind unter anderem die räumliche Nähe und Vertrautheit. Oft ergänzten die GesprächspartnerInnen den Zusatz, dass dies heute in Berlin anders sei – nicht ohne Grund wird auch vom „Bundesdorf“ Bonn gesprochen. Diese räumliche Nähe ist unabdingbar, um informale politische Prozesse der jungen Bundesrepublik begreifen zu können. Zur Verdeutlichung: Es gab in dem Radius, in dem sich der politische Betrieb in Bonn bewegte, nur wenig Gastronomie. In diesen Gaststätten haben sich, besonders in den frühen Jahren der Bonner Republik, alle versammelt, die Lust auf ein Feierabendbier hatten, die Mittagessen wollten oder die abends nach Feierabend Hunger hatten, bei denen zu Hause niemand mit Essen auf sie wartete und die nicht selbst kochen wollten oder konnten. PolitikerInnen jeder Partei, JournalistInnen, LobbyistInnen und andere politisch Tätige haben sich also in der jungen Bonner Hauptstadtzeit in den wenigen Gaststätten getroffen – ob sie wollten oder nicht. Man war sich nah. Diese Nähe macht Politik vertrauensvoller, führt zu zwischenmenschlichen Beziehungen und einem guten Umgang miteinander: Sie macht die Politik menschlicher.
Bei aller berechtigten Kritik an der Undurchsichtigkeit informaler politischer Prozesse: Im öffentlichen Diskurs sollte die Gefahr schädlicher Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung nicht damit in einen Topf geworfen werden, dass insbesondere PolitikerInnen sich untereinander als Menschen und Kollegen verstehen. Die Grenzen dazwischen verlaufen zwar fließend, und die gesamte Thematik muss stets kritisch beobachtet werden, aber dennoch ist festzuhalten, dass respektvoller Umgang und gegenseitiges Verständnis politischen Prozessen genauso wenig schaden wie allen anderen zwischenmenschlichen Kontakten.
Die Nähe und Kommunikation in Gaststätten, in denen sich Mitglieder verschiedener Parteien begegneten und in denen sich Mandatsträger als Menschen kennenlernten, hatte in der jungen Bundesrepublik einen Anteil daran, dass sich keine unüberwindbaren Gräben bildeten, dass Abgeordnete nicht zu Feinden wurden, dass „Bonn nicht Weimar“ wurde.