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70 Jahre nach Bandung | bpb.de

70 Jahre nach Bandung Von Missverständnissen und Nachwirkungen

Amitav Acharya

/ 12 Minuten zu lesen

Um die Konferenz von Bandung und ihr Vermächtnis ranken sich allerlei Mythen. Halten sie einer Überprüfung stand? Was zählt sieben Jahrzehnte später mit Blick auf die internationalen Beziehungen und die Weltordnung zum nachhaltigen Erbe der Konferenz?

„This is the first intercontinental Conference of coloured peoples in the history of mankind“, stellte Indonesiens Präsident Sukarno in seiner Eröffnungsrede auf der Asiatisch-Afrikanischen Konferenz in Bandung 1955 fest. Damit wollte er wohl zum Ausdruck bringen, es handele sich um die erste zwischenstaatliche Konferenz „nichtweißer“ beziehungsweise nichtwestlicher Länder. Gegen Rassismus gerichtete Zusammenkünfte hatte es schon zuvor gegeben, insbesondere den Brüsseler Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus 1927 sowie die beiden Asian Relations Conferences in Neu-Delhi 1947 und 1949. Doch auch wenn der Brüsseler Kongress – an dem unter anderem Indiens späterer Ministerpräsident Jawaharlal Nehru teilgenommen hatte – ein Ort gewesen sei, an dem wie Sukarno in seiner Eröffnungsrede in Bandung bemerkte, „zahlreiche ehrenwerte Delegierte, die heute hier anwesend sind, einander begegneten und neue Entschlossenheit in ihrem Unabhängigkeitskampf gewannen“, so sei er auch insofern bezeichnend gewesen, als Brüssel „ein Tausende Kilometer entfernter Tagungsort war, unter Fremden, in der Fremde. Nicht auf eigenen Wunsch, sondern notgedrungen war man dort zusammengekommen. Im Vergleich dazu stellt sich die Situation heute völlig anders dar. Unsere Nationen und Länder sind keine Kolonien mehr. Wir sind jetzt frei, souverän und unabhängig. Wir sind wieder Herr im eigenen Haus. Wir müssen nicht erst auf andere Kontinente reisen, um zu konferieren.“

Die erste Konferenz von Neu-Delhi war eher inoffiziell gewesen und von einer Denkfabrik ausgerichtet worden, dem Indian Council on World Affairs. Zu den Teilnehmern gehörten neben Tibet zu jener Zeit noch nicht unabhängige Staaten; sogar Gastgeber Indien befand sich noch mehrere Monate lang weiter unter britischer Kolonialherrschaft. An beiden Konferenzen in Neu-Delhi hatten nicht ausschließlich Vertreter nichtweißer Völker teilgenommen: Australien, die USA und das Vereinigte Königreich waren auf der ersten Konferenz Beobachter und auf der zweiten stimmberechtigte Teilnehmer gewesen.

An der Bandung-Konferenz vom 18. bis 24. April 1955 nahmen insgesamt 29 Länder teil. Zu ihnen gehörten neben den fünf ausrichtenden Ländern, den sogenannten „Colombo-Powers“ Burma (heute Myanmar), Ceylon (heute Sri Lanka), Indien, Indonesien und Pakistan, auch Ägypten, Äthiopien, Afghanistan, China, die Goldküste (heute Ghana), Iran, Irak, Japan, Jemen, Jordanien, Kambodscha, Laos, Libanon, Liberia, Libyen, Nepal, die Philippinen, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Thailand, die Türkei, die Demokratische Republik Vietnam sowie Südvietnam. Die Konferenz war in mehrfacher Hinsicht ein Meilenstein. Zum einen war sie das erste internationale Gipfeltreffen der gerade unabhängig gewordenen Länder Asiens und Afrikas. Zum anderen handelte es sich um das erste internationale Forum, an dem das kommunistische China, nicht aber die Sowjetunion teilnahm. Darüber hinaus war die Konferenz die Kulisse des ersten Auftritts des neuen ägyptischen Staatsoberhaupts Gamal Abdel Nasser auf der Weltbühne, der bei seiner Abreise ein anderer Mensch sein sollte. Und schließlich trat dort Japan auf, erstmals in Asien seit der Niederlage des Landes im Zweiten Weltkrieg, die seinen Traum von einer „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“ zunichte gemacht hatte.

Die Konferenz war geprägt von etlichen Kontroversen. Die behandelten Themen spiegelten die damals wirkenden Einflussfaktoren wider – Dekolonisation, Beginn des Kalten Krieges, Eskalation des Indochinakonflikts, Gründung des Südostasienpaktes (Southeast Asia Treaty Organization, SEATO) sowie der Führungsanspruch Indiens, Indonesiens und Chinas. Auf der Konferenz wurden lebhafte Debatten über das Wesen des Kommunismus geführt, den seine Kritiker als neue Form von Kolonialismus betrachteten, sowie über den moralischen und strategischen Aspekt eines Beitritts zu einem der Militärbündnisse im Kalten Krieg. Letztendlich hinterließ die Konferenz ein nachhaltiges Vermächtnis, zu dem auch ihr Einfluss auf die regionale Ordnung in Asien, die Solidarität mit der „Dritten Welt“ und die Bewegung der Blockfreien Staaten zählen.

Mythen und Fakten

Um Bandung und sein Erbe ranken sich allerlei Mythen. Zwar entstand im Nachgang der Konferenz die Bewegung der Blockfreien Staaten. Doch es wäre falsch, wie in vielen Darstellungen über die Ursprünge dieser Bewegung davon auszugehen, dass ihre fünf führenden Köpfe – Indiens Ministerpräsident Nehru, Indonesiens Präsident Sukarno, Jugoslawiens Staatspräsident Josip Broz Tito, Ägyptens Staatspräsident Nasser sowie der Premierminister der Goldküste beziehungsweise Ghanas, Kwame Nkrumah – erstmals in Bandung in Klausur gingen. Weder Tito noch Nkrumah nahmen an der Konferenz teil, Letzterer aufgrund des Drucks des Vereinigten Königreichs, das zu jener Zeit noch die Außenpolitik seiner damaligen Kronkolonie bestimmte. Ähnliche Einflussnahme von britischer Seite vereitelte die ursprünglichen Pläne des neu gewählten Regierungschefs von Singapur, David Marshall, an der Bandung-Konferenz teilzunehmen.

Entgegen einem weit verbreiteten Irrglauben war die Bandung-Konferenz keine antikoloniale Diskussionsrunde. Aufgrund dieser Befürchtung hatten führende Köpfe der westlichen Welt, insbesondere aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten, versucht, Einfluss auf die Konferenz zu nehmen. Befreundeten Staats- und Regierungschefs, die zu dem Treffen eingeladen worden waren, gaben sie sogenannte Leitfäden an die Hand, in denen den Teilnehmern beispielsweise nahegelegt wurde, den „kommunistischen Kolonialismus“ anzuprangern und die von Indien und China propagierten „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ zurückzuweisen. Doch die fünf Ausrichterländer Burma, Ceylon, Indien, Indonesien und Pakistan waren darauf bedacht, die antiwestliche Agenda nicht zu forcieren und die Konferenz keinen radikal antikolonialen oder antirassistischen Kurs einschlagen zu lassen. In diesem Sinne hatten sie beschlossen, ausschließlich Regierungsvertreter einzuladen und Anführer nationalistischer Bewegungen nicht einmal als offizielle Beobachter zuzulassen. Erbost darüber, keine Einladung erhalten zu haben, weigerte sich daraufhin der Ministerpräsident der Malaiischen Föderation, Tunku Abdul Rahman, dem Treffen als inoffizieller Beobachter beizuwohnen, da dies in seiner Heimat als Affront aufgefasst worden wäre. Zudem kamen in Bandung nur solche kolonialen Fragen auf den Tisch, an denen teilnehmende Länder ein direktes Interesse hatten. So brachten Ägyptens Vertreter die Situation in Palästina und Französisch-Nordafrika zur Sprache, während die Indonesier die Lage in West-Papua thematisierten. Nehru hingegen schnitt den indischen Anspruch auf Goa, das noch unter portugiesischer Kolonialherrschaft stand, nicht einmal an. Am Ende der Zusammenkunft befand der britische Botschafter in Jakarta: „Die Konferenzteilnehmer haben die Gelegenheit nicht genutzt, die sich durch die Anwesenheit von Agitatoren aus Zypern, Sarawak, Malaya und anderswo auf den Fluren oder in den Konferenzräumen bot, um feindselige Formulierungen über diese Gebiete in ihr Abschlusskommuniqué aufzunehmen.“

Ein weiterer Mythos über die Konferenz lautet, Bandung habe den Südostasienpakt SEATO legitimiert. Das Verteidigungsbündnis zwischen den USA, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Australien und Neuseeland mit Pakistan, den Philippinen und Thailand war ein Jahr zuvor von Washington angestoßen worden. Tatsächlich war das Problem eines Beitritts zu einem der Militärbündnisse im Kalten Krieg in Bandung ein wesentlicher Streitpunkt. Die von Indien angeführten sogenannten „Neutralen“, zu denen auch Indonesien, Burma und Ägypten gehörten, sprachen sich für den Nichtbeitritt zu Militärbündnissen der Großmächte aus. Nehru prangerte solche Pakte als Herrschaftsinstrumente an, die Souveränität, Gleichheit und Würde der gerade unabhängig gewordenen Länder bedrohen würden. Dies löste heftigen Widerspruch vonseiten der mit dem Westen befreundeten Länder aus, namentlich Thailand, die Philippinen, Libanon, Irak, Türkei und Pakistan. Letztendlich erkannte die Konferenz das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung an, rief aber gleichzeitig dazu auf, „auf Vereinbarungen zur kollektiven Verteidigung, die den Einzelinteressen einer der Großmächte dienen, zu verzichten“. Tatsächlich deckte die Konferenz mit Blick auf die mangelnde Partizipation und Repräsentation der Region die unzureichende Legitimation der SEATO auf. In einer Bewertung der Konferenz durch das britische Außenministerium hieß es: „Jede Hoffnung, es könnten weitere Staaten für die SEATO gewonnen werden, ist nun dahin.“

Nachhaltige Auswirkungen

Das wichtigste Vermächtnis von Bandung war nicht organisationsbezogener, sondern normativer Natur. Durch den Aufruf, keinen von Großmachtinteressen geleiteten Militärbündnissen beizutreten, erweiterte und untermauerte die Konferenz die aus dem Westfälischen System nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert hervorgegangene Norm der Nichteinmischung. Diese steht heute zunehmend in der Kritik, da sie von Regierungen als Argument genutzt wird, um sich gegen den Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Damals jedoch galt sie vor allem für Nehru, der alles andere war als ein asiatischer Autokrat, als ein Bollwerk gegen Kolonialismus und die Intervention von Supermächten.

Hinzu kam der zwar begrenzte, aber doch bedeutende Einfluss der Bandung-Konferenz auf das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis. Die von Chinas Premierminister Zhou Enlai in Bandung verkündete Entscheidung Beijings, mit den USA über Taiwan zu verhandeln, erfolgte mit einiger Sicherheit ohne vorherige Absprache mit der Sowjetunion. Dies veranlasste selbst einen so glühenden Anhänger der These einer monolithischen Geschlossenheit des kommunistischen Lagers wie den US-Außenminister John Foster Dulles dazu, China eine „gewisse Unabhängigkeit“ von Moskau zu attestieren. Bandung war eine willkommene Gelegenheit für China, sich mehr als asiatische denn als kommunistische Macht zu definieren. Diplomatischen Berichten über das Treffen zufolge, die sich in westlichen Archiven finden, war der sowjetische Botschafter in Indonesien der unglücklichste Diplomat in Bandung.

Die Konferenz diente als wichtiger Schauplatz für erste Erfahrungen von Führungspersönlichkeiten in puncto internationaler Zusammenarbeit. Dies galt für Japan, für das es sich um die erste internationale Konferenz nach dem Zweiten Weltkrieg handelte, für Indonesien, das erstmals als unabhängiges Land eine große internationale Konferenz ausrichtete, für Ägypten, dessen Präsident Nasser in Bandung sein Debüt auf internationalem Parkett gab, sowie für China, für das Bandung die erste internationale Konferenz ohne sowjetische Bevormundung war. Die Erfahrung von Bandung verlieh manchen dieser Staats- und Regierungschefs neues Selbstvertrauen in internationalen Angelegenheiten.

Die Bandung-Konferenz leistete wichtige, wenn auch seinerzeit wenig beachtete Vorarbeit für den späteren Aufbau regionaler Institutionen in Asien. Zwar ging aus ihr keine dauerhafte regionale Organisation hervor – das war auch nie ein Ziel der ausrichtenden Länder gewesen. Sie bereitete aber den Boden für die Bewegung der Blockfreien Staaten. Dadurch, dass keine dauerhafte afroasiatische Organisation geschaffen wurde, blieb Raum für subregionale Gruppierungen wie die Association of Southeast Asia (ASA), die später in der neu gegründeten Association of South-East Asian Nations (ASEAN) aufging. Hätte es nach Bandung eine feste, von Indien oder China dominierte Organisation gegeben, so hätte dies möglicherweise die Entstehung regionaler Gruppierungen unter der Leitung kleinerer Nationen verhindert.

Darüber hinaus trug Bandung auch zur Entwicklung und Ausformulierung von Normen bei, mit deren Hilfe wichtige Aspekte des späteren Aufbaus regionaler Institutionen in Asien definiert werden konnten. Die Vorgehensweise auf der Bandung-Konferenz, die entgegen der vorherrschenden Erwartung zum erfolgreichen Zustandekommen eines Kommuniqués führte, diente als Grundlage für die spätere multilaterale Diplomatie in Asien. In diesem Zusammenhang sind mehrere Aspekte des Konferenzablaufs erwähnenswert. Zum einen wurden strittige Themen ausgespart. Zum anderen gab es keine starre Tagesordnung, sondern wurden Themen gegenseitigen Interesses in informeller Atmosphäre diskutiert. Und schließlich wurden Entscheidungen nicht durch Mehrheitsbeschluss getroffen, sondern durch Konsens. Diese Vorgehensweise ähnelte dem, was in den folgenden Jahrzehnten den ASEAN-Prozess prägen sollte.

Bandung trug allerdings durchaus auch zu negativen Entwicklungen bei. So zeigten sich prowestliche Nationen wie die Philippinen, Thailand und Pakistan, die in Bandung den Sieg der „freien Welt“ feierten, blind gegenüber innenpolitischen Versäumnissen. Ihre politischen Systeme wurden vom Militär übernommen. Das Selbstbewusstsein, das regionale Führungspersönlichkeiten wie Ägyptens Nasser und Indonesiens Sukarno gewannen, könnte zu ihren regionalen interventionistischen Ambitionen beigetragen haben. Und obwohl Nkrumah nicht anwesend war, ließ er sich von Bandung stark inspirieren und nutzte die Konferenz, um seine Version von panafrikanischem Interventionismus zu rechtfertigen.

Und doch wurden am Ende der Bandung-Konferenz die Skeptiker eines Besseren belehrt. Denn man einigte sich nach US-amerikanischer Einschätzung „effizient und zügig“ in einem Kommuniqué auf allgemeine Grundsätze internationaler Beziehungen – mochten darunter auch solche sein, die nicht in der UN-Charta verankert waren, zum Beispiel der Nichtbeitritt zu Militärbündnissen, die von Großmächten gesteuert wurden. Der britische Botschafter in Jakarta, der das Konferenzgeschehen miterlebte, spürte „das offenkundige Gefühl der Delegationen, dass das Treffen eine neue Ära in den internationalen Beziehungen einläutete“. Tatsächlich trug es zu einer Entschärfung internationaler Spannungen bei, wobei manch entscheidender Fortschritt außerhalb der Konferenzsäle erzielt wurde, etwa das chinesisch-indonesische Abkommen über die doppelte Staatsbürgerschaft und das Angebot von Zhou Enlai, mit den USA über Taiwan zu verhandeln. Selbst in US-amerikanischen Geheimdienstberichten nach der Konferenz wurde eine „Veränderung des Klimas im Kalten Krieg“ notiert, begünstigt durch das Treffen, das „neue Hoffnung auf die Vermeidung einer kriegerischen Auseinandersetzung geweckt hat und jeden Verstoß gegen den Frieden erschwert“. In einer weiteren Einschätzung wurde der Wille der Konferenzteilnehmer hervorgehoben, „eher Bereiche der Einigkeit statt der Uneinigkeit in den Vordergrund zu stellen“.

Rückblickend betrachtet, mögen solche Analysen voreilig erscheinen. Doch gibt es keinen Grund zur Annahme, sie seien weniger zutreffend als die Bewertungen derer, die das Ergebnis internationaler Konferenzen einzig und allein an ihrem Beitrag zur Entstehung einer Institution messen. Worauf es ankommt, ist, dass Bandung in nicht unerheblichem Maße die spätere normative regionale Ordnung Asiens und darüber hinaus die internationalen Beziehungen der Entwicklungsländer prägte.

Letztendlich wurden auf der Bandung-Konferenz erste Forderungen der Entwicklungsländer formuliert, die in den Nord-Süd-Beziehungen der folgenden Jahrzehnte an Bedeutung gewinnen sollten, etwa jene nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Die Teilnehmerstaaten verlangten unter anderem einen Informationsaustausch über Ölpreise – möglicherweise ein Vorbote des OPEC-Kartells – und Kollektivverhandlungen zur Anhebung der Rohstoffpreise – ein Ziel, das später auch die ASEAN verfolgte. Ferner schlug der Wirtschaftsausschuss der Bandung-Konferenz eine verstärkte Süd-Süd-Kooperation vor. Dies ist mittlerweile ein Trend in der Weltpolitik.

Neuer Globaler Süden in einer „Multiplexwelt“

Das nachhaltigste Erbe der Bandung-Konferenz ist wohl die Tatsache, dass dort geboren wurde, was später als „Globaler Süden“ bezeichnet wurde. Diese Idee gewinnt noch heute an Bedeutung. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Länder des Globalen Südens in der Weltpolitik stetig an Geltung und Einfluss gewonnen – und entgegen der im Westen vorherrschenden Ansicht sollte dieser den Globalen Süden nicht fürchten, sondern seinen unvermeidlichen Aufstieg akzeptieren und mit den dazugehörenden Nationen zusammenarbeiten, von denen viele eine Kooperation mit dem Westen begrüßen.

Seinen Einfluss auf die Weltordnung hat der Globale Süden durch prinzipiengeleitete Positionierungen und Initiativen geltend gemacht. Dabei entsprachen Letztere bisweilen in höherem Maße internationalen Normen als die des Westens, insbesondere der USA. So verurteilte beispielsweise die Mehrheit der Nationen des Globalen Südens den russischen Angriff auf die Ukraine mit der Begründung, dass damit gegen das hohe Prinzip der territorialen Integrität und der Nichtanwendung von Gewalt verstoßen werde. Auch im israelisch-palästinensischen Konflikt unterstützte die überwältigende Mehrheit von ihnen UN-Resolutionen, die einen sofortigen Waffenstillstand forderten.

Darüber hinaus haben die Nationen des Globalen Südens dem westlichen Druck widerstanden, in den wiederaufflammenden Konflikten der Großmächte Partei zu ergreifen. Insgesamt sind sie nicht daran interessiert, sich in den ideologischen Wettstreit und die militärische Rivalität zwischen NATO und Russland oder zwischen dem Westen auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen hineinziehen zu lassen. Dieser Balanceakt hat bislang dazu beigetragen, die Auswirkungen der „Rückkehr der Geopolitik“ auf Frieden und Stabilität in der Welt zu begrenzen.

In den kommenden Jahren werden die Nationen des Globalen Südens in unterschiedlichen Formen beziehungsweise Konstellationen weiter an Bedeutung gewinnen, wenn es darum geht, die Weltordnung umzugestalten beziehungsweise bei der Geburt einer neuen mitzuhelfen. Ihre Rolle dabei wird noch größer und weitreichender sein als während des Kalten Krieges, als sie trotz ihrer Bedeutung kaum anerkannt wurde. In der Vergangenheit konzentrierten sich die Nationen des Globalen Südens ganz darauf, politische Unabhängigkeit zu erlangen, Armut und Unterentwicklung zu bekämpfen und ihre innere Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese Themen spielen zwar nach wie vor eine wichtige Rolle, aber die Agenda wird sich auf neue Bereiche der Global Governance ausdehnen, zum Beispiel Umwelt, Gesundheit, Migration und Terrorismus. Der Aufstieg des Globalen Südens läutet eine neue Weltordnung ein, die ich als „Multiplexwelt“ bezeichne: dezentralisiert und pluralistisch, mit erweiterten Mitwirkungs- und Handlungsmöglichkeiten.

Ungeachtet der Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten in Bezug auf Größe, politisches System, Wohlstand und militärische Macht besteht der Globale Süden weiter und nimmt eine neue Gestalt an. Ich nenne dies den „Neuen Globalen Süden“: Er ist größer, wirtschaftlich stärker und diplomatisch aktiver denn je. Nachdem er bedeutend zur Umsetzung seiner ursprünglichen Ziele beigetragen hat, die Dekolonisation voranzutreiben, Rassendiskriminierung zu beenden und wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, ist er nun in einer stärkeren Position, um die Weltordnung zu prägen. Zwar mögen manche der ursprünglichen Organisationen der „Dritten Welt“ beziehungsweise des Globalen Südens, wie die Bewegung der Blockfreien Staaten und die Gruppe der 77, ein Zusammenschluss von Staaten des Globalen Südens innerhalb der Vereinten Nationen, heute weniger relevant erscheinen. Dies wird jedoch mehr als wettgemacht durch die wachsende Bedeutung, die diese Nationen in breiter aufgestellten multilateralen Gremien einnehmen, darunter diejenigen des UN-Systems, um ihre Interessen und Ziele zu verfolgen. Zwar sieht sich der Neue Globale Süden mit erheblichen Zwängen konfrontiert, doch indem die Multiplexwelt die Kluft zwischen Nord und Süd beziehungsweise dem Westen und dem Rest der Welt verringert, bietet sie ihm mit ihrer dezentrierten und pluralistischen Struktur mehr Möglichkeiten, Einfluss auf die Neugestaltung der Weltordnung zu nehmen. Das ist siebzig Jahre später der bedeutendste und nachhaltigste Aspekt im Erbe der Bandung-Konferenz von 1955.

Aus dem Englischen von Peter Beyer, Düsseldorf.

ist Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Transnational Challenges and Governance sowie Distinguished Professor an der School of International Service der American University in Washington, D.C., sowie Honorarprofessor an der Rhodes University in Südafrika und Gastprofessor an der Nankai University in China.