Was bedeutete Bonn für die Bonner Republik? Ein „Wartesaal für Berlin“? Die nördlichste Stadt Italiens? Pensionopolis oder Bundeswiege? Die Wahl Bonns zur Bundeshauptstadt 1949 inspirierte seit jeher zu einer Kaskade entweder an Euphemismen oder – weitaus häufiger – an Kakophemismen.
Ausgehend von der Frage, wie Bonn Bundessitz wurde, werden im Folgenden die Anfänge und die Konstruktion der Bonner Republik mit Blick auf Bonn selbst thematisiert. Wie profilierte sich die Stadt, welche identifikatorischen Angebote prägten sie, und wie wird sie gegenwärtig rezipiert?
Begriff, Zeitraum, Konzept
Die Bonner Republik hat Konjunktur. Film, Funk und Fernsehen widmen sich ihrem Spirit und loten mit Serien wie „Bonn. Neue Freunde – alte Feinde“ (2023) oder „Deutschland“ (2015–2020) ihre Erzählbarkeit aus. Schon in den 1960er Jahren hatten Spionagethriller und Regionalkrimis Bonn als Ort spannender Ermittlungen, schneller Verfolgungsjagden und brutaler Verbrechen inszeniert. Die Serien der vergangenen zehn Jahre greifen auf diese bereits etablierten Muster zurück, wenn sie den Fokus auf Geheimdienste und tradierte Machtstrukturen legen. Ebenso entwickeln Regionalkrimis diese Ansätze weiter und widmen sich möglichen Kontinuitäten mafiöser Strukturen aus fast fünfzig Jahren Bundessitz. In Fatih Akins Film „Rheingold“ (2022) verbinden sich die auch in der Gegenwartsliteratur intensiv verhandelten Themen Kindheit und Mentalitätsgeschichte der Bonner Republik und das Ausloten der Relevanz generationeller Erinnerung für die Gegenwart.
Eine grundlegende Definition der „Bonner Republik“ kann zunächst an zwei Punkten ansetzen: Zum einen bezeichnet der Begriff den Zeitraum, in dem Bonn Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland war. Zum anderen ist das Bild der „Bonner Republik“ nicht zuletzt durch den Kontrast zur „Berliner Republik“ aufgeladen.
Die Begriffsschöpfung „Bonner Republik“ ging der Hauptstadtwahl im Parlamentarischen Rat voraus und erschien nicht zuerst in der deutschsprachigen Presse. Bereits am 2. September 1948 berichtete die französische Wochenzeitung „Paris-Dakar“ im Senegal über „La République de Bonn“. Seit dem Beschluss im Parlamentarischen Rat am 10. Mai 1949, bei der sich Bonn gegen Frankfurt am Main durchgesetzt hatte, schrieb die US-amerikanische Presse über die „Bonn Republic“. Deutsche Zeitungen griffen die Formel erst später auf, zunächst in den Berichten der Auslandskorrespondenten.
Bonn und das von dort neu entworfene Bild des Landes waren also von vornherein maßgeblich für die Außenwahrnehmung der Bundesrepublik, entsprechend stellt der Politikwissenschaftler Manuel Becker fest: „Die kleinstädtische Prägung der Stadt am Rhein symbolisierte auf ihre eigene Art die Absage an jegliche Form von neu aufkeimenden Allmachtfantasien. Die offen demonstrierte Bescheidenheit wurde zum Programm des neuen Deutschlands nach dem Krieg erhoben. Der Baustil der Bonner Regierungsbauten und der deutschen Botschaften im Ausland legt bis heute ein beredtes Zeugnis davon ab. Prägend für die ‚Bonner Republik‘ war eine zuerst defensive Auffassung der Kategorie ‚Macht‘. Ein Verzicht auf nationale Alleingänge und ein uneingeschränkter Multilateralismus gehörten seit ihren Kindertagen zur Staatsräson.“
Die Vorstellung der Bonner Republik, die Becker hier skizziert, muss in der Rückschau um einen wichtigen Aspekt ergänzt werden: Mit dem Umzug nach Berlin ist das Bonn im Ausdruck „Bonner Republik“ nicht mehr ein geografischer Ort, sondern eine zeitliche Referenz. Entsprechend wandelt sich die Bonner Republik in den 1990er Jahren von einer Orts- zu einer Zeitmetapher.
Perspektiven der Forschung
Anknüpfend an vorhandene Studien zu regional- und parteihistorischen sowie politikwissenschaftlichen Fragestellungen, an Überblickswerke zur Entstehung der Bundesrepublik, ihrer europäischen Dimension, ihrer Kulturgeschichte und dem „Abschied vom Provisorium“ reflektiert die jüngere Forschung zunehmend die hierbei entwickelten Kanonisierungen. Die Bonner Republik war mehr als das politische Selbstverständnis eines Landes, sie findet heute vielmehr Verwendung in Form einer epochal gedachten Klammer mit regionalem Fokus, zu der auch Joseph Beuys, internationale Beziehungen, Heimatfilme, der Kalte Krieg sowie Kunst und Literatur der Nachkriegszeit gehören. Dabei gelangen interdisziplinäre Fragestellungen zunehmend in den Fokus. In Rückschau auf die Wende von 1989/90 und Fragen nach dem, was das Ereignis verändert, verschoben oder verdeckt hat, öffnen Arbeiten zur gesellschaftlichen Diversität den kanonisierten Forschungsdiskurs essenziell.
Große mediale Aufmerksamkeit und eine Korrektur der noch immer männlich dominierten Wahrnehmung der Bonner Republik hat der Film „Die Unbeugsamen“ (2021) ausgelöst. Auch die Eröffnung der Theodor Wonja Michael Bibliothek in Köln am 19. Februar 2022 ist nicht nur eine Erweiterung der regionalen Bibliothekslandschaft, sondern als erste Schwarze Bibliothek in Nordrhein-Westfalen ein manifester Ort der Geschichte Schwarzer Menschen in der Bundesrepublik. Sie gehört damit zu den wichtigen Schritten in der Diversifikation des Erinnerungskanons des 20. Jahrhunderts. Bisher finden Forschende Material zu diesem Teil der Bonner Republik selten in den Archiven von Stadt, Land und Bund, sondern in privaten Nachlässen oder etwa dem Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg. Mit Theodor Wonja Michael (1925–2019) wählte die Kölner Bibliothek einen Namenspatron, dessen Memoiren ein Stück Geschichte der Bonner Republik dokumentieren: Als Journalist war er Mitherausgeber des „Afrika-Bulletin“, ab 1971 arbeitete er beim Bundesnachrichtendienst in Pullach, zuletzt als Regierungsdirektor. Sein Vertrauen in das demokratische Potenzial der jungen Bundesrepublik sowie der Appell für eine transkulturelle Geschichtsschreibung ziehen sich durch den zweiten Teil seiner Biografie: „Die größte Zuwanderung war eine Folge des verlorenen Krieges, als Millionen von Menschen deutscher Zunge durch Flucht und Vertreibung ihre ursprüngliche Heimat verlassen mussten. Sie haben das alles andere als freiwillig getan und sie sind keineswegs mit Begeisterung aufgenommen worden. Dennoch war es die Gesamtheit dieser Menschen, die nach den Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit erheblichen Anteil am Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland in Europa und der Welt hatten.“
Als Desiderat kann die Vernetzung der Diskurse zwischen der Bonner Republik als einer regional fokussierten Klammer mit epochalem Bedeutungshorizont und Forschungen zur Kulturgeschichte aus migrantischer, queerer sowie Schwarzer Perspektive benannt werden. Denn tatsächlich zeigt die Verbindung von Geschichte und Begriffsbedeutung, dass sich die Bonner Republik als Referenz für Ziele einer Partei wie der neurechten Werteunion nicht eignet, anders als es der Vorsitzende Hans-Georg Maaßen bei der Gründung behauptete.
Parlamentarischer Rat
„Nomina sunt omina. Namen bringen zum Ausdruck, was denn eigentlich entsteht oder entstehen soll“, stellte Carlo Schmid am 8. September 1948 im Parlamentarischen Rat fest. Die Rede war Teil der Generaldebatten, mit denen der Rat die Arbeit aufgenommen hatte. Zunächst sollten damit prinzipielle wie parteipolitische Positionen zur Ausarbeitung einer Verfassung auf Basis des vom Verfassungskonvent in Herrenchiemsee entwickelten Entwurfs erläutert werden. Entsprechend grundsätzlich fragte Schmid: „Soll das Gebilde, dessen Organisation wir hier zu schaffen haben, einen Namen erhalten oder nicht? Die Frage ist von höchster Bedeutung. (…) Nun ist die Frage die, ob sich ein Name überhaupt mit einem Provisorium verträgt, ob hier nicht statt eines Namens eine bloße ‚Bezeichnung‘ das Bessere wäre.“ Schmids sprachtheoretische Reflexion ist zunächst eine Positionierung in der Frage nach dem Provisorium. Nicht nur sollte der Bundessitz als Symbol des Provisoriums fungieren, sondern auch die Benennung der zu erarbeitenden Verfassung den provisorischen Charakter verdeutlichen. Darüber hinaus verweist seine Frage nach der Namensgebung auf den Topos des Anfangs. Dieser findet sich nach 1945 in unterschiedlichen Bedeutungen wieder, so zum Beispiel in Wolfgang Borcherts Text „Generation ohne Abschied“ (1947). Mit Begriffen wie „Nullpunkt“ oder „Stunde Null“ wurde zunächst versucht, die Ambivalenz der jungen Bundesrepublik zwischen NS-Kontinuität und Neuanfang zu fassen, mit dem Nachteil, dass die „Besetzung dieser Pole in teils täuschender Weise“ die Inhalte miteinander verschnitt. Als „Stunde Null“ kann die Zeit heute jedoch nicht mehr bezeichnet werden, weil sie in der rückblickenden Konstruktion ihre Ambivalenz verliert und etwas behauptet, das es nicht gab: die Unschuld des Anfangens. Der Gegenwartsgebrauch, so die Erinnerungsforscherin Steffi Hobus, „verdeckt die Tatsache, dass es sich um eine naturalisierende Konstruktion handelt: Indem der Ausdruck immer weiter fortgeschrieben wird, erscheint die Entlastung von der Schuld oder die eigentlich unmögliche Befreiung von der Vergangenheit als gegebene Tatsache.“
Die grundsätzliche Reflexion Schmids am 8. September 1948 über die Bedeutung von Begriffen ist Teil einer Positionierung, in der das Nachdenken über die Vergangenheit mit dem Komplex sowie der Notwendigkeit des Anfangs verbunden ist. Dementsprechend begleiten die Anfänge der Bundesrepublik eine Reihe von symbolischen Akten, die als Initiationsmomente fungierten, etwa die Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates im Museum Koenig am 1. September 1949 und die anschließende konstituierende Sitzung im Plenarsaal der Pädagogischen Akademie, dem „‚Weißen Haus‘ am Rhein“. Diesem feierlichen Moment ging eine Reihe von Entscheidungstreffen voraus, die in den meisten Fällen nach den Orten der Absprache benannt sind: Von der Konferenz auf Jalta im Februar 1945 und die darauf beruhende Berliner Deklaration der vier Siegermächte über die Gründung des Alliierten Kontrollrates am 5. Juni 1945 und die am 7. Juni 1948 verabschiedeten Londoner Empfehlungen bis hin zu den Frankfurter Dokumenten im Juli 1948. Letztere wurden von den Westalliierten an die Ministerpräsidenten der drei Westzonen übergeben und von diesen in der sogenannten Rittersturzkonferenz beraten. An das Ergebnis, die Koblenzer Beschlüsse, knüpften der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee und schließlich die Einberufung des Parlamentarischen Rates an. Dabei stellte sich auch die Frage nach einem Tagungsort für den Parlamentarischen Rat. Frankfurt, Karlsruhe, Koblenz, Celle oder Bonn? Die Entscheidung für Bonn fiel unprätentiös am 13. August 1948 in einer Telefonkonferenz der Ministerpräsidenten.
„Bonn wird ganz interessant werden“
Die Begründung, weshalb Bonn überhaupt in die Auswahl kam, liefert die ersten Bausteine eines Narrativs der Bonner Republik: gelassen und weltoffen. Auf der Suche nach einer Stadt, die über Kapazitäten für 65 stimmberechtigte Mitglieder und fünf Berliner*innen im Parlamentarischen Rat verfügt, erinnerte sich der Vorsitzende der Nordrhein-Westfälischen Staatskanzlei in Düsseldorf, Hermann Wandersleb, bereits 1947 an einer Tagung für Verwaltungsbeamte in der Pädagogischen Akademie in Bonn teilgenommen zu haben und „dort sehr gastfreundlich aufgenommen worden zu sein“. Die Zufälligkeit, die von dieser Dynamik ausgeht, wird in der Literatur durch Versinnbildlichungen ergänzt, so zum Beispiel durch Beinamen Wanderslebs wie „der heimliche Schöpfer Bonner Hauptstadtfreuden“, „Hauptstadtagitator“ und „Bonnifacius“. Das Bonn der Bonner Republik zeichnet sich durch Bescheidenheit aus, die sowohl eine Positionierung im Verhältnis zur Vergangenheit als auch eine Strategie der Selbstvermarktung ist. „Bonn ist nicht Weimar“, betitelte der Journalist Fritz René Allemann sein Buch von 1956 und spielt damit vor allem auf die Unterschiede in den beiden Verfassungen an.
Was im Reigen der Städte zunächst nur eine Station zu sein schien – „Bonn wird ganz interessant werden“, schrieb Theodor Heuss 1948 mit Blick auf den Parlamentarischen Rat an seine Familie –, erweist sich im Nachhinein als maßgeblich für die Diskussion um den Regierungssitz. Gleichwohl stellte die Wahl des Tagungsortes für den Parlamentarischen Rat nur die erste von drei Wahlen zugunsten Bonns dar: Am 27. Januar 1949 richtete der Parlamentarische Rat die Bundessitz-Kommission zur Prüfung der Anträge von Bonn, Frankfurt, Kassel und Stuttgart ein, Anfang Februar führte die Kommission Besichtigungsreisen durch, prüfte die Bahn- und Straßenverbindungen in die Städte, die Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung vor Ort sowie die Zahl der vorhandenen Unterkünfte. Am 28. April 1949 legte die Kommission einen Bericht ohne Empfehlung vor, am 8. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz und wählte zwei Tage später den Sitz der Bundesorgane. „Die Mitternachts-Abstimmung im Parlamentarischen Rat aber entwickelte sich zu einer Volksgaudi; das Publikum im Saal begann laut mitzuzählen, als die Stimmen für Bonn und Frankfurt fast gleichstanden.“ Schließlich gewann Bonn mit nur vier Stimmen Vorsprung. Historische Schilderungen verzichten häufig auf eine Darstellung der Reaktionen vor Ort: „Es gab Umarmungen, einander unbekannte Menschen schüttelten sich die Hände.“
Die dritte Wahl erfolgte am 3. November 1949 im Bundestag, nachdem Unsicherheit darüber entstanden war, ob der Parlamentarische Rat über den Sitz des Bundestags hatte verfügen dürfen: 200 Stimmen für Bonn und 176 für Frankfurt.
Spekulationen begleiten die Geschichten beider Wahlen zum Bundessitz: Vielleicht hatte Konrad Adenauer gefudelt und eine fiktive Pressemeldung verlesen, die die CDU-Mitglieder aus Hessen für Bonn stimmen ließ und so die Abstimmung entschied? Oder hatte vielleicht jemand Abgeordnete bei der Abstimmung am 3. November bestochen? Überzeugend für die Wahl wirken ebenso geografische Gründe – Bonns Nähe zu Frankreich – oder die Zusicherung der belgischen Besatzung, sich aus Bonn zurückzuziehen. Im Gegensatz zu Frankfurt war Bonn somit besatzungsfrei. Oder war es das Vorhandensein alter Kasernen in der ehemaligen Garnisonsstadt, in die die neuen Ministerien einziehen konnten? Möglicherweise ließ sich das Rheinland aber auch besser vermitteln als irgendeine andere Region. „Ich war für Bonn, weil es garantiert provisorisch war“, stellte der Sozialdemokrat und damals noch Tagesspiegel-Korrespondent Egon Bahr fest, eine Stadtbeschreibung, die einer Stadtbeschimpfung nahekommt: Allen Hinweisen auf die historische Bedeutung Bonns in der Debatte um den Bundessitz zum Trotz wird Bonn gewählt, weil es im Vergleich zu den Mitbewerbern als so besonders unbedeutend erscheint. Die Bonner Öffentlichkeit reagierte allerdings nicht brüskiert, sondern bestätigte lakonisch, dass Bonn die kostengünstigere Alternative zu Frankfurt sei. Die Arbeit am begrifflichen Konzept, in dem Bonn formal als Regierungssitz zu bezeichnen war, nicht jedoch als Hauptstadt, ist Teil der provisorischen Verstetigungsprozesse und führte 1956 zu einem Baustopp, der erst 1970 mit der „Bonn-Vereinbarung“ über den Ausbau und die Finanzierung durch den Bund aufgehoben wurde.
Bonn wird in der Folge zum Synonym für die Bundesrepublik, gerade weil es der Stadt gelang, sich im Spannungsbogen von Übergang und Permanenz zu erzählen. Als Begriff steht „Bonn“ in der Bonner Republik nicht nur für den Ort, sondern auch für das Konzept des Provisoriums. Zum Gesamtpaket gehört die etwas einseitige Städtepartnerschaft mit Berlin: Berlin ließ und lässt sich in diesem Gefüge ohne Bonn denken, das Bonn der Bonner Republik nicht ohne Berlin. Der Historiker Andreas Wirsching beschließt seinen Band „Abschied vom Provisorium“ mit einer Kritik der „Vorstellung von der ‚Erfolgsgeschichte‘ der alten Bundesrepublik. Sie wurde schon vor der Vereinigung intensiv gepflegt und bildete den Subtext für das vierzigjährige Bestehen der Bundesrepublik im Mai 1989. Nur wenige Monate später ließ sich dann das gleichsam triumphale Schlußkapitel dieser Erfolgsgeschichte schreiben. (…) Wie alle ‚großen Erzählungen‘ [hat das Narrativ der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik] ihre authentischen Wurzeln in der historischen Erfahrung, das heißt in der bereits gedeuteten Wirklichkeit der Mitlebenden. Aber in ihrer komplexitätsreduzierenden Funktion dürfen sie nicht zum Nennwert genommen werden.“ Die Bundesrepublik von Bonn aus zu erzählen, heißt auch, das zu thematisieren, was nach dem Berlin-Beschluss 1991 nicht mit umzog, weitestgehend endete und damit ein Gegenmodell zum Erfolgsnarrativ darstellt.
Städtebeschimpfung als Liebeserklärung
Wartesaal für Berlin, Apolis bei Rhöndorf, Pensionopolis, Capitale Minimum, ein dahin dämmerndes Dornröschen, Bundesdorf – kaum ist zurückzuverfolgen, welche sprachlichen Bilder für die Stadt Bonn vor der Wahl zur Bundeshauptstadt und welche erst danach entstanden sind. Die meisten Begriffe lassen sich als Kakophemismen klassifizieren. Sie funktionieren ähnlich in der Kenntlichmachung der Asymmetrie zwischen dem Konzept Metropole und der als typisch markierten Provinzialität Bonns. Und so begleitet der Humor über das Provisorium die Stadt und überbietet sich in der Bildung von Wortspielen in Verbindung mit Bonn. Der Bundespresseball greift dies bereits ab Mitte der 1950er Jahre auf und widmet die jährlichen Veranstaltungen einem Motto, das im begleitenden Presse-Almanach illustriert wird, so zum Beispiel Bonnfusionen (1954), Bonn ist eine Masse wert (1958), Bonn Aparte (1959), Bonn Quijote (1962), Bonna e Mobile (1963), Bonnerwetter Parapluie (1966), Bonnjunktur (1970), Bonnarchie (1975), Bonnerbrüter (1979), Der Bonnformist (1981), Bonn Noir (1983) oder auch Bonn Endenich(t) (1990). Welche andere Stadt hätte vergleichbar den Spagat zwischen Städtebeschimpfung und invertierter Liebeserklärung nicht nur ertragen, sondern unterstützt? „Jedem Deutschen fehlt Berlin im Kopf“, titelt die Zeitschrift „magnum“ im Oktober 1959 und stellt rheinische Provinzialität dem Leben in Metropolen wie Berlin, Paris oder New York gegenüber. „Wie überwindet man die Provinz in der Provinz?“, fragt der Herausgeber Karl Pawek, nur um festzustellen: Es ist nicht möglich. Konstitutiv für die Provinzialisierung Bonns über das Spannungsfeld des Provisoriums hinaus ist jedoch immer das Unterschlagen der künstlerischen und demokratischen Bewegungen in Stadtgesellschaft und Region – sei es zum Beispiel die Anbindung an die regionale Kunst- und Literaturszene, seien es Demonstrationen und Kundgebungen im Hofgarten, mit denen sich die Bevölkerung Gehör verschaffte.