Bonn war eine außergewöhnliche Hauptstadt. Auch wenn es heute in Berlin fast merkwürdig erscheint: Fünfzig Jahre lang, von 1949 bis 1999, wurde die Bundesrepublik von einer eher kleinen Großstadt im Rheinland aus regiert, einer ehemaligen Residenzstadt, die man im 19. Jahrhundert als Ausflugsziel entdeckt hatte, vor allem aber mit dem Ruf ihrer Universität in Verbindung brachte. 1948/49 zog dann mit dem Parlamentarischen Rat und anschließend dem Bundestag die große Politik nach Bonn – zunächst zumindest das, was nach dem Nationalsozialismus und im Ost-West-Konflikt davon übriggeblieben war. Denn Berlin kam angesichts der sowjetischen Blockade und der westalliierten Luftbrücke nicht als Hauptstadt einer Bundesrepublik infrage, die vorerst nur aus den drei westdeutschen Besatzungszonen gebildet wurde.
Allerdings sollte Bonn nie eine echte Hauptstadt werden, und zwar gerade wegen der deutschen Zweistaatlichkeit. Entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“,
„Bundeshauptstadt Bonn“ lautete die Bezeichnung, als die Konsolidierung des westdeutschen Staates weit fortgeschritten war und das Provisorium Bestand zu haben schien, wohlgemerkt als Bundesrepublik. Und die Begriffsgeschichte überdauerte sogar die Rückkehr von Parlament und Regierung ins wiedervereinigte Berlin. Das im Frühjahr 1994 vom Bundestag verabschiedete Bonn-Berlin-Gesetz etablierte neben zahlreichen Ausgleichs- und Übergangsregeln die „Bundesstadt Bonn“.
Hauptstadtbilder
Als Hauptstadt im vollen Wortsinn wirkte Bonn aber auch nicht, wenn man darunter neben der politischen Bedeutung die ökonomische Kraft oder kulturelle Ausstrahlung einer Metropole versteht. Mit beidem war es in Bonn, wo vor der Zusammenlegung unter anderem mit den bis 1969 eigenständigen Nachbargemeinden Bad Godesberg und Beuel kaum mehr als 125000 Menschen lebten, nicht weit her. Weder in Wirtschaft und Industrie noch in Kunst und Kultur, nicht in den Medien und nicht mal in der Wissenschaft war Bonn das Zentrum der Bundesrepublik. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die weit großstädtischer geprägten Orte an Rhein und Ruhr sowie im Rhein-Main-Gebiet in kurzer Zeit erreichbar waren.
So zeichnete sich die Bonner Republik durch einen polyzentrischen Charakter aus. Die Hauptstadt Bonn hatte primär eine politische Funktion als Tagungsort des demokratisch gewählten deutschen Parlaments und als Sitz der Regierung – wobei im bundesrepublikanischen Föderalismus auch Landeshauptstädte wie München und Düsseldorf beträchtlichen Einfluss hatten. Bonn war Hotspot der westdeutschen Politik, und „Bonn“ wurde zum Synonym der Entscheidungsprozesse in der Bundesrepublik. In diesem Kontext kamen die vier Buchstaben des Stadtnamens alltäglich in den Nachrichten zur Sprache, im Fernsehen untermalt mit Bildern dunkler Limousinen, die in der Parklandschaft am Kanzleramt vorfuhren, oder Redeszenen aus dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages.
In Europa gehört zu einem modernen Territorial- oder Nationalstaat scheinbar selbstverständlich die Existenz einer Hauptstadt als historisch gewachsenes und dauerhaftes Zentrum, als symbolischer, aber auch realer Kristallisationspunkt von Staat und Nation, wie es in idealtypischer Weise Paris oder London darstellen.
In diesem Sinne war Bonn eher Arbeitsplatz für die Politik als deren Bühne. Auch die barocken Repräsentationsorte der früheren Residenzstadt – die Schlösser der Kölner Fürsterzbischöfe in Bonn und Poppelsdorf – gehörten zur Universität. Im Parlamentsviertel, das in der Gronau abseits der Innenstadt lag, beschrieben Journalisten wie Hermann Rudolph dagegen immer wieder die nüchterne Atmosphäre einer Geschäftsstelle: „[A]ls Stadt bleibt Bonn dafür kaum weniger Hintergrund als die idyllische Kulisse des Siebengebirges, die den Blick nach Süden zu abschließt.“
Der Weg nach Bonn
Die Entstehung der Bundesrepublik war eine Staatsgründung in Stufen.
Daher spielten bei der Wahl Bonns zum Tagungsort des Parlamentarischen Rates neben der Weltpolitik, die den Weg nach Berlin versperrte, der Zufall, pragmatische Übergangslösungen und Absprachen mit den Alliierten eine entscheidende Rolle; auch die Interessen der Landesregierungen kamen zur Geltung. Nach einer Konferenz der Ministerpräsidenten in Koblenz, das zur französischen Besatzungszone gehörte, und nachdem sich eine Expertenkommission auf der Herreninsel im Chiemsee in der amerikanischen Zone beraten hatte,
Transitraum
Die politische Kulturgeschichte deutscher Hauptstadtpolitik im 20. Jahrhundert wurde bislang nicht geschrieben. Bei ihrem rheinischen Kapitel wären die internationalen Rahmenbedingungen ebenso zu berücksichtigen wie innen- und parteipolitische Veränderungsprozesse, außerdem geografisch geprägte Geschichtsbilder und kulturelle Deutungsmuster.
Bis in die Neunzigerjahre blieb Bonn die improvisierte Zentrale einer sich als provisorisch verstehenden Bundesrepublik. Sie war insofern auch der sinnfällige Ausdruck der „deutschen Frage“ von Nationalstaatlichkeit und Demokratisierung nach 1945. Wie war es möglich, dass aus den Trümmern des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs ein freiheitlich-demokratisches, wohlhabendes und weithin angesehenes Land wurde? „Bonn, die Bonner Demokratie, hat in der ganzen Welt Positives geleistet, Positives gezeigt“, bilanzierte 1993 der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser und hob als herausragende Eigenschaften die Bonn eigene Bescheidenheit und die Westorientierung hervor.
Neubeginn des Parlamentarismus
Das 1948/49 in der Pädagogischen Akademie verhandelte Grundgesetz hatte das Parlament ins Zentrum der politischen Prozesse gestellt. In der stark repräsentativ verfassten deutschen Demokratie ist der Bundestag das einzige direkt von den Staatsbürgerinnen und -bürgern gewählte Verfassungsorgan auf Bundesebene und soll die Volkssouveränität verwirklichen. Im und um das Parlament am Rheinufer wurden in politischer Hinsicht die Fundamente gelegt, auf denen die Bundesrepublik zu wesentlichen Teilen bis heute steht.
Nach der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Menschheitsverbrechen wurde Demokratie in Westdeutschland neu gelernt. Entsprechend verbreitet waren Sprachbilder aus dem Bereich der Bildung
Systemkonkurrenz
Die deutsche Geschichte ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Brüchen und tiefgreifenden Veränderungen. Dies prägte vielfach den zeitgenössischen Blick auf den westdeutschen Teilstaat. „Die eigentliche Kontinuität der deutschen Geschichte scheint also zunächst einmal ihre Diskontinuität zu sein“, meinte etwa der Historiker Lothar Gall und erkannte ein Grundmuster der „Kontinuität der Diskontinuität“.
Um die Kontinuitäten und Wandlungsprozesse in der Demokratiegeschichte zu diskutieren, werden in Deutschland oft Ortsnamen mit den Republiken in Beziehung gesetzt. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich die Bezeichnung „Weimarer Republik“ ausgerechnet in den 1950er Jahren durchgesetzt hat.
Bonn und Weimar
Der Wunsch nach Abgrenzung bestimmte lange das Bild der Weimarer Republik in Westdeutschland. „Weimar“ wurde als bedrohte, umkämpfte und zum Scheitern gebrachte Demokratie bewertet.
Im Vergleich von Weimar und Bonn wurden vor allem die Unterschiede hervorgehoben, wobei das Grundgesetz als die überlegene Verfassung galt. Noch bevor der Begriff Verfassungspatriotismus geprägt wurde, hatte sich ein Kanon der Bonner Vorzüge herausgebildet: die Stärkung des Parlaments sowie des Bundeskanzlers; der Verzicht auf direktdemokratische Elemente und die Volkswahl des nunmehr fast nur repräsentative Aufgaben ausübenden Staatspräsidenten, der in Weimar größeren, am Ende schädlichen Einfluss gehabt hatte; der Schutz der Grundrechte durch ein Verfassungsgericht sowie das Leitbild einer wehrhaften Demokratie. Seit den 1950er Jahren stimmten Juristen, Historiker und Politikwissenschaftler darin überein, das Nebeneinander von parlamentarischen, präsidentiellen und plebiszitären Elementen sei ein Weimarer Konstruktionsfehler gewesen. Diese Interpretation hatte auch eine entlastende Funktion: Wenn schon die Verfassung wehrlos war, konnte es auf das Verhalten der Wähler oder Eliten nicht so sehr ankommen.
Darüber hinaus wurde der Unterschied zu Weimar zum Zeichen einer über Verfassungsnormen hinausgehenden Erfolgsgeschichte. „Weimar“ stand für eine gespaltene Gesellschaft am Rande des Bürgerkriegs, für politischen Extremismus der Linken und Rechten sowie ein schädliches Freund-Feind-Denken, für Massenarbeitslosigkeit, Inflation und eine unter dem Strich wenig erfolgreiche Außenpolitik. Demgegenüber repräsentierte „Bonn“ die schnelle Etablierung einer antitotalitären Demokratie, eine Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Wohlstand produzierte, einen expandierenden Sozialstaat anstelle von Streiks und Armut und eine Außenpolitik, die auf die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten wie mit den westeuropäischen Nachbarn setzte. In dieser Hinsicht hat sich die Überlegenheit der Bundesrepublik 1989 durch die Wiedervereinigung bestätigt, als die Ostdeutschen sich auf der Straße und in freien Wahlen mehrheitlich für den Beitritt zum westlichen Erfolgsmodell entschieden.
Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?
Solange es in Westdeutschland mit Freiheit, Sicherheit und Wohlstand aufwärts ging, kannte der Vergleich mit der Weimarer Republik nur eine Siegerin. Deshalb diente die Abgrenzung von Weimar vor 1933 nicht allein der wissenschaftlichen Erkenntnis; sie war stets auch ein Argument in der öffentlichen Auseinandersetzung. Zugleich wurde die Differenzerzählung der Bonner Republik zur Grundlage der Deutung der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte, die lange die Geschichtsschreibung dominiert hat.
Gegenwärtig ist die viele Jahre unter-, ja geringgeschätzte Weimarer Republik so aktuell wie lange nicht.
Bonn und Berlin
Am 20. Juni 1991 entschied der Bundestag in Bonn, dass im wiedervereinigten Deutschland Parlament und weite Teile der Regierung ihren Sitz in Berlin haben sollten.
Berlin hingegen, mit dem Einigungsvertrag immerhin als Hauptstadt definiert, was die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes zunächst noch einmal ausgeklammert hatte, verkörperte das in den Jahrzehnten der Teilung immer wiederholte Versprechen einer Rückkehr aus dem rheinischen Provisorium. Darüber hinaus verhieß die Millionenstadt an der Spree einen Aufbruch in eine neue Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. An keinem anderen Ort, schon gar nicht in Bonn, so hieß es, könnte man die Folgen des Ost-West-Konflikts überwinden, weil hierfür Verbindungen nach Mitteleuropa von zentraler Bedeutung sein würden. Schließlich verhieß Berlin an der Schwelle zum 21. Jahrhundert die Vorzüge einer aufregenden Metropole, der gegenüber Bonn bloß ein in Wohlstand ermüdetes Provinznest abgab.
Allerdings lässt die zugespitzte Alternative „Bonn versus Berlin“ leicht die zahlreichen Verbindungslinien zwischen Rhein und Spree übersehen, die dem historischen Verhältnis zwischen der vormals preußischen Rheinprovinz und der Zentrale im Brandenburgischen vergleichbar sind. Bei der Gründung der Bundesrepublik war Bonn eine Übergangslösung für das Dilemma, an Berlin und der nationalen Einheit festzuhalten und gleichzeitig einen Parlamentssitz für den westdeutschen Teilstaat zu begründen. 1948/49 hatte die Weltordnung des Kalten Krieges nach Bonn geführt, nach der Epochenzäsur 1989 bis 1991 ging es den umgekehrten Weg zurück. Insofern passte die Charakterisierung aus „A Small Town in Germany“, einem 1968 erschienenen Spionage- und Diplomaten-Thriller des britischen Schriftstellers John le Carré. Der Roman zeigte mit der „ganzen künstlich geschaffenen Wildnis der Beamtenstadt Bonn“ bloß einen „Wartesaal für Berlin“.
Im Hauptstadtstreit 1949 war jedoch die unscheinbare Vorläufigkeit Bonns ein entscheidendes Argument für den Bundessitz am Rhein gewesen.
„Bundesrepublik 2.0“
Die Übergänge zwischen Bonn und Berlin waren fließend, daher ist die Berliner Republik nicht etwas kategorisch Anderes als ihre Bonner Vorläuferin, sondern deren Erweiterung und Fortsetzung – eine „Art Bundesrepublik 2.0“.
In diesem Sinne ist die inzwischen gebräuchliche Wendung „Bonner Republik“ ein Vehikel, um im bundesrepublikanischen Kontinuum seit 1949 Unterschiede und Umbrüche auf den Begriff zu bringen. Denn seit dem späten 20. Jahrhundert gibt es eine Reihe grundlegender Veränderungen, die es vermutlich auch gegeben hätte, wären Parlament und Regierung in Bonn geblieben. Die weltpolitischen Rahmenbedingungen sind andere seit dem Ende der Bipolarität. Mit dem Internet erfasste ein tiefgreifender Strukturwandel Medien und Öffentlichkeit. Schließlich: Deutschland wurde hinsichtlich der Fläche und Bevölkerungszahl größer und wieder als echter Nationalstaat wahrgenommen. Damit verbunden waren alte Probleme der politischen Geografie, es ergaben sich jedoch zugleich Gestaltungschancen. Deutschland hatte wieder, wie sich Kritiker des Bonner „Provinzialismus“ freuten, eine „richtige Hauptstadt“