Am 31. Juli 1968 demonstrierten etwa 150 Student:innen und Jugendliche vor der US-Botschaft in Dar es Salaam, der Hauptstadt Tansanias. Mit Slogans wie „Progressive African youths support the Vietnamese struggle for independence“ protestierten sie gegen die US-Intervention in Vietnam, auch „Unyonaji na ubepari ni mavi“ („Ausbeutung und Kapitalismus sind scheiße“) war auf einem Plakat zu lesen. Manchen Beobachter:innen im Westen passte das ins Bild: Das ostafrikanische Tansania, dessen Regierungspartei sich erst ein Jahr zuvor klar zu einem sozialistischen Entwicklungsweg bekannt hatte, schien immer deutlicher Teil der kommunistischen Welt zu werden. Kaum einen Monat später, am 24. August 1968, versammelten sich wieder 2000 überwiegend junge Menschen für eine Demonstration, dieses Mal vor der sowjetischen Botschaft, die dabei gestürmt und verwüstet wurde. Selbst wenn der tansanischen Regierungsspitze diese Entgleisung peinlich war – zumal auch einige Minister und die Jugendorganisation der Regierungspartei involviert waren –, stand sie inhaltlich hinter beiden Protesten. Als erste Regierung in Afrika hatte sie den Einmarsch der Staaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei öffentlich kritisiert und dabei auch die Figur des Kolonialismus ins Spiel gebracht: „Tanzania opposes colonialism of all kinds, whether old or new, in Africa, in Europe, or elsewhere.“
Mit einer bipolaren Sicht vom Kalten Krieg als Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in den die ganze Welt zwischen 1947 und 1991 hineingezogen wurde, lassen sich diese Proteste gegen die USA und die UdSSR schwer erklären. Der Historiker Matthew Connelly hat empfohlen, die „Brille des Kalten Krieges abzusetzen“, um der Komplexität von Dynamiken, Interessenskonflikten, Strategien und gegenseitigen Wahrnehmungen im Globalen Süden gerecht zu werden. Die Demonstrationen in Dar es Salaam lassen sich nicht in einem einfachen Ost-West-Schema deuten.
Im Folgenden skizzieren wir anhand ausgewählter Schwerpunkte – antikoloniales worldmaking, Entwicklung und Sozialismen –, wie aktuelle Forschungen die Rolle des Globalen Südens im Gefüge der internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg neu einordnen. Abschließend diskutieren wir, inwiefern das wirkmächtige historiografische Deutungsmuster des Kalten Krieges aufgebrochen und mit anderen Faktoren zusammengedacht werden muss.
Der globale Kalte Krieg
Seit den 1990er Jahren ist es eine bedeutende historiografische Strömung, den Blick stärker auf die etwa 150 „heißen Kriege im Kalten Krieg“ zwischen 1947 und 1991 zu richten, darunter neben den Auseinandersetzungen in Korea, Vietnam und Afghanistan etwa auch Konflikte im Nahen Osten oder am Horn von Afrika. Im Gegensatz zu früher dominanten Deutungsmustern wie dem „Stellvertreterkrieg“, mit denen in erster Linie den Supermächten Handlungsmacht zugeschrieben wurde, finden nun auch Akteur:innen aus dem Globalen Süden mehr Beachtung, um den Lauf der Ereignisse zu erklären. Diese Neubewertung der Rolle des Globalen Südens hängt zusammen mit der Herausbildung der New Cold War Studies, die über den traditionellen ereignisgeschichtlichen Fokus auf Krisen und Kriege hinaus auch wirtschaftliche, soziokulturelle oder technologische Prozesse in den Blick nehmen und dabei die Rolle von kleineren Staaten und anderen „sekundären Akteuren“ in den Vordergrund stellen. Im Zusammenspiel mit Globalgeschichte, Regionalwissenschaften und Alltagsgeschichte sowie dem Einfluss postkolonialer Theorien sind Themen wie Souveränität, Staatenbildung, Menschenrechte sowie insbesondere Dekolonisierung in den Vordergrund gerückt.
Ein zentrales Werk in dieser Hinsicht war Odd Arne Westads „Global Cold War“, das 2005 den „globalen Kalten Krieg“ zu einem gängigen Begriff werden ließ. Westad sieht im Vorgehen und beim missionarischen Eifer der beiden Supermächte Ähnlichkeiten zum europäischen Imperialismus und Kolonialismus, von dem sich beide Mächte zugleich abgrenzten. Auch wenn die UdSSR und die USA ihre jeweiligen Gesellschaftsentwürfe universalisieren wollten und dafür im Globalen Süden – Westad verwendet den damals üblichen Quellenbegriff der „Dritten Welt“ – intervenierten, waren Regierungen und verschiedene Bewegungen im Globalen Süden keinesfalls nur Marionetten. Ähnlich hat Piero Gleijeses gezeigt, wie Kubas Führung ohne vorherige Abstimmung mit Moskau 1975 militärisch im gerade erst unabhängig gewordenen Angola intervenierte und so die geopolitische Konstellation im südlichen Afrika stark beeinflusste. Lateinamerika, lange primär als „Hinterhof“ der USA betrachtet, gilt in der neueren Forschung als Region, in der es auch über Kubas Wirken hinaus vielfältige Strategien gab, um sich gegen Einflussversuche aus Nordamerika zu wehren.
Archivrevolutionen?
Solche Neuinterpretationen beruhen neben einer Verlagerung oder Ausweitung von Analyseschwerpunkten auch auf der Erschließung neuer Quellen in „West“, „Ost“ und „Süd“. Zahlreiche Bestände in den ehemals staatssozialistischen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas wurden in den 1990er Jahren im Zuge sogenannter Archivrevolutionen zugänglich gemacht. Der einsetzende archivalische Goldrausch speiste jedoch vorerst zumeist nationale oder Ost-West-Fragestellungen, der Globale Süden wurde erst durch inter- und transnationale Perspektiven zum Forschungsgegenstand. Archive in Ländern des Globalen Südens wiederum galten für die Geschichtsschreibung des Kalten Krieges lange ohne genauere Prüfung als wenig ertragreich – das hat sich mittlerweile geändert. Wo sich der Zugang zu Nationalarchiven schwierig gestaltete, haben Forscher:innen auch Distrikt- und Regionalarchive, Privatarchive oder Bestände von internationalen Organisationen gesichtet und Oral-History-Interviews geführt. Das war nicht zuletzt hilfreich, um den auf Staatsoberhäupter, Außenministerien und Botschaften zentrierten Blick zu weiten, Differenzen innerhalb von Staaten zu erkennen und weitere gesellschaftliche Gruppen in die Analyse einzubeziehen.
Die Öffnungstendenzen der 1990er und 2000er Jahre haben sich mittlerweile vielerorts umgekehrt. Das gilt nicht nur für kriegführende Länder wie Russland. Bestände aus dem chinesischen Außenministerium etwa waren um 2007 weitgehend zugänglich, schon ein Jahrzehnt später jedoch waren kaum noch aussagekräftige Dokumente einzusehen. Auch in liberalen Demokratien der westlichen Welt ist der Zugang keinesfalls immer garantiert. In außenpolitischen Archivbeständen der USA sind zahlreiche Dokumente mit dem Hinweis auf nationale Sicherheitsinteressen nur in Form einer „Withdrawal Notice“ mit dem Hinweis „Contains National Security Information“ vorzufinden. Hinzu kommt, dass auch ehemalige Kolonialmächte noch einen großen Aufarbeitungs- und Öffnungsbedarf haben. In den britischen Nationalarchiven etwa blieb die „Migrated Archives“-Aktenserie mit Zehntausenden Dokumenten, die aus 36 Kolonien kurz vor dem Übergang zur Unabhängigkeit entwendet worden waren, bis 2011 unter Verschluss, um den Ruf des Vereinigten Königreichs nicht zu gefährden. Hier fanden sich nicht zuletzt Belege für die gewaltsame Unterdrückung antikolonialer Bewegungen, die zudem (oft fälschlich) als kommunistisch gebrandmarkt worden waren. Solche Bestände sind jedoch zentral, um die Verflechtung des globalen Kalten Krieges mit der Dekolonisierung zu verstehen und herauszuarbeiten, welche anderen Weltordnungen im Zuge antikolonialer Revolutionen angestrebt wurden.
Neue Weltordnung? Antikolonialismus und Blockfreiheit
Im frühen Kalten Krieg hatten Eliten der USA und der Kolonialmächte sowie auch kommunistisch regierter Länder die Erwartung, postkoloniale Regierungen müssten sich mit der Unabhängigkeit für eines der beiden Lager „entscheiden“. Gegen diese Erwartungshaltung richteten sich in der jüngeren Forschung viel beachtete Schlüsselereignisse und zum Teil auch deren Vorläufer, wie die afro-asiatische Bandung-Konferenz 1955, die Herausbildung der Bewegung der Blockfreien Staaten 1961 oder die von Kuba forcierte „Trikontinentale“, die eine Allianz antiimperialistischer Kräfte auf den „drei Kontinenten“ anstrebte. Auf diesen Plattformen demonstrierten Staaten und Organisationen aus dem Globalen Süden Handlungsmacht und mobilisierten immer breitere Bündnisse gegen Kolonialismus und Imperialismus, was auch im Rest der Welt das geopolitische Handeln prägte. Vijay Prashad hat treffend von der „Dritten Welt“, wie sie sich in diesen Jahren politisch formierte, als einem erst umzusetzenden „Projekt“ gesprochen – ein wichtiger Unterschied zu einem Verständnis der „Dritten Welt“ als geografisch oder anderweitig bereits bestehende Einheit.
Die neuere historiografische Literatur zum Thema hat nicht nur die Facetten, Visionen und Möglichkeiten dieses Projekts, sondern auch seine zahlreichen Widersprüche untersucht. Definitiv spürbar war eine Änderung der Kräfteverhältnisse in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, wo Regierungen aus dem Globalen Süden – zum Teil gemeinsam mit kommunistischen Staaten Osteuropas – Dekolonisierungsprozesse weiter beschleunigten. Vielfältige Vernetzungs- und Transferprozesse zeigten sich in Gewerkschafts-, Frauen- und Jugendorganisationen oder der 1958 in Kairo gegründeten Afro-Asian Peoples’ Solidarity Organization (AAPSO), die lange als bloße Frontorganisation Moskaus abgestempelt wurde. Derartige Organisationen und Konferenzreihen im Gefolge von Bandung, etwa die Afro-Asian Writers’ Conference, schufen wichtige Räume für Vernetzung, Wissenstransfer und die Verfolgung antikolonialer Agenden – wobei auch immer wieder Spannungen, beispielsweise zwischen kommunistischen und nichtkommunistischen Akteur:innen oder China und der Sowjetunion ausgehandelt werden mussten.
Hier blieb es keinesfalls nur bei leeren Solidaritätsbekundungen und ideologischen Disputen. Staaten aus dem Globalen Süden leisteten auch handfeste Unterstützung. Hauptstädte postkolonialer Staaten wie Dar es Salaam, Algier, Kairo oder Havanna wurden zu essenziellen Drehkreuzen für Befreiungsbewegungen auf ihrer globalen Suche nach Anerkennung, Ressourcen und Waffen. Das hatte weitreichende Folgen, ermöglichte es doch bestimmten Organisationen wie etwa dem südafrikanischen African National Congress (ANC) ihr Überleben im Exil, die weitere Unterstützung durch kommunistische Staaten und die westliche Zivilgesellschaft sowie den Sieg bei den ersten demokratischen Wahlen 1994.
Nationale Selbstbestimmung und das Ende der Kolonialherrschaft sowie weißer Minderheitenregime waren zwar in der Regel die erklärten Hauptziele, aber die zahlreichen antikolonialen Projekte von Staaten erschöpften sich keinesfalls darin. Die Politikwissenschaftlerin Adom Getachew hat mit dem Begriff worldmaking darauf hingewiesen, dass diese Projekte oft auf eine tiefgreifende Änderung der internationalen Ordnung zielten. Inspiriert von Internationalismen und Konzepten wie dem Panafrikanismus gab es vor allem in den 1950er und 1960er Jahren in Afrika oder in der Karibik ernstzunehmende Versuche regionaler Integration und föderative Modelle, die eine Alternative zum Nationalstaat boten. Über die tatsächliche Tragfähigkeit solcher Alternativen besteht Uneinigkeit. Es ist aber festzuhalten, dass der Nationalstaat als dominantes politisch-territoriales Ordnungsmuster keineswegs als selbstverständliches Ergebnis im Zuge der Auflösung der Imperien zu verstehen ist, sondern als Produkt historischer Aushandlungsprozesse, in denen andere Visionen regionaler und globaler Ordnungen an den Rand gedrängt wurden. Auf nationalstaatlicher Ebene blieb währenddessen häufig das Motiv der „Entwicklung“ leitend, das aber ebenso vom Kalten Krieg geprägt wurde.
Kooperations- und Konkurrenzfeld: Entwicklung
Viele antikoloniale Bewegungen hatten neben politischer Selbstbestimmung auch „Entwicklung“ versprochen – eine Chiffre, die für Fortschritt, Modernität, Wachstum, soziale Wohlfahrt und bessere Lebensbedingungen stand. Unweigerlich klinkten sie sich damit in ein globales Geflecht von Entwicklungsdiskursen und -praktiken ein. Die Geschichtsschreibung geht mittlerweile weiter, als in US-Präsident Harry S. Trumans „Point Four Program“ von 1949 den Ursprung der „Entwicklungshilfe“ zu sehen oder den Globalen Süden als unbeschriebenes Interventionsfeld für modernisierungstheoretische Entwicklungsmodelle aus Washington oder Moskau darzustellen. Akteur:innen im Globalen Süden bauten auf kolonialen Praktiken auf oder grenzten sich davon ab, griffen verschiedenste Ideen auf, entwickelten Alternativen und versuchten, die Quellen für Transfers zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von der vorherigen Kolonialmacht zu verringern.
Im Kontext ungleicher Machtbeziehungen nutzten politische Eliten im Globalen Süden die Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und heizten sie zum Teil sogar bewusst an, um die Staats- und Nationsbildung voranzutreiben, Souveränität und territoriale Integrität zu sichern, Ressourcentransfers zu maximieren und oft auch, um Machtansprüche mithilfe der Unterdrückung von Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Minderheiten durchzusetzen. Solche Initiativen, ebenso wie Programme zur Geburtenkontrolle, Eindämmung von Krankheiten oder Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion (Stichwort „Grüne Revolution“), bedeuteten einschneidende Transformationen in vielen Gesellschaften des Globalen Südens, die dabei von Regierungen, internationalen Organisationen, NGOs und Expert:innen gleichermaßen oft wie Experimentierfelder behandelt wurden.
In zahlreichen Studien wurde mittlerweile aufgezeigt, wie inter- und transnationale Ressourcen-, Personal- und Ideenflüsse die nationalen Entwicklungsversuche in Theorie und Praxis durchzogen. Die spezifischen Konstellationen von Dekolonisierung und Kaltem Krieg waren dabei prägend und stets ein Zeichen für die politische Dimension von Entwicklungsprojekten. Deutlich wird das etwa beim sogenannten Freedom Railway, einem in dieser Größe äußerst seltenen Infrastrukturprojekt in Afrika. Nachdem westliche Länder und die Sowjetunion eine Finanzierung abgelehnt hatten, nahm China, das zu dieser Zeit aktiv Allianzen im Globalen Süden knüpfte, ab 1967 eine Schlüsselrolle bei der Errichtung einer Eisenbahnstrecke vom Kupfergürtel Sambias bis zur Hafenstadt Dar es Salaam ein. Das unabhängige Sambia verringerte so die Abhängigkeit von Exportrouten durch Apartheid-Südafrika, Rhodesien (heute Simbabwe) und portugiesische Kolonien und hatte mehr Möglichkeiten, Befreiungsbewegungen aus der Region zu unterstützen.
Derartige Formen der Süd-Süd-Kooperation sind nach wie vor vergleichsweise selten untersucht worden. Mehr Aufmerksamkeit haben Forderungen nach gerechteren Handelsbedingungen erhalten, die sich in der Gründung internationaler wirtschaftlicher Institutionen wie der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) 1964 und der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) 1973 niederschlugen. Im Zuge von Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, einer Neuen Weltinformationsordnung sowie ähnlichen Initiativen für einen Systemwandel nahm das Denken in Kategorien von „Nord“ und „Süd“ und damit auch der Begriff des „Globalen Südens“ Form an, nicht zuletzt als Alternative zum Begriff der „Dritten Welt“, der zunehmend zu einer reinen Fremdbeschreibung mit abwertendem Klang wurde. Auch Gegenentwürfe zu Modernisierungstheorien wie die lateinamerikanischen Dependenztheorien oder die Weltsystemtheorie gewannen an Einfluss. Diese Forschungsansätze rückten die kolonialen Wurzeln und globalen Ursachen wirtschaftlicher Ungleichheiten in den Mittelpunkt, um zu erklären, warum postkoloniale Staaten trotz ambitionierter Modernisierungsprogramme in einem Zustand der Abhängigkeit verblieben. Eng verknüpft waren sie mit politischen Kämpfen, die darauf zielten, die asymmetrische Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt zu überwinden.
Um Überschuldungs- und Wirtschaftskrisen anzugehen, setzten Reformer:innen in den 1980er Jahren jedoch zunehmend auf wirtschaftsliberale Rezepte. Die neuere historische Forschung dazu sucht sich von älteren Narrativen abzugrenzen, die hier recht schematisch entweder die erfolgreiche Diffusion oder, in kritischer Perspektive, die Oktroyierung neoliberaler Ideologien sehen. Auf der Basis neuer Archivbestände werden nun verschiedene Liberalismen aus dem Globalen Süden, die konkreten Aushandlungsprozesse bei Reformen sowie auch Widerstand gegen die von westlichen Finanzinstitutionen geforderten Strukturanpassungsmaßnahmen untersucht. Diese Forschungen zu verschiedenen Liberalismen und kapitalistischen Strategien stehen noch weitgehend am Anfang. Zu erwarten ist aber eine Ausdifferenzierung ähnlich wie in bereits vorgelegten Arbeiten zu sozialistischen Entwicklungsmodellen, die diesen Liberalismen häufig vorausgingen.
Jenseits des „Ostblocks“: Sozialismen und Ost-Süd-Beziehungen
Studien zu „peripheren Sozialismen“ in Asien, Afrika und Lateinamerika haben aufgezeigt, dass sich nicht von „dem“ Sozialismus im Singular sprechen lässt. Experimente mit dem „Afrikanischen Sozialismus“ und dem „Arabischen Sozialismus“, aber auch Sozialismen von Regierungen in Chile und Indien blieben – trotz weitreichender bilateraler Beziehungen – ideologisch meist deutlich auf Distanz zum sowjetischen Lager. Stattdessen betonten sie eigene kulturelle (auch religiöse) Traditionen und koloniale Unterentwicklung beziehungsweise imperiale Einflussnahme als Quellen für eigenständige Sozialismusinterpretationen, die zudem die nationalstaatliche Souveränität von „fremden“ Einflüssen und Ideologien schützen sollten.
Von besonderer Bedeutung ist hier das Beispiel China: Es macht einen gravierenden Unterschied, ob die Revolution und Gründung der Volksrepublik 1949 in erster Linie als weitere Etappe kommunistischer Expansion gelesen oder in die Geschichte der globalen Dekolonisierung eingebettet wird; ebenso, ob man den offenen Bruch mit der Sowjetunion in den frühen 1960er Jahren eher als bilateralen Konflikt oder als geopolitische Rivalität mit Blick auf die Vorherrschaft im Globalen Süden untersucht. Solche Deutungen zeigen in Richtung einer neu perspektivierten Kommunismusgeschichte „jenseits des Eurozentrismus“, die auch mit einem multipolaren statt bipolaren Bild vom Kalten Krieg einhergeht.
Dieses Bild der Multipolarität hat durch die empirische Untersuchung der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten Osteuropas und dem Globalen Süden – auch als „Ost-Süd-Beziehungen“ bezeichnet – deutlich an Kontur gewonnen. Wie James Mark und Tobias Rupprecht festgestellt haben, wurde die „sozialistische Welt“ lange entweder als isoliert von Globalisierungsprozessen oder aber als deren Opfer betrachtet. Forschungen, die dieses Bild vom abgeschotteten Sozialismus revidieren, thematisieren „alternative Globalisierungen“ oder eine „sozialistische Globalisierung“ und weisen diese etwa anhand von diplomatischen, kulturellen, militärischen oder ökonomischen Verflechtungen nach. Analog zur „Dritten Welt“ als Projekt handelte es sich auch bei der Allianz zwischen dem „sozialistischen Weltsystem“ und den „jungen Nationalstaaten“ um „Experimente“. Das rückt auch zentrale Institutionen des „Ostblocks“ in ein anderes Licht: So war etwa der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe keinesfalls auf Osteuropa beschränkt, sondern hatte mit Vietnam, Kuba und der Mongolei vollwertige Mitglieder aus dem Globalen Süden sowie weitere Länder mit Beobachterstatus, die zum Teil beitreten wollten, aber nicht durften. Eine besonders intensiv untersuchte Dimension der Ost-Süd-Beziehungen sind socialist mobilities, also staatlich gesteuerte und zeitlich begrenzte Formen der Migration, etwa die Aufenthalte von Zehntausenden Student:innen und Vertragsarbeiter:innen aus dem Globalen Süden in Osteuropa, die sehr unterschiedliche persönliche Motive verfolgten und ihre Lebenswege zum Teil auch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs fortsetzten.
Kritik an diesem revisionistischen Narrativ einer „alternativen Globalisierung“ besagt, dass Ausmaße und Effekte dieser mannigfaltigen Ost-Süd-Beziehungen überinterpretiert werden. Andere wiederum sehen bedeutende Rückwirkungen dieser Beziehungen auf die Außenpolitik, bestimmte gesellschaftliche Bereiche, die Legitimierung kommunistischer Herrschaft oder die Bearbeitung und Verschlimmerung der spätsozialistischen ökonomischen Malaise.
Neues Metanarrativ und andere Zäsuren?
Wie ändern Forschungen zu Süd-Süd- und Ost-Süd-Beziehungen, Sozialismen und antikolonialen Worldmaking-Strategien das Bild vom 20. Jahrhundert und vom Kalten Krieg? Zweifellos „globalisierten“ Dekolonisierungsprozesse den Kalten Krieg, während der Kalte Krieg Spielräume für antikoloniale Akteur:innen des Globalen Südens bot und in der Auseinandersetzung mit der West-Ost-Dichotomie neue Verortungen, Solidaritäten und Identitäten produzierte. Mittlerweile ist es nicht mehr möglich, den Kalten Krieg in seiner globalen Dimension ohne die Dekolonisierung zu betrachten und Akteur:innen aus dem Globalen Süden einzubeziehen, die das Geflecht der „Nord-Süd-Ost-West-Beziehungen“ mitformten. Dadurch ist es aber auch schwieriger geworden, von Einzelstudien komplexer Gemengelagen in bestimmten Gegenden auf raumübergreifende Dynamiken zu schließen. Die alten Konzepte sind zu eng geworden. Ein Vorschlag mancher zur Ausweitung ist, den Kalten Krieg selbst in eine Langzeitperspektive als bloße Episode in einem längeren Widerstreit zwischen Imperialismus und Antiimperialismus einzuordnen – ähnlich zu dem Hinweis, dass der Systemkonflikt dem Kalten Krieg vorausging und ihn überdauerte. Diese Perspektive wird bisweilen in Ergänzung, bisweilen aber auch in Konkurrenz zum „Ordnungsmuster“ Kalter Krieg vorgeschlagen. Zum Metanarrativ stilisiert, birgt aber beispielsweise die Darstellung der Dekolonisierung als wichtigster Prozess des 20. Jahrhunderts die Gefahr, selbst wieder Komplexitäten zu reduzieren und die Rolle internationaler Organisationen oder spezifischer regionaler Dynamiken zu unterschlagen.
Von einer Komplexitätsreduktion war lange auch der Blick auf das Ende des Kalten Krieges gekennzeichnet. Während „1989“ mit Bezug auf Ost- und Mitteleuropa als markante Chiffre für den Zusammenbruch des Staatssozialismus steht, lässt sich für den Globalen Süden und die dortigen Sozialismen keine schlüssige übergreifende Zäsur setzen. Sozialistische Regierungen wurden seit den 1960er und 1970er Jahren wie in Ghana oder Chile durch Putsche abgesetzt, gingen wie in Tansania in den 1990er Jahren in neoliberale Parteien in Mehrparteiensystemen über, überdauern sehr unterschiedlich transformiert in China oder Kuba und wurden in den vergangenen Jahrzehnten in Bolivien und Venezuela neu ausgerufen. Selbst über den Bereich von Sozialismen hinaus ist „1989“ keine sinnvolle Klammer für Länder, in denen entscheidende Brüche – wie etwa die Islamische Revolution im Iran – teils in den späten 1970er Jahren zu suchen sind, teils wie beim Genozid in Ruanda und dem Ende der Apartheid in Südafrika in den frühen 1990er Jahren.
Mit Blick auf den Globalen Süden scheint es daher sinnvoll, eher eine breitere Transformationsphase zu betrachten, indem politische Zäsuren mit wirtschaftlichen Einbrüchen, einer neuen internationalen Arbeitsteilung und der wachsenden Ungleichheit zwischen Nord und Süd sowie innerhalb des Globalen Südens und einzelner Gesellschaften zusammengedacht werden. Eine Aufgabe dabei wird sein, die Geschichte von Kapitalismen und Sozialismen konsequenter als global und verflochten zu denken, auch über das Ende des Kalten Krieges hinaus. Auch wenn die Sowjetunion als Verliererin des Kalten Krieges erinnert wird, haben sich sozialistische wie auch kapitalistische Strategien und Praktiken in Interaktion miteinander – und das heißt auch: in und mit dem Globalen Süden – verändert. Der Annahme einer stetig zunehmenden Globalisierung in den 1980er und 1990er Jahren steht die These gegenüber, dass der Kollaps des Realsozialismus im sowjetischen Lager nicht der Startschuss für die Globalisierung Osteuropas war, sondern – aufgrund des Wegfalls zahlreicher Ost-Süd-Verbindungen – vielmehr eine gegenläufige Tendenz der „Deglobalisierung“ beschleunigte, die auch in der zunehmenden Abschottung und regionalen Integration des Globalen Nordens ersichtlich ist, beispielsweise an der Europäischen Union. Um die größeren Linien und Auswirkungen bis in die Gegenwart weiter herauszuarbeiten, wird es weitere Forschungen brauchen – gerade zu den nach wie vor zu selten thematisierten Süd-Süd-Beziehungen und der Frage, wie Akteur:innen im Globalen Süden nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Geschicke in die eigenen Hände nahmen und die Welt aktiv mitformten, um eine andere aus ihr zu machen.