Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Nach Bandung | bpb.de

Nach Bandung Jugoslawiens Rolle im Nord-Süd-Konflikt

Paul Stubbs

/ 14 Minuten zu lesen

Als europäischer Staat wurde Jugoslawien nicht zur Asiatisch-Afrikanischen Konferenz von Bandung eingeladen. Dennoch sollte das Land wenige Jahre später die entstehende Bewegung der Blockfreien Staaten maßgeblich prägen, die den „Geist von Bandung“ aufgriff.

Als vermeintlich fest in Europa verorteter Staat erhielt das sozialistische Jugoslawien keine Einladung zur Bandung-Konferenz asiatischer und afrikanischer Staaten, die vom 18. bis 24. April 1955 in Indonesien stattfand. Es sollten jedoch kaum mehr als sechs Jahre vergehen, bis Jugoslawien vom 1. bis 5. September 1961 in seiner Hauptstadt Belgrad das erste Gipfeltreffen der späteren Bewegung der Block- oder Bündnisfreien Staaten (im Folgenden NAM genannt, Non-Aligned Movement) einberief. Damit wurde es zu einem zentralen Akteur in einem Bündnis aufstrebender und zum Teil erst kurz zuvor entkolonialisierter Länder des Globalen Südens, von dem man mit Fug und Recht sagen kann, dass es den „Geist von Bandung“ aufgriff.

In diesem Beitrag beschreibe ich, wie und warum es dazu kam und welche spezifischen Aspekte Jugoslawien in den 1960er und 1970er Jahren in die NAM einbrachte. Ich konzentriere mich dabei auf die Errungenschaften der Bewegung der Blockfreien, weise aber auch auf ihre Grenzen hin und stelle die Widersprüchlichkeiten der Rolle Jugoslawiens heraus. Dabei blicke ich auch auf die unterschiedlichen Einschätzungen zur Kontinuität zwischen der Konferenz von Bandung und der Bewegung der Blockfreien Staaten.

Unerwartete Verbündete: Jugoslawien und der Globale Süden

Die Beziehungen zwischen dem sozialistischen Jugoslawien und dem Globalen Süden müssen von zwei Seiten betrachtet werden. Es reicht nicht aus, zu fragen, warum, wie und unter welchen Bedingungen Jugoslawien versuchte, die Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens zu einem zentralen Bestandteil seiner außenpolitischen Identität zu machen, nachdem es im Juni 1948 mit der Sowjetunion gebrochen hatte und aus dem Kommunistischen Informationsbüro (Kominform) ausgeschlossen worden war. Wichtig ist zudem die Frage, warum diese Annäherungsversuche überhaupt auf offene Arme trafen und tatsächlich eine einheitliche und starke Bewegung hervorbrachten, die – obwohl sie heute nicht mehr so viel Gewicht hat wie früher – auch über sechzig Jahre nach ihren zaghaften Anfängen noch existiert.

Nach dem in der jugoslawischen Geschichtsschreibung und Politik als „historisches Nein“ eingegangenen Bruch mit der Sowjetunion Stalins 1948 war Jugoslawien politisch isoliert und wirtschaftlich geschwächt. Das Land brauchte neue Verbündete und Zugang zu neuen Märkten, wollte sich aber nicht ausschließlich auf die USA und deren Verbündete innerhalb eines letztendlich antisozialistischen westlichen Blocks verlassen. Der Globale Süden, damals „Dritte Welt“ genannt, war für die Bildung strategischer Allianzen weder eine naheliegende Option noch die erste Wahl. Es gab Versuche, eine lose Balkanföderation mit benachbarten sozialistischen Ländern zu bilden, nachdem ein formalerer Zusammenschluss mit Bulgarien 1947 von Stalin untersagt worden war. Zudem wandte sich Belgrad an die kommunistischen Parteien in Westeuropa, insbesondere in Italien und Frankreich. Den Jugoslawen war daran gelegen, zu zeigen, dass sie zwar den Stalinismus ablehnten, aber den Sozialismus nicht aufgegeben hatten.

Bis mindestens 1953 hielt sich das Gefühl, dass sich Land und Regierung in einer Art „Belagerungszustand“ befanden. Es herrschte große Angst vor einer Invasion des Kominform und eine regelrechte Paranoia, die zur Beseitigung eines jeden führte, der verdächtigt wurde, mit Stalin zu sympathisieren. Jugoslawiens Präsident Josip Broz Tito reiste in diesem gesamten Zeitraum nicht ins Ausland. Zwischen Dezember 1954 und April 1961 unternahm Tito schließlich eine Reihe langer und wichtiger diplomatischer Reisen auf dem Schiff „Galeb“ (serbokroatisch für „Möwe“), die das jugoslawische Verständnis für die sich abzeichnende Dekolonisierung in Afrika und Asien vertieften und offenlegten, dass es ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten sowohl mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser als auch mit dem indischen Premierminister Jawaharlal Nehru gab. Diese beruhten weitgehend auf dem gemeinsamen Bekenntnis zu einer „aktiven Neutralität“ und zu einem Sozialismus, der vom stalinistischen Modell deutlich abwich. Die drei Staatsoberhäupter trafen sich am 18. und 19. Juli 1956 auf den Brionischen Inseln in Titos Sommerresidenz, wobei die Jugoslawen die Bedeutung dieser Zusammenkunft, die später als „ein Gründungsmythos des sozialistischen Jugoslawiens“ bezeichnet wurde, in ähnlicher Weise übertrieben, wie Nehru sie herunterspielte.

Der Beschluss, ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs jener Länder abzuhalten, die man damals im Serbokroatischen „nicht engagierte“ Länder nannte, wurde am 29. September 1960 während einer Zusammenkunft gefasst, die ähnliche Berühmtheit erlangen sollte. Sie fand in der Ständigen Vertretung Jugoslawiens bei den Vereinten Nationen am Rande der drei Wochen zuvor begonnenen XV. UN-Generalversammlung in New York statt. Nach einer Phase relativer Ruhe in den Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, die auf den Tod Stalins 1953 gefolgt war, tagte die UN-Vollversammlung vor dem Hintergrund erneuter Spannungen zwischen den Supermächten, da kurz zuvor eine Abrüstungskonferenz in Paris gescheitert war, und trug weiter zu ihnen bei. Dem sozialistischen Jugoslawien gelang es, Unterstützung für eine Resolution zu bekommen, in der auf die „ernste Gefahr für den Weltfrieden“ hingewiesen wurde. Und viel wichtiger noch: Tito, Nasser und Nehru konnten sich mit Ghanas Präsident Kwame Nkrumah und Indonesiens Präsident Sukarno auf ein Gipfeltreffen einigen und gaben damit zumindest sinnbildhaft den Staffelstab der dekolonialen Solidarität des Globalen Südens von Bandung an Belgrad weiter. In historischen Darstellungen werden sie als „die fünf Gründerväter der Blockfreiheit“ bezeichnet.

Bei dem Versuch zu verstehen, warum Jugoslawien als führende Kraft einer Gruppe akzeptiert wurde, zu der es im geopolitischen wie räumlichen Sinne formell gar nicht gehörte, ist die symbolische Bedeutung des siegreichen Kampfes jugoslawischer Partisanen gegen den Faschismus während des Zweiten Weltkrieges nicht zu unterschätzen. Viele Menschen im Globalen Süden hatten auf derselben Seite gestanden. Vor allem aber war dieser Kampf auch als Inspiration für die gegenwärtige Auflehnung gegen die koloniale Unterdrückung anschlussfähig. Die jugoslawische Führung erkannte nicht nur die Bedeutung der dekolonialen Befreiungsbewegungen, sondern bot auch konkrete Unterstützung in Form von Ausbildung, medizinischer und humanitärer Hilfe und häufig auch Waffen an. Das früheste und bedeutendste Beispiel dafür war die jugoslawische Unterstützung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung während ihres Höhepunkts zwischen 1956 und der Erlangung der algerischen Unabhängigkeit 1962 – eine ideologisch motivierte außenpolitische Position, die etwaige Auswirkungen auf die jugoslawisch-französischen Beziehungen hintanstellte.

In den Vereinten Nationen und anderen Kontexten erwarb sich Jugoslawien den Ruf, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen. Die jugoslawische Unterstützung wurde im Globalen Süden oft als authentischer wahrgenommen als die der Sowjets, da erstere an weniger Bedingungen geknüpft war. Darüber hinaus basierte sie auf einem Modell von Modernisierung durch Massenalphabetisierung, allgemeinen Zugang zu Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt, Agrarreformen und rasche Industrialisierung. Die Bedeutung der Kontrolle durch die Arbeiterschaft oder, wie es später hieß, der „Selbstverwaltung“ im jugoslawischen „Marktsozialismus“, gefiel vielen der dekolonialen Entscheidungsträger der ersten Generation – wenn nicht als zu kopierendes Modell, so doch als Inspiration. Jugoslawien hatte auch begonnen, Absolventen aus dem Globalen Süden die Möglichkeit eines Studiums in Jugoslawien zu eröffnen, insbesondere in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern.

Trotz alledem lag der entscheidende Grund für die Übergabe des Staffelstabs von Bandung an Belgrad in der Schwierigkeit beziehungsweise, wie sich herausstellte, der schieren Unmöglichkeit für die afrikanischen und asiatischen Staaten, eine weitere Bandung-Konferenz einzuberufen. Die Gründe, warum es nie zu einer zweiten Konferenz kam, sind komplex, aber zu den wichtigsten Faktoren zählen die Spannungen zwischen den beiden größten asiatischen Staaten Indien und China. Das Scheitern des Bandung-Prozesses trug sicherlich zur Entstehung der Bewegung der Blockfreien Staaten bei. Insbesondere Nasser war von dem Wert einer breiteren Bewegung und der Rolle, die das sozialistische Jugoslawien darin spielen könnte, überzeugt. Nehru war weniger enthusiastisch und zeitweise sogar eher besorgt darüber, dass viele seiner Grundsatzpositionen zur „friedlichen Koexistenz“ und Ähnlichem von den Jugoslawen aufgegriffen und als ihre eigenen ausgegeben wurden. Er stimmte dem Belgrader Gipfel nur unter der Zusicherung zu, dass es sich um ein einmaliges Ereignis handeln und nicht zu einer dauerhaften Bewegung führen werde.

Bandung und Belgrad: Kontinuitäten und Unterschiede

Es gab viele Gemeinsamkeiten zwischen den Gipfeltreffen von Bandung und Belgrad, nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass die vor Kurzem entkolonialisierten Nationalstaaten als aktiv gestaltende Subjekte statt als passive Objekte der internationalen Beziehungen in Erscheinung traten und sie die Konturen einer neuen historischen Handlungsfähigkeit absteckten. Beide Veranstaltungen waren in der Tat sorgfältig choreografiert und inszeniert, um zu demonstrieren, „Herr im eigenen Hause“ zu sein, wie Sukarno in seiner Eröffnungsrede in Bandung erklärt hatte. Sie spiegelten das Bedürfnis der Staaten des Globalen Südens, die noch nicht über Botschaftsnetzwerke verfügten, zusammenzukommen. Es wurden weitgehend ähnliche Grundsätze und Forderungen geäußert, darunter die Unantastbarkeit nationaler Souveränität, die Bedeutung von Selbstbestimmung, die Nichteinmischung in auswärtige Angelegenheiten anderer Länder, die friedliche Beilegung von Konflikten, Abrüstung anstelle atomarer Aufrüstung und mehr Macht für eine repräsentativere UNO, die die in ihrer Charta festgelegten Aufgaben tatsächlich erfüllt und nicht von den Supermächten blockiert wird. Sowohl in Bandung als auch in Belgrad verband sich Idealismus mit Eigeninteresse und ergab sich eine breite Unterstützung seitens sehr unterschiedlicher Regime. Auch wenn das prosowjetische Kuba von Anfang an Mitglied der Bewegung Blockfreier Staaten war, zeigte sich das Belgrader Treffen, obwohl es weniger Länder anlockte als die Organisatoren erhofft hatten, noch einmal selbstbewusster mit Blick auf die Notwendigkeit, einen Weg ohne Einmischung der Supermächte zu beschreiten. Ob es „eine ideologische Divergenz zwischen Bandung und Belgrad gab, bei der Verfolgung des Antikolonialismus oder auch in Fragen des Kalten Krieges“, bleibt strittig. Natürlich gab es zumindest in der Theorie einen wichtigen Unterschied zwischen dem erklärten Bikontinentalismus von Bandung, der Asien und Afrika miteinander verband, und dem allgemeineren Streben nach bündnisfreier Solidarität, das auf dem Belgrader Gipfel zum Ausdruck kam. Doch angesichts der Tatsache, dass in Belgrad auf Druck der USA sehr wenige lateinamerikanische Staaten teilnahmen und aus Europa nur Jugoslawien und Zypern, wies die Teilnehmerschaft der beiden Gipfel eine sehr ähnliche geografische Bandbreite auf.

Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Bandung eine einmalige Veranstaltung blieb und Belgrad trotz Nehrus ernsthafter Vorbehalte letztlich nicht. In der Tat gab es zwischen dem Belgrader Gipfel 1961 und dem Folgegipfel in Kairo vom 5. bis 10. Oktober 1964 beträchtliche Aktivitäten und einen regen Austausch, größtenteils auf Ministerebene, wobei sich die Zahl der teilnehmenden Staaten von 25 in Belgrad auf 47 in Kairo fast verdoppelte und wichtige lateinamerikanische Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko sowie das neutrale Finnland als Beobachter hinzukamen. Bei diesen ersten Treffen standen Fragen der politischen Sicherheit und der Abrüstung im Vordergrund, es wurden aber auch soziale, kulturelle und wirtschaftliche Fragen behandelt, die sich aus der anhaltenden Bedrohung durch neokoloniale Unterdrückungsverhältnisse ergaben. Dennoch folgte auf das Kairoer Gipfeltreffen eine Phase der Untätigkeit, die etwa vier bis fünf Jahre dauerte und in der die Bewegung der Blockfreien wie erstarrt schien.

Zeitweise wirkte es so, als habe nur Jugoslawien Interesse an der Fortsetzung der Bewegung in der einen oder anderen Form. Vor dem Hintergrund des Sechstagekrieges im Nahen Osten 1967 hatte sich Nasser der Sowjetunion stark angenähert, und Nkrumah war im Februar 1966 durch einen Militärputsch abgesetzt worden. Sukarno hatte versucht, eine alternative Konferenz der neuen aufstrebenden Kräfte (Conference of New Emerging Forces, CONEFO) als radikalere Initiative ins Leben zu rufen, die Jugoslawien als Land ohne Kolonialgeschichte ausgeschlossen hätte. Die Symbolik, dass die Arbeiten an der CONEFO-Konferenzhalle am zehnten Jahrestag der Konferenz von Bandung begonnen wurden, war den Jugoslawen nicht entgangen, doch die Pläne für die CONEFO endeten, als Sukarno im September 1965 durch einen Putsch rechter Kräfte unter der Führung von Suharto gestürzt wurde. Die Trikontinentale Konferenz der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, die vom 3. bis 15. Januar 1966 in der kubanischen Hauptstadt Havanna stattfand, war eine weitere Initiative, die – wenn auch nur implizit – eine Alternative zu dem eher sanften diplomatischen Ansatz der Bewegung der Blockfreien bieten sollte. Von einem Kommentator beschrieben als „dramatischer Schritt weg von der Blockfreiheit hin zu einem radikalen Antiimperialismus, der fest im sozialistischen Lager angesiedelt ist“, nahm sie viel von dem revolutionären Eifer auf, der 1968 seinen Höhepunkt erreichte, und ließ dabei ein Jugoslawien außen vor, von dem viele aus der globalen Linken meinten, dass es in eine Phase bürokratischer Stagnation eingetreten war und wenig zum globalen Sozialismus beizutragen hatte.

Gegen wirtschaftlichen NeoKolonialismus: Die Blockfreien in den 1970er Jahren

Nach der Unterbrechung erlebte die Bewegung der Blockfreien Staaten in den 1970er Jahren einen erneuten Aufschwung, der rückblickend als eine Art „goldenes Zeitalter“ der Bewegung gelten kann. Doch auch in ihrer informelleren Gestalt hatte die NAM zu Beginn der 1960er Jahre durch ihren Einsatz für die Gründung der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) eine äußerst wichtige Rolle gespielt. Am Ende der ersten UNCTAD-Tagung am 15. Juni 1964 war die Gruppe der 77 (G77) als offizielle Stimme des Globalen Südens bei den Vereinten Nationen ins Leben gerufen worden. Auch Jugoslawien war Gründungsmitglied.

Für die Wiederbelebung der NAM, die mit dem Gipfeltreffen in Lusaka, Sambia, vom 8. bis 10. September 1970 ihren Anfang nahm, gibt es verschiedene Gründe. Entscheidend war, dass die Jugoslawen eine neue Generation von Gesprächspartnern fanden, insbesondere die Präsidenten von Sambia und Tansania, Kenneth Kaunda und Julius Nyerere, sowie Indiens Premierministerin Indira Gandhi, die ihren Vater Nehru schon 1956 bei dem Treffen auf den Brionischen Inseln begleitet hatte. Hier fanden sich Verbündete mit einer ähnlichen Vision von „Entwicklung“, die einen an den afrikanischen und asiatischen Kontext angepassten Sozialismus aufbauen wollten und – noch viel wichtiger – ihre Unterstützung für die Bewegung der Blockfreien davon abhängig machten, dass sie als Vehikel für konkrete Aktionen und nicht als reines Gesprächsforum fungierte.

Die NAM 2.0, wie man sie nennen könnte, war etwas formeller, ohne jedoch übermäßig bürokratisch zu werden. Es wurde ein rotierender Vorsitz eingeführt, den das jeweilige Gastgeberland für drei Jahre bis zum nächsten Gipfel innehatte. Ihre relative Informalität ermöglichte es der Bewegung, trotz ihrer wachsenden Größe als Inkubator für neue Ideen und Initiativen zu fungieren, die dann an die G77 und die Vereinten Nationen herangetragen werden konnten. Eine Reihe von Vorschlägen, die später den Kern der am 1. Mai 1974 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Neuen Weltwirtschaftsordnung und der am 12. Dezember 1974 beschlossenen Charta über die wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten bildeten, wurden auf den NAM-Gipfeltreffen 1970 in Lusaka und 1973 in Algier, Algerien, entwickelt. Mit dem Ziel, die politische Selbstbestimmung mit „kollektiver Selbstständigkeit“ und einem grundlegenden Kurswechsel bei Welthandel und Wirtschaftsführung zu verbinden, verkörperten sie eine radikale Herausforderung der fortbestehenden „strukturellen Ungleichheiten der Weltwirtschaft“.

Die Jugoslawen unterstützten die Initiative weitgehend, waren aber nicht mehr federführend wie noch in den 1960er Jahren. Hinter den Kulissen befürchteten sie, dass die Algerier, gestärkt durch die Einnahmen aus den verstaatlichten Ölfeldern, die NAM in ihrem eigenen Interesse „privatisieren“ würden. Das war nicht ohne Ironie, da Jugoslawien, das die Gipfeltreffen sorgfältig choreografiert und im Vorfeld Entwürfe für Kommuniqués verfasst hatte, beschuldigt werden könnte, in den 1960er Jahren dasselbe getan zu haben. Vor dem Hintergrund der Entscheidung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), die Ölpreise infolge des im Oktober 1973 begonnenen Jom-Kippur-Krieges im Nahen Osten zu erhöhen, und einem anhaltenden Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den erdölproduzierenden und den erdölimportierenden Staaten des Globalen Südens, fanden die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung eine gewisse Unterstützung bei neutralen oder „gleichgesinnten“ Staaten in Europa. Als die USA die Forderungen zurückwiesen, trat Jugoslawien erneut als wichtiger Akteur in Erscheinung, indem es die Gründung einer Bank des Südens zur Unterstützung der am wenigsten entwickelten Länder vorschlug. Diese Idee wurde allerdings nie umgesetzt, nicht zuletzt, weil eine neue neoliberale Orthodoxie die Weltwirtschaft zunehmend dominierte, die Macht sich von den Vereinten Nationen auf den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank verlagerte und sich die Schuldenkrise verschärfte, die sogenannte Strukturanpassungen und Sparmaßnahmen nach sich zog. Dennoch schaffte es die Bewegung der Blockfreien im Verbund mit der UNESCO weiterhin, die Aufmerksamkeit auf die Ungleichgewichte in der globalen Kommunikation und den Bedarf nach einer Neuen Weltinformations- und -kommunikationsordnung zu lenken und, noch konkreter, nach einem Nachrichtenpool der Blockfreien – einer Partnerschaft zwischen einer Reihe von Nachrichten- und Informationsagenturen mit dem Ziel, relevantere Neuigkeiten über den Globalen Süden zu verbreiten als die Nachrichtensender des Nordens.

Ohne die führende Rolle des sozialistischen Jugoslawiens hätte die NAM vielleicht nie existiert oder Bestand gehabt. Obwohl sie immer nur eine von vielen Arenen war, in denen sich der Globale Süden austauschen und Aktionen koordinieren konnte, war sie stets ein wichtiger Katalysator und Inkubator für den Einsatz für eine gerechtere und ausgewogenere Weltordnung. Zwar stellte sie Vereinbarungen zwischen Nationalstaaten beziehungsweise zukünftigen Nationalstaaten in Form von Befreiungsbewegungen in den Vordergrund, doch gab es durch den verbindenden dekolonialen Standpunkt und durch relativ autonome Räume für bedeutenden transnationalen Austausch in den Bereichen Kunst und Kultur, Frauenaktivismus, Architektur, Wissenschaft, Bildung und Industrie trotzdem auch eine „Blockfreiheit von unten“. Jugoslawische Unternehmen richteten Arbeitsstätten im Globalen Süden ein, wobei dies angesichts der einsetzenden Schuldenkrise Jugoslawiens oft eher als neue Einnahmequelle denn als Akt der Solidarität gesehen wurde. Jugoslawien profitierte durch die Erschließung neuer Märkte sowohl auf mikro- als auch auf makroökonomischer Ebene von seiner Rolle in der Bewegung der Blockfreien Staaten.

Die NAM und das Ende Jugoslawiens

Der jugoslawische Einfluss nahm in der Zeit und im Gefolge des sechsten NAM-Gipfels ab, der vom 3. bis 9. September 1979 in Havanna stattfand. Dies war das letzte Treffen, an dem der jugoslawische Präsident Tito vor seinem Tod am 4. Mai 1980 teilnahm. Obwohl der Gipfel als Kampf „um die Seele der NAM“ beschrieben wurde, gelang es den Jugoslawen ein Stück weit, den Kubanern die Bedeutung von Konsensfindung, die Notwendigkeit einer gleichermaßen kritischen Haltung gegenüber beiden Machtblöcken im Kalten Krieg sowie das Erfordernis, Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten von der offiziellen Tagesordnung fernzuhalten, zu vermitteln.

Die 1980er Jahre wurden für Jugoslawien zu einer Phase der wirtschaftlichen und politischen Krise. Die mächtigen nördlichen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien begannen, die Verpflichtungen gegenüber dem Globalen Süden kritisch zu sehen und sich stärker an Europa zu orientieren. Ab 1991 fiel Jugoslawien im Zuge brutaler Kriege auseinander, und die Nachfolgestaaten vergaßen die Bewegung der Blockfreien entweder völlig oder, wie im Falle Serbiens, verzerrten die Erinnerung an sie zugunsten ihrer eigenen strategischen Interessen. Mehr als dreißig Jahre später lässt sich jedoch ein erneutes akademisches, aktivistisches und künstlerisches Interesse an der Rolle des sozialistischen Jugoslawiens in der NAM erkennen, sowie an den Lehren, die daraus für die krisengeschüttelte Welt von heute gezogen werden könnten.

Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff, Dresden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Schätzungen zufolge kostete die Handelsblockade der Kominform-Länder Jugoslawien zwischen 1948 und 1950 etwa 429 Millionen US-Dollar. Vgl. Nataša Mišković, The Pre-History of the Non-Aligned Movement: India’s First Contacts with the Communist Yugoslavia, 1948–1950, in: India Quarterly 2/2009, S. 185–200, hier S. 191.

  2. Vgl. Peter Willetts, The Foundations of the Non-Aligned Movement: The Trouble With History Is That It Is All in the Past, in: Paul Stubbs (Hrsg.), Socialist Yugoslavia and the Non-Aligned Movement: Social, Cultural, Political, and Economic Imaginaries, Montreal 2023, S. 59–83, hier S. 65.

  3. Vladimir Petrović, Jugoslavija stupa na Bliski Istok, Belgrad 2007, S. 139.

  4. Vgl. Willetts (Anm. 2), S. 67.

  5. Vgl. David L. Milbank, Yugoslav Policy Toward Algeria in Perspective, in: SAIS Review 1/1967, S. 4–14; Jelena Đureinović, Internationalizing the Revolution: Veterans and Transnational Cultures of Memory and Solidarity Between Yugoslavia and Algeria, in: International Review of History S32/2024, S. 139–158.

  6. Vgl. Leonora Dugonjic-Rodwin/Ivica Mladenović, Transnational Educational Strategies During the Cold War: Students from the Global South in Socialist Yugoslavia, 1961–91, in: Stubbs (Anm. 2), S. 331–359.

  7. Vgl. Jürgen Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992), Berlin 2015, S. 98.

  8. Zit. nach ebd., S. 57.

  9. Willetts (Anm. 2), S. 72.

  10. Zit. nach Robert J.C. Young, Disseminating the Tricontinental, in: Chen Yian et al. (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Global Sixties, London 2018, S. 517–547, hier S. 517. Siehe auch Paul Stubbs, Re-Imagining Anti-Fascist Internationalisms, in: History in Flux 6/2024, S. 169–196.

  11. Julius Nyerere zit. nach Adom Getachew, Worldmaking after Empire. The Rise and Fall of Self-Determination, Princeton–Oxford 2019, S. 157.

  12. Vgl. Sašo Slaček Brlek, The Creation of the Non-Aligned News Agency Pool, in: Prispevki za novejšo zgodovino 1/2022, S. 37–62; Paul Stubbs, The Non-Aligned Movement and the New International Economic and Information Orders: Yugoslavia, the Global South and the UN, in: Barbara Predan/Daša Tepina (Hrsg.), The Culture of the Non-Aligned: The Clash of Cultural and Political Narratives, Ljubljana 2023, S. 21–39.

  13. Siehe z.B. Externer Link: http://www.nam-globe-exchange.org.

  14. Siehe z.B. Externer Link: https://pric.unive.it/projects/wo-nam/home.

  15. Siehe z.B. Externer Link: http://www.yuworkzambia.net.

  16. Vgl. Dubravka Sekulić, „The Sun Never Sets on Energoprojekt … Until It Does“: The Yugoslav Construction Industry in the Non-Aligned World, in: Stubbs (Anm. 2), S. 257–279.

  17. Vgl. Jovan Čavoški, Non-Aligned Movement Summits: A History, London 2022.

  18. Vgl. Paul Stubbs, The Emancipatory Afterlives of Non-Aligned Internationalism. What Can We Salvage from the Spirit of Bandung?, Januar 2020, Externer Link: http://www.rosalux.de/en/publication/id/41631.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Paul Stubbs für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Soziologe und Aktivismusforscher und war bis Ende 2024 Senior Research Fellow am Institute of Economics in Zagreb, Kroatien.