Es gibt nicht nur den rheinischen Kapitalismus. Seit den Tagen, an denen der Parlamentarische Rat in Bonn tagte, gibt es auch die rheinische Demokratie. Über der Erinnerung an den Parlamentarischen Rat schwebt bis heute dieser rheinisch-harmonische Zauber, der dem Anfang der Bundesrepublik angeblich innewohnen soll. Selbst die Staffage von damals hatte zauberhaften und karnevalesken Charakter, fand der Festakt vor der konstituierenden Sitzung am 1. September 1948 doch im Bonner Naturkundemuseum Koenig statt, wo ausgestopfte Tiere hinter schwarzen Vorhängen das Vorspiel zu den Verhandlungen über das Grundgesetz verfolgten. Dass nur die Giraffe etwas zu sehen bekam, war einer der ersten Gründungsmythen der Bundesrepublik.
Doch aus solchen Mythen spricht mehr die gegenwärtige Sehnsucht nach Harmonie und Einheit als die Mühe von damals, die es kostete, unversöhnliche Gegensätze und Widersprüche in einem Verfassungstext zu verbinden. Gegen den Zauber spricht schon der hölzerne Begriff vom „Parlamentarischen Rat“. Er spiegelt aber sehr schön die Welt der Ministerpräsidenten wider, die nicht zur Disposition stand und die Welt aller Beteiligten war: Deutschland sollte wieder eine repräsentative parlamentarische Demokratie werden. Nicht deshalb aber wurde der Parlamentarische Rat so genannt, sondern weil es keine Verfassungsgebende Versammlung geben sollte, wie es sich die Westalliierten gewünscht hatten. Die Länder verfolgten diesen Wunsch mit Argwohn. Eine „Verfassung“ sollte dem deutschen Gesamtstaat vorbehalten bleiben, den es aber vorerst nicht geben konnte. Man hatte sich auf den Namen „Grundgesetz“ geeinigt. Benutzt wird er gleichwohl bis heute.
Misstrauisch waren die Ministerpräsidenten auch aus einem zweiten Grund: Alle Staatsgewalt gehe vom Volk aus, hieß es später im Grundgesetz. Aber eine Volksabstimmung über dieses Grundgesetz trauten sie dem deutschen Volk, anders als die Militärgouverneure, nicht zu. Sie fürchteten kommunistische Stimmungsmache, den Hass der Nazi-Anhänger, das Desinteresse einer Bevölkerung, die andere Sorgen hatte, und mangelnde Reife der in der NS-Zeit herangewachsenen Generation. Der Parlamentarische Rat war insofern Ausdruck mehrfacher Provisorien, die den Deutschen zwar die Demokratie zurückbringen, diese Demokratie aber auch vor den Deutschen schützen sollte.
Die Erinnerung an den Sitzungsmarathon, der in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1949 mit der Verabschiedung des Grundgesetzes endete, verklärt insofern die Zeit der Beratungen auf eine Weise, die so gar nicht zur zeitgenössischen Disharmonie passen will. Zum Vergleich: Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, der einen Entwurf des Grundgesetzes aushandelte, tagte wenige Wochen zuvor im August 1948 gerade einmal 13 Tage lang. Der Parlamentarische Rat benötigte für seine Beratungen fast neun Monate. Das lag nicht nur daran, dass in Bonn mehr als doppelt so viele Politiker zusammenkamen.
Die Distanzierung von der Weimarer Verfassung war noch das kleinste Problem, war damit doch weniger eine Ablehnung der ersten Republik, sondern deren Korrektur gemeint – in einer Mischung aus Rache, Argwohn und schlechtem Gewissen. Die meisten der älteren Männer und wenigen Frauen, die sich in Bonn trafen, hatten ihre Vorgeschichte in der Weimarer Republik, an ihrer Spitze der Vorsitzende des Rats und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer, der unter anderem Präsident des Preußischen Staatsrats gewesen war. Nur zwanzig der insgesamt 72 ordentlichen Mitglieder, inklusive der Nachrücker, waren nach 1900 geboren; der jüngste Abgeordnete, der CSU-Politiker Kaspar Seibold, Jahrgang 1914, war nach dem Krieg noch persönlicher Referent von Hermann Dietrich, dem ehemaligen Finanzminister und Vizekanzler im Kabinett Brüning.
Schon auf dem Konvent in Herrenchiemsee waren aus dem Scheitern dieser Generation zahlreiche Konsequenzen gezogen worden.
Ein Streit konnte auf der Insel im Chiemsee nur notdürftig beigelegt werden, und auch der Parlamentarische Rat stieß in dieser Frage an seine Grenzen: Ob der deutsche Staat untergegangen sei oder nicht, bewegte alte und neugegründete Länder nicht nur aus akademischem Interesse. Sofern von einem Untergang ausgegangen wurde, konnten sie sich als Gründer und Gönner eines neuen Staates aufschwingen. Das würde ihnen wesentlich mehr Macht verleihen. Wirklich verlockend wirkte das aber nur auf Bayern. Man beließ es dabei, dass angesichts der sich anbahnenden Ost-West-Teilung – sowohl der Konvent wie auch der Rat tagten während der sowjetischen Berlin-Blockade – der westliche deutsche Teilstaat bis zur Wiedervereinigung ein Fragment bleibe, welche Form auch immer dieser Staat haben würde.
Dennoch ergaben sich in Bonn noch immer oder schon wieder ganz grundsätzliche Fragen. Wo lag der deutsche Anker: nur im europäischen Westen oder national-neutral auch im Osten? Welcher Staat, welche Demokratie sollte Deutschland überhaupt sein, wie liberal, sozial, christlich, sozialistisch, föderal? Was hieß das jeweils für die Rechte des Individuums, die Menschenwürde, das Gemeinwohl? Welche Rolle sollten die Parteien spielen? Wie würden Steuern und Finanzen verteilt?
Für heutige Verhältnisse ist überraschend, welche Themen damals besonders strittig und welche ohne große Debatte „durchgewinkt“ wurden. Unstrittig war, dass Deutschland wieder eine Republik, eine Demokratie werden solle. Aber als Parteiendemokratie? Mit welchem Wahlrecht? Das blieb vage – und später Sache des Bundesverfassungsgerichts. Über die Rechte der Frauen und die Elternrechte an Schulen wurde ähnlich erbittert und fintenreich gerungen wie über den föderalen Staatsaufbau. Konfessionelle Gegensätze, die damals noch eine große, heute eine marginale Rolle spielen, waren dafür ebenso verantwortlich wie der bis heute spürbare Gegensatz zwischen klerikalem und antiklerikalem Gedankengut. Migration? Zwar bestand schnell Einigkeit über die grundrechtliche Gewährung politischen Asyls. Besonders vertieft wurde die Frage aber nicht. Ausgerechnet der KPD-Abgeordnete Heinz Renner verteidigte die Großzügigkeit Frankreichs in der Asylpolitik mit den Worten: „Wenn Hitler gekommen wäre, hätte er dort auch Asylrecht bekommen, seien Sie sicher“. Niemand widersprach.
Westbindung und Ökumene
Aus der Menge der Abgeordneten stechen einzelne Politiker hervor. Konrad Adenauer natürlich, oder Carlo Schmid, der schon in Herrenchiemsee den Ton angegeben hatte. Der SPD-Minister aus Württemberg-Hohenzollern war nur über Umwege und unter Entgegenkommen der CDU in das Bonner Gremium gekommen. Auch deshalb, weil Schmid kompromissbereiter sein würde als etwa der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, der vom Krankenbett im fernen Hannover aus die Strippen zog.
Wie eng Kompromissfähigkeit und Hartnäckigkeit nebeneinanderliegen konnten, zeigte sich auf der Gegenseite in der Person des Justiz- und Kultusministers von Rheinland-Pfalz, Adolf Süsterhenn. Eigentlich kam er wie Adenauer aus Köln. Nun fuhr er jeden Morgen von Koblenz oder von Unkel, wo er wohnte, nach Bonn.
Die erste und wichtigste Brücke war für Süsterhenn die CDU selbst, die zweitwichtigste die Westbindung Deutschlands, freilich in ihrer antipreußischen, rheinischen Deutung. Sie sollte „in einer populären Einführung unserer Bevölkerung in die geistigen und kulturellen Werte Westeuropas“ betrieben werden, „als dessen integrierender Bestandteil wir Rheinländer uns fühlen.“
Süsterhenn führte die historisch einmalige Situation, das Unmögliche möglich zu machen, auf die Erfahrungen im Nationalsozialismus zurück. Die CDU war für ihn die politisch vorweggenommene Ökumene: „Es ist daher keineswegs die Möglichkeit von der Hand zu weisen, dass die gemeinsam seitens des Nationalsozialismus erlittenen Verfolgungen unter Umständen und auf lange Sicht gesehen auch einmal religiöse Auswirkungen in Richtung der Wiedervereinigung der Konfessionen haben können, insbesondere wenn das jetzt durch gemeinsame positive politische Arbeit verstärkt wird.“
Das Denken in unüberbrückbaren Gegensätzen war damals dennoch allgegenwärtig. Wie sehr, zeigt eine andere Stelle aus der Korrespondenz Süsterhenns mit dem Vorsitzenden des neugegründeten katholischen Zentrums, Wilhelm Hamacher, den Süsterhenn dazu drängte, seine Pläne im Sinne Adenauers und der CDU aufzugeben: „Aber auch gerade in politischer Hinsicht kann kein Zweifel bestehen, dass die geistige und politische Entscheidung, um die es heute geht, – Entscheidung zwischen christlichem Abendland und asiatischer Steppe, christlicher Persönlichkeit und bolschewistischem Massenmenschen, kurz zwischen West- und Ostorientierung auf allen Gebieten – die politische Zusammenarbeit mit dem positiv christlichen Kräften aller Schattierungen in einem noch viel stärkeren Umfange fordert als sie von Dir vor 1933 als einem der ganz wenigen unter den führenden Zentrumsleuten bereits praktisch betätigt worden ist.“
Der Parlamentarische Rat war eine Bewährungsprobe für die „positive politische Arbeit“ der CDU, von der Süsterhenn so schwärmte. Die aus den Landtagen entsandten Fraktionen von SPD und CDU/CSU waren gleich groß, die CDU musste kurz nach ihrer Gründung nun aber auch beweisen, was Süsterhenn gelobt und zugleich beklagt hatte: „Wir sind uns doch darüber wohl im Klaren und der politische Kampf bestätigt dies täglich, daß wir Christen – entschuldigen Sie, wenn das vielleicht etwas pharisäisch klingt – viel toleranter, großzügiger und objektiver sind als die anderen politischen Richtungen. Ich muß sogar sagen, leider ist es manchmal so, daß wir allzu sehr dazu neigen, wenn man uns auf die rechte Backe schlägt, auch noch die linke hinzuhalten, während die anderen im Kampfe viel robuster sind.“
Durchaus robust verhielten sich aber auch Süsterhenn oder Adenauer. Die Grundrechte und die Legitimation von Einheitsstaat, Föderalismus und kommunaler Selbstverwaltung grenzte Ersterer nicht nur vom totalitären, sondern auch vom liberalen Staatsgedanken ab, auf eine Weise, die für heutige Ohren nicht dem Grundgesetz entnommen zu sein scheint. Süsterhenn schloss sich der „Frontwendung gegen den liberalen Rechtsstaatsbegriff“ an, „der nur den formalen Rechtsschutz der individuellen Freiheitssphäre kannte, dem Staat jeden Wohlfahrtszweck absprach, mit dieser Begründung grundsätzlich jeden ‚Eingriff des Staates in die Wirtschaft‘ perhorreszierte und den Staat von seiner naturrechtlichen Grundlage und seiner Wesensaufgabe, der Verwirklichung der Gemeinwohlgerechtigkeit trennte.“
Der Liberalismus habe kein Naturrecht gekannt, so Süsterhenn in einem seiner Briefe an Hamacher, „keine Verwurzelung des Staates in der sittlichen Ordnung“. Die Kritik am Liberalismus gipfelt in den Sätzen: „Die Aufgabe des Rechts war nicht die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Nach der liberal-positivistischen Lehre war das Recht nur eine rein tatsächliche Lebenserscheinung, ein formales Normensystem, die Resultante der verschiedensten sich widerstrebenden Lebensinteressen, eine Selbstbeschränkung der Staatstätigkeit zugunsten der nahezu schrankenlosen Freiheit des Individuums.“
Süsterhenn kämpfte deshalb in Herrenchiemsee wie in Bonn für neuformulierte Grundrechte und für einen moderaten Föderalismus, der sich nicht, wie er es Bayern vorwarf, auf die partikularistische Geltendmachung von „Reservatrechten“ und „Biersteuerprivilegien“ konzentrierte. „Föderalismus hat mit den partikularistischen Sonderinteressen einer einzelnen Landschaft, mag diese Rheinland oder Bayern heißen, gar nichts zu tun.“
Gesellschaft im Chaos
In seinem Kampf für die Grundrechte, das Gemeinwohl und die „sittliche Ordnung“ des Staates, die sich im Schutz der Menschenwürde äußerte, fand der Christdemokrat einen bemerkenswerten Bewunderer, Verbündeten, aber auch knallharten Widersacher – ausgerechnet den Sozialisten Hermann L. Brill. Es ist schade, dass der SPD-Politiker sein „Bonner Tagebuch“ nicht bis Mai 1949 führte. Er hatte schon die Tage auf Herrenchiemsee dokumentiert, wo er mehr noch als Carlo Schmid zu den prägenden Figuren gehörte. Brills Texte geben nicht nur Aufschluss über die Risse in der SPD, sondern auch über die Spannungen und Eitelkeiten in einer politischen und juristischen Gelehrtenrepublik, die der Konvent ganz nebenbei gewesen war – und nun auch der Parlamentarische Rat in noch größerem Maße sein würde.
Der SPD-Politiker, der im KZ Buchenwald inhaftiert war, nach 1945 zunächst zum Ministerpräsidenten von Thüringen ernannt wurde, dann in den Westen floh und Staatskanzleichef in Wiesbaden wurde, war von der hessischen SPD-Landtagsfraktion übergangen und nicht nach Bonn entsandt worden – eine traurige Fehlentscheidung, die Brill auf eine Intrige in der SPD-Führung zurückführte und die zeigt, dass nicht immer die besten Köpfe den Weg in den Parlamentarischen Rat gefunden haben. Brill ließ es sich aber nicht nehmen, im September 1948 dennoch nach Bonn zu fahren.
Noch härter als in seinen Chiemseer Aufzeichnungen geht Brill in seinem Bonner Tagebuch-Torso mit Carlo Schmid („Moby Dick“) ins Gericht, dem dominierenden SPD-Politiker in beiden Gremien. In Hinsicht auf den 8. September 1948, an dem in Bonn Grundsatzreden gehalten wurden, ereifert sich Brill über die rechtsdogmatische Abstraktheit Schmids, dem „jedes Gefühl, ja, jedes Empfinden für die Wirklichkeit“ fehle. „Dieser Mann muß wirklich in den letzten 25 Jahren seines Lebens neben den Ereignissen gestanden und nur aus Büchern gelebt haben.“ Wer in ferner Zukunft in den Protokollen lese, werde sich anhand solcher Reden nicht vorstellen können, „daß die Gesellschaft nicht nur in Unordnung, sondern im Chaos ist“.
Brill hätte sich ein wenig mehr Vergangenheitsbewältigung gewünscht. Stattdessen: „Kein Wort von den verfassungspolitischen Irrwegen des deutschen Volkes, kein Wort von der Stärke der demokratischen oder der diktatorisch-terroristischen Elemente im deutschen Volk, kein Wort von der Notwendigkeit der Selbstbestimmung als Voraussetzung der politischen und persönlichen Freiheit.“ Was die SPD auf ihrem verspäteten Weg zur Volkspartei noch lange beschäftigen sollte, was ihr in Bonn aber noch fehlte, um der CDU/CSU Paroli zu bieten, bezog Brill auf deren Hauptredner: „Schmid sieht nicht, daß man heute in Deutschland von der Verfassung der Gesellschaft ausgehen muß. Die Gesellschaft aber ist das Gesamtschicksal von Millionen von deutschen Einzelmenschen, die alle irgendwie eine tragische Periode ihres Lebens hinter sich haben. Die Erörterungen über das Staatsvolk wären eine wunderbare Gelegenheit gewesen, in der Frage der Assimilationsmöglichkeiten der Flüchtlinge darzulegen, daß Stammeszugehörigkeit allein heute kein staatsbildendes Element mehr sein kann“.
Später an diesem Tag hielt Süsterhenn im Namen der CDU/CSU-Fraktion seine Grundsatzrede, und Brill kann sich einer gewissen Bewunderung für den katholischen Konservativen nicht erwehren: „Man erkannte, daß sein Vortrag auf einem jahrelangen Durchdenken des ganzen Stoffes beruhte.“ Wie schon in Herrenchiemsee falle er hier in Bonn „durch die Schnelligkeit seines Denkens, die Gewandtheit seines Ausdrucks, die sich bis zu einer gewissen List und Verschlagenheit steigerte, und das Temperament seines Vortrags auf“. Aus ganz verschiedenen Richtungen kommen Brill und Süsterhenn in einer der Kernfragen des Grundgesetzes, die in Artikel 1 schließlich beantwortet werden sollte, zum selben Ergebnis: „In interessanter Weise begründete er den Satz ‚Der Staat ist nicht der höchste Wert des Menschen‘ mit der Forderung der Abwehr der totalitären Bedrohung aus dem Osten, desgleichen jedoch mit der Abwehr derselben totalitären Bedrohung der Rechte des Einzelmenschen durch eine kriegswirtschaftlich erzeugte Bürokratie.“
Damit endete aber schon die Freundschaft. In einem der wichtigsten Konflikte – Bundesrat oder Senat – waren die beiden Wortführer der jeweiligen Lösung überkreuz. Brill war schon in Herrenchiemsee der wichtigste Verfechter der Senatsidee; wenigstens darin hatte er die SPD hinter sich. Für ihn ging es um ein Bundesorgan, das Einheit in Vielfalt symbolisieren sollte, für Süsterhenn um eine Ländervertretung, die Subsidiarität verkörperte.
Süsterhenn appellierte an die Parteienverdrossenheit, die nach Jahren der NS-Parteidiktatur wohl noch stärker ausgeprägt war als heute. Er rechtfertigte die Vorzüge eines Bundesrats, in den Worten Brills, damit, „daß Ministerpräsidenten und Minister aus dem Zwange zum vernünftigen politischen Handeln ein Gremium bilden könnten, das eine erwünschte und notwendige Polarität zu dem von Ideologie und Taktik der Parteien beherrschten Bundestag bilden würde“. Das hielt Brill aber für vorgeschoben. „Aber er ließ doch die Katze aus dem Sack“, bemerkt dieser, „als er erklärte, die Minister hätten den ganzen bürokratischen Apparat der Länder für ihre Arbeit im Bundesrat zur Verfügung.“ Ein Senator hingegen habe das alles nicht.
Süsterhenn setzte sich im Laufe der Beratungen in der für ihn „wichtigsten Frage des deutschen Staatslebens“ schließlich an die Spitze einer Kompromisslösung: Zur einen Hälfte sollte die Länderkammer aus den Landesregierungen, zur anderen Hälfte aus den Landtagen bestückt werden. Es blieb beim Bundesrat, und Brill hatte einen durchaus realistischen Blick dafür, was das bedeuten würde. Süsterhenn habe es „mit der ihm eigentümlichen Schläue“ vermieden auszusprechen, dass der Bundesrat „praktisch nichts anderes sein kann als eine Versammlung instruierter Gesandter der Länder“. Verfechter dieser Lösung wollten wie Süsterhenn ganz offenbar, „daß anstelle einer Regierung durch politische Parteien eine Regierung durch die Bürokratie treten soll.“ Brill kann es sich nicht verkneifen, darin „den ganzen 75 Jahre alten Angstkomplex der deutschen Katholiken“ wirksam werden zu sehen, „durch konservative, liberale oder sozialistische Kräfte unterdrückt zu werden“.
Not Charity but Solidarity
Und erst die Gesellschaft! Was Süsterhenn da wolle, so Brill, sei eine Auffassung von Menschenrechten, die „thomistisch-antik“ sei. „Er erwähnte nicht die persönlichen und politischen Rechte des Einzelnen, sondern, wie er sich ausdrückt, die ‚innerstaatlichen Gemeinschaften‘ wie Ehe, Familie und Schule.“ Übernatürliches, göttliches Recht solle in Ehe, Familie und Schule eine vorstaatliche Rechtssphäre schaffen – für Brill und die SPD eine grauenhafte Vorstellung, ein Missbrauch von Pluralismus, eine Spaltung des Staates und der Gesellschaft. Oder, wie es später ganz im Sinne Brills über die Adenauer-Jahre heißen würde: eine Restauration vormodernen Denkens.
Die ideologischen Kämpfe, die den Bildungsdiskurs und die Familienpolitik der Bundesrepublik bis heute begleiten, erfuhren in Bonn allenfalls notdürftige Verkleisterungen. Brill sah die SPD in der Defensive, was sich erst in den 1960er Jahren ändern sollte. „Aber die Stellung von Süsterhenn ist sehr stark“, schrieb er in seinem Bonner Tagebuch. „Denn es gibt gegenüber dieser katholischen Herrschaftsideologie, die auf dem einfachen natürlichen Besitzgefühl der Eltern gegenüber ihren Kindern und der natürlichen Abwehr der Entartung einer rein staatlichen Kindererziehung, wie sie der Nazismus bis zum Verbrechen betrieben hat, beruht, keine demokratischen oder sozialistischen Gegenkräfte.“ Das sei eine „furchtbare Situation“, die im Grundgesetz nur dadurch überwunden werden könne, dass „man das Problem von Grundrechten für Lebensordnungen übergeht und sich auf die individuellen Menschenrechte beschränkt“.
Das sollte zwar nicht ganz gelingen. Die Familie wurde im Grundgesetz unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. Aber die von Brill geforderte Konsequenz individueller Menschenrechte war die Gleichberechtigung der Frauen. Brill zeichnete vor, worum es in den Jahren danach noch gehen sollte: „Sollte das Thema aber in einer deutschen Nationalversammlung gestellt werden, so bliebe nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, daß die menschliche Natur Grundanlagen hat, die ewig sind, auch wenn sie in den Formen ihrer Erscheinung wechseln.“ Soweit hätte ein Süsterhenn durchaus noch folgen können. Hier aber schon nicht mehr: „Die Grundanlage der Gegenkraft gegen die Klerikalisierung des Gemeinschaftslebens ist die Humanität; ihre moderne Erscheinungsform können nur Internationalität und Solidarität sein: Not Charity but Solidarity.“
„Gehen Sie zurück ins KZ“
Eigentlich waren sich schon auf Herrenchiemsee alle einig: Die Menschenrechte mussten einen festen Platz in der Verfassung haben. In Bonn brachte der Beobachter Brill die Perspektive, die dafür ausschlaggebend war, in seiner Schmid-Philippika auf den Punkt. Die „ungeheuren Erlebnismassen eines flachen opportunistischen, aber trotzdem ehrlich gläubigen Republikanismus der Weimarer Zeit“ müsse man vergleichen „mit der terroristischen Barbarei der nazistischen Diktatur, mit dem faulen Wohlleben der deutschen Arbeiterklasse in der hitleristischen Kriegswirtschaft, mit der soldatischen Tüchtigkeit der deutschen Truppen auf allen Schlachtfeldern, mit den Gewissenskonflikten zwischen Gehorsamspflicht für ein verhaßtes System und Überläufertum, der Industriesabotage mit dem Aufbäumen des Lebenswillens gegen den Vernichtungswillen des Krieges“. Die Schlussfolgerung sei klar: „daß die Menschen- und Freiheitsrechte einer Verfassung heute in Deutschland eine andere menschliche Substanz besitzen als jemals in der Verfassungsgeschichte“.
Auf Herrenchiemsee mündeten solche Gedanken in den von Brill und Süsterhenn verfochtenen ersten Satz des Verfassungsentwurfs: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ In Bonn fand dieser Satz keine Gnade. Brill nahm das besonders dem FDP-Abgeordneten Theodor Heuss übel, dem späteren Bundespräsidenten. Heuss behauptete, der Satz sei ein Angriff auf den toten Hegel, der sich ja nicht mehr wehren könne („Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“). „Wir dürfen mit einem solchen Satz die innere Würde des Staates nicht kränken.“ Als Heuss dann sagte „Streichen Sie diesen Satz …“ entfuhr es dem Zuhörer Brill im Publikum: „…und gehen Sie zurück ins KZ“. Helene Wessel, Zentrum-Abgeordnete aus Dortmund, die neben ihm saß, sei bei diesen Worten „erschrocken und erbleichend“ zusammengefahren.
Beim Mittagessen in der Kantine der Pädagogischen Akademie saß Brill mit dem SPD-Abgeordneten und späteren Intendanten des Süddeutschen Rundfunks Fritz Eberhard zusammen. Die Rede von Heuss ließ ihm keine Ruhe. Erinnerungen an die KZ-Haft kamen in ihm hoch. „Wenn ich bei der Rede von Heuß die Augen schließe, habe ich das Gefühl der Nähe des Unwirklichen. Es kommt mir vor, als ob eine Schattenwelt spricht. Ich sehe zwischen der Tribüne und dem Beginn der Abgeordnetensitze einen Haufen von 50–70 Leichen liegen. Jeder Korpus abgemagert bis zum Skelett, aufgebrochene Leiber, zerschlagene Schädel – und ich höre das Knarren des zweirädrigen Karrens, mit dem andere, die es auch nicht mehr weit bis zum Tode haben, diese Leichen fortfahren, wie verendetes Vieh auf den Schundanger gebracht wird.“
Habe Heuss kein Gefühl dafür, fragte Brill, „daß die äußerste Entwürdigung des Menschen zum bloßen Werkzeug eine Antwort erfordert und die in Herrenchiemsee versuchte Antwort etwas wesentlich anderes ist als eine philosophische Opposition gegen Hegel?“ Heuss aber sei eben ein philosophierender Journalist. Trotzdem hatte er Erfolg, und das Ergebnis – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – war als Rechtsnorm zwar ähnlich ästhetisch-unbestimmt wie jener Satz, an dem Brill so hing. Aber alle drei, sowohl Süsterhenn mit seiner naturrechtlichen Staatsauffassung, Theodor Heuss mit der von Süsterhenn so heftig kritisierten liberalen Staatsauffassung, wie auch Brill mit seiner gesellschaftspolitisch ganz anderen, humanistisch-sozialistischen Definition von individuellen Freiheitsrechten konnten gut damit leben.
Nach dem Ersten Weltkrieg habe es sechs Jahre gedauert, schrieb Brill, bis Deutschland im „Zauberberg“ von Thomas Mann ein „neues ästhetisches Weltbild“ bekommen habe. „Diesmal ist die Welt viel mehr zerrissen als damals, also müssen wir noch mehr Geduld haben.“ Brill war vielleicht zu pessimistisch; manche halten das Grundgesetz dafür.