Im Sommer 1953 schickten die Alliierten ein Flugzeug den Rhein entlang. Die Besatzung sollte die Situation am Ufer fotografieren, und so flog sie am Nachmittag des 7. August flussabwärts gen Bonn. Vor dem Großstädtchen mit 130000 Einwohnern lagen Felder, durchschnitten von der Trasse einer stillgelegten Bahn, die einst zu einer Trajektfähre führte. Die Piloten sahen Wiesen, Bäume, die Überreste der im Krieg zerstörten Stadthalle, einen Sportplatz und erste Häuser. Den Übergang zur Stadt markierten zwei historische Villen, deren Grünanlagen bis herunter zum Wasser reichten. Und zwischen Sportplatz und diesen Parks, vom Fluss nur durch die Ufer-Promenade getrennt: ein strahlend weißes Gebäude mit langgestreckter Fassade. Wie idyllisch das Bundeshaus dalag.
Sieben Jahrzehnte später braucht es viel Fantasie, wenn man sich den Charakter dieses Viertels in den „Kinderjahren der Bundesrepublik“
Aus dem Bundeshaus wurde aus Angst vor der Musealisierung der Gegend das World Conference Center mit 68 Meter hohem Hotel, Veranstaltungshalle und Parkhaus. Was im Weg stand wie die Villa Dahm, in der die Parlamentarische Gesellschaft gesessen hatte, zerstörten Abrissbagger. Der sogenannte Lange Eugen, ein Abgeordnetenhochhaus von 1969, gehört mit dem südlichen Teil des Bundeshauses den Vereinten Nationen, die das Gelände um einen 65 Meter hohen Klimaturm ergänzten und die Hermann-Ehlers-Straße zum Rhein mit Zäunen blockierten. Alles liegt im Schatten des 2002 eingeweihten Post Towers. Mit seinen 163 Metern überragt er den Langen Eugen um fast 50 Meter, symbolisiert den Strukturwandel Bonns und ist auch nach Eröffnung des unlängst fertiggestellten Hochhauses am Neuen Kanzlerplatz, das mit einer Höhe von 102 Metern eben dort die Wolken ankratzt, wo sich im Hintergrund des Fotos von 1953 ein Schrebergartengelände befindet, das bestimmende Gebäude der heutigen Skyline.
Fast sieht Bonn hauptstädtischer aus als zu Hauptstadtzeiten. Nur in den Jahren vor dem Umzug gab es mit einem neuen Plenarsaal, nicht minder spektakulären Museumsbauten an der Adenauerallee und dem sogenannten Schürmann-Bau, der bei Baubeginn 1989 neue Abgeordnetenbüros versprach und bei Fertigstellung 2002 der „Deutschen Welle“ gehörte, Ansätze einer hauptstädtisch wirkenden Architektur. Lange vor der unverhofften Wiedervereinigung 1990 geplant und erst nach dem Umzugsbeschluss eröffnet, bezeugen sie, dass es „tatsächlich einen Aufbruch in eine neue Zeit der demokratischen Selbstdarstellung“ gab, einen „bewussten Paradigmenwechsel“.
Im Wartesaal für Berlin
Auch sonst fällt es mittlerweile schwer, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, in der eine gesamtdeutsche Hauptstadt an der Spree dank der deutschen Teilung nur noch als Traum existierte. Ein „Wartesaal für Berlin“
Die Gründe für diese Wahl sind eine vieldiskutierte und nicht zuletzt parteipolitische Frage. Zum Puzzle der Antwort gehört etwa, dass das historisch unauffällige Universitätsstädtchen nie zur Konkurrenz für Berlin heranwachsen würde – anders als Frankfurt am Main, das Metropole war und bei der Bewerbung auf die Tradition der Kaiserwahlen und die Paulskirche verweisen konnte.
Die Gegebenheiten waren jedenfalls gut. Zwar hatte auch Bonn im Krieg schwere Bombenschäden erlebt, aber es gab Gebäude, Wohnraum und Kasernen, die genutzt werden konnten, und einige Kilometer weiter südlich den Kurort Bad Godesberg. Dessen Schönheiten blieben nach der Wahl „für das ausländische Element reserviert. Hier fanden die Besatzungsstäbe in beschlagnahmten Villen Quartier, gefolgt von der Alliierten Hohen Kommission und ihrer umfangreichen Bürokratie und den Botschaften fremder Staaten“.
In die schönsten Gemäuer des „Provisoriums“ Bonn, unweit des Naturkundemuseums Alexander Koenig, in dem 1948 ein Festakt den Beginn der Arbeit am Grundgesetz markiert hatte, zogen unterdessen das Staatsoberhaupt und der Regierungschef der jungen Demokratie: Bundespräsident Theodor Heuss bekam die Fabrikantenvilla Hammerschmidt, einen spätklassizistischen Bau, der repräsentabel und trotzdem nicht zu pompös war. Bundeskanzler Konrad Adenauer erhielt das Palais Schaumburg – benannt nach einem Grafen, der mit einer Schwester von Kaiser Wilhelm II. verheiratet war.
Und auch die vormalige Pädagogische Akademie lag nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Die einstige Hochschule für Volksschullehrer, entworfen von dem Architekten Martin Witte, war in den letzten Jahren der Weimarer Demokratie im Stil der weißen Moderne entstanden und von September 1948 bis Mai 1949 Tagungsort des Parlamentarischen Rats. Der Düsseldorfer Architekt Hans Schwippert, ein Mann des Werkbunds, erweiterte den Bau 1949 zum Bundeshaus. Die Aula wurde zur Heimat des Bundesrates, die Turnhalle zum Wandelgang, ein angebauter Plenarsaal mit verglasten Seitenwänden zum Sitzungsort des Bundestags: „Ich habe gewünscht, dass das deutsche Land der parlamentarischen Arbeit zuschaut (…). Ich wollte ein Haus der Offenheit, eine Architektur der Begegnung und des Gesprächs.“
Mangelnder Platz und Neubauverbot
Viel mehr Neues als das Bundeshaus, das sich noch stärker als die Villa Hammerschmidt und das Palais Schaumburg von der machtberauschten Optik der NS-Zeit abhob und von sieben simplen, für eine Nutzungsdauer von 15 Jahren gedachten „Pressebaracken“ umgeben wurde, konnte der junge Staat in Bonn zunächst nicht vorzeigen. Genutzt wurde, was vorhanden war, und kaum hatten einige Ministerien Neubauten bekommen – das Postministerium erhielt einen dezent repräsentativen Zweckbau an der Zweiten Fährgasse, das Auswärtige Amt einen mächtigen Verwaltungsblock mit „Weltsaal“, das Finanzministerium einen an Ästhetik desinteressierten Gebäudekomplex im Norden der Stadt
Wer das Viertel in der Gronau zu diesem Zeitpunkt betrat, zum Beispiel als Teil des Trosses, der sich morgens von der Siedlung für Bundesbedienstete in Kessenich auf den Weg zur Arbeit machte,
Ganz vorne an dieser Straße belegte nun außerdem das neue, aus zwei Blöcken bestehende Presse- und Informationsamt mit 90 Meter breiter Fassade ein vormaliges Feld. Es fügte sich „in keiner Weise in den städtebaulichen Zusammenhang ein“, bot aber mehr Platz als die überfüllten Jugendstilbauten und Baracken an der Drachenfelsstraße, in denen das Amt begonnen hatte,
Überhaupt war Platz das entscheidende Stichwort. An ihm mangelte es überall, ob bei den Abgeordneten, der Verwaltung oder den Journalisten. Etwas Abhilfe entstand durch einen privaten Bauherrn, der zwischen 1964 und 1969 eine Gruppe großer Bürogebäude auf das „Tulpenfeld“ am Rand des Viertels setzte – um sie an den Bund, der nicht selbst bauen durfte, und andere Nutzer wie Journalisten zu vermieten. Aus einem dieser sogenannten Allianzbauten, die genauso aussahen, wie man es sich bei einem Versicherungskonzern vorstellt, ragt dabei auf Stelzen ein lichter Konferenzsaal heraus. Hier fanden ab 1967 die zuvor im Bundeshaus abgehaltenen Bundespressekonferenzen statt, bei denen die Politiker von Journalisten eingeladen werden – nicht umgekehrt.
Bekenntnis zu Bonn
Mit den Allianzbauten, in denen auch ein Hotel und Schwedens Botschaft einzogen, kam der Bund ein stückweit um die Beschränkungen des Baustopps herum. Allerdings war die Aussicht auf ein Ende des Provisoriums Bonn durch den Mauerbau des DDR-Regimes 1961 nicht gerade besser geworden.
Vor diesem Hintergrund wagte der Bund in den 1960er Jahren auch wieder zu bauen.
Als Reaktion auf den Widerstand wurden nur zwei der Kreuzbauten errichtet und zur Vermeidung weiteren Unheils die Felder am Wasser in ein weitläufiges, von dem Landschaftsarchitekten Gottfried Hansjakob gestaltetes Parkgelände verwandelt: die Rheinauen.
Im Reisemagazin „Merian“ schrieb der Architekturkritiker Peter M. Bode im September 1976: „Wohl keine Regierung in der ganzen Welt hat so viel architektonisches Chaos produziert wie der Bund in Bonn.“ Er zählte 165 Dienststellen, die über ganz Bonn und das mittlerweile eingemeindete Godesberg verteilt waren, und fluchte über die „Zahnlückengegend“ zwischen beiden Zentren: „Parteihäuser, Autowerkstätten, Botschaften und Handelsvertretungen in kunterbunter Mischung, mal schäbig, mal aufgedonnert, mal höher, mal niedriger, ein ödes Durcheinander entlang der gesichtslosen ‚Diplomatenrennbahn‘.“
In anderen Artikeln des Magazins sind attraktivere Seiten von Bonn zu sehen, ausgesprochen pittoreske sogar wie das Kurfürstliche Schloss am Hofgarten, das Rokoko-Rathaus am Marktplatz oder die Burg Drachenfels im Siebengebirge. Aber Bodes Beschreibung war durchaus treffend. Sie mündete in der Beobachtung, die „Demokratie als Bauherr“ (Adolf Arndt) sei in Bonn bis vor Kurzem „nicht in Erscheinung getreten“. Man habe „planerisch von der Hand in den Mund gelebt und die repräsentative Demokratie baulich nicht anders dargestellt als durch den Repräsentationsstil ganz beliebig-durchschnittlicher Bürohaus-Architektur.“ Erst in den jüngsten Wettbewerben machte Bode interessante Impulse aus wie einen Vorschlag des Stuttgarter Architekturbüros Behnisch und Partner. Diese „schlagen für den Bundestag eine gläserne Mulde mit einem ausladend schwebenden Dach vor“
Architektur der Demokratie
Drei Dinge vermisst man in Bodes Text aus heutiger Sicht. Erstens einen Hinweis auf die demütige Formsprache Hans Schwipperts im Bundeshaus, die sich ja nicht bloß der Weiterführung des Vorgefundenen verdankte.
Der Architekt Sep Ruf hatte 1958 bereits gemeinsam mit Egon Eiermann den deutschen Pavillon der Weltausstellung in Brüssel gestaltet – eine betonte Abkehr vom Gestern. Sein Kanzlerbungalow, der unter Adenauer nicht gebraucht wurde, weil dieser im südlich gelegenen Rhöndorf wohnte und die Privaträume im Palais nur für Nickerchen nutzte,
Charme des Provisorischen
Diese Frage gilt auch für die allgemeine Erinnerung an den Charakter der Bonner Jahre. Er wird aus der Rückschau immer wieder mit den überschaubaren Verhältnissen im Regierungsviertel und dem Charme des Provisorischen in Verbindung gebracht.
Um noch einmal Kohl zu zitieren, diesmal am Rednerpult des Bundestags bei der letzten Parlamentssitzung in Bonn am 1. Juli 1999: „Der Genius loci dieser Stadt hat einen gewichtigen Anteil daran, daß unsere Bundesrepublik stabil und erfolgreich werden konnte. Er bildete den idealen Nährboden für eine politische Kultur, die in hohem Maße dazu beigetragen hat, unserem Land Vertrauen, Ansehen und nicht zuletzt Sympathie in der Welt zurückzugewinnen.“
Fest steht: Die Bonner Orte der Demokratie sind auch ein Thema für die Geschichte der Emotionen. Abgesehen von dem Kiosk, der 1957 von Christel Rausch gegenüber dem Bundesrat eröffnet wurde und seit 2020 als „Bundesbüdchen“ vor den ehemaligen Abgeordnetenwohnungen an der Heussallee steht, weckt dabei nichts stärkere Gefühle als der Gedanke an das Bundestags-Exil im Wasserwerk. Der alte Bau diente bis 1958 der Wasserversorgung von Bonn, und bis Mitte der 1980er Jahre hätte ihn niemand je in Verbindung mit dem politischen Geschehen gebracht. Aber dann begannen die Pläne zur endgültigen Hauptstadtwerdung Bonns zu greifen. Und während andernorts, etwa an der Rheinaue bei den Kreuzbauten, neue Gebäude für Ministerien entstanden, rissen Arbeiter am Bundeshaus den Plenarsaal von Schwippert ab, um dort einen Neubau zu errichten. Das Wasserwerk diente so von 1986 bis 1992 als Ersatz-Plenarsaal – halb so groß wie das gewohnte Domizil, aber doppelt so gemütlich.
Hier erreichte die Abgeordneten am 9. November 1989 die überraschende Nachricht, das DDR-Regime habe die Mauer geöffnet. Hier rückte das Parlament noch weiter zusammen, als nach der Wiedervereinigung 1990 auch noch ostdeutsche Wahlkreise ihre Abgeordneten an den Rhein schickten. Und hier wurde 1991 mit viel Gefühl und knapper Mehrheit Berlin zum Parlaments- und Regierungssitz des wiedervereinigten Deutschlands erklärt – bevor man 1992 wieder vom Wasserwerk an die Görresstraße hinaufzog.
Der „Behnisch-Bau“ war indessen fertig: ein Plenarsaal, wie man ihn sich lichter und offener nicht vorstellen kann. Ohne Wiedervereinigung wäre er heute vermutlich umgeben von viel „demokratischem Grün“, denn so sahen es 1988 die Beiträge zum „Wettbewerb Parlamentsvorzone“ vor.
Mit der Architektur des wiedervereinigten Deutschlands am Berliner Spreebogen konnte Behnisch wenig anfangen. Das Kanzleramt des Architekten Axel Schultes: „[S]o ein Kinoding (…), wo man immer drauf wartet, dass der Kanzler mit Elektrogitarre die Treppe runterkommt.“ Der von Norman Foster umgebaute historische Reichstag: „Gut, dem Foster ist es immerhin gelungen, die Kuppel aus dem Symbolischen rauszuholen, sie thront nicht. Aber innen – einige Räume sehen aus wie Wartesäle der DDR-Reichsbahn.“
Sieben Jahre tagte der Bundestag im freundlichen Plenarsaal von Behnisch. Seine Umgebung war mittlerweile heillos verbaut: „Ein Gemenge verschiedener Nutzungen und Stilarten ohne Anspruch auf irgendeine Ordnung“, nannte es der Stadtplaner Friedrich Busmann. „Spröde Funktionsbauten wie das WDR-Gebäude und zu Recht so bezeichnete Baracken der Bundestagsverwaltung standen unmittelbar vor den Eingängen von Bundestag und Bundesrat, die ihrerseits schwer auffindbar waren. Dazwischen Restbestände ehemaliger Vorstadtidylle, wie die Gründerzeit-Villa der Parlamentarischen Gesellschaft, und bis unter das Dach von Nachrichtenagenturen genutzte Einfamilienhäuser und Eigentumswohnungen.“
Dann rückten die Möbelpacker an, ging der Betrieb nach der Sommerpause 1999 im Reichstag in Berlin weiter.
Im Märchenland
Der Umzug war nicht das Ende bundespolitischer Institutionen in Bonn: Dank des Bonn-Berlin-Gesetzes haben aktuell sechs Bundesministerien und viele Bundesbehörden ihren Hauptsitz in der „Bundesstadt Bonn“. Allerdings bedeutete das Schwinden des Polit-Trosses für Bonn und das Diplomatenviertel Bad Godesberg, in dem einige Botschaftsgebäude bis heute leer stehen,
Wer heute mit dem Aufzug in die Rooftop-Bar des Hotels am Bundeshaus hinauffährt, vergisst nach dem dritten Cocktail sogar das „Bonnopoly“,
Die Luftbilder, die das Flugzeug am 7. August 1953 aufnahm, und Vergleichsfotos der Gegend von 1999 würden sich an der Brüstung von „Konrad’s Sky Bar“ wunderbar machen – während man über die Identitätssuche der Republik nachdenkt und nach dem „Old Fashioned“, dem „Cosmopolitan“ und „Moscow Mule“ noch einen „Manhattan“ bestellt.