In seiner jüngst erschienenen globalen Geschichte der Deutschen in der Welt vom Mittelalter bis heute hebt der britische Historiker David Blackbourn gleich hervor, dass die Bereitschaft zur Vergangenheitsbewältigung ein prägendes Merkmal des heutigen Deutschlands sei und von vielen als "Musterbeispiel" für den Umgang mit dunkler Geschichte angeführt werde.
Bereits 1995 titelte der "Spiegel" mit Bezug auf den 50. Jahrestag des alliierten Sieges über das nationalsozialistische Deutschland: "Bewältigte Vergangenheit". Zehn Jahre später befand Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Kriegsendes ganz in diesem Sinne, dass "Deutschland (…) nicht nur äußerlich ein anderes Land als vor 60 Jahren" sei, sondern dass sich "unser Land (…) von seinem Inneren her verändert" habe.
Wenn ich im Folgenden dieses Selbstbild und die damit einhergehende Selbstzufriedenheit kritisch betrachte, dann verkenne ich nicht, dass die Etablierung und Festigung der Demokratie in Deutschland nicht zuletzt auf der selbstkritischen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen beruhen, die ihr vorausgingen. Erweitert man den Blick aber über die geläufige Rahmenerzählung einer erfolgreichen Umkehr- und Wandlungsgeschichte der Bundesrepublik hinaus, dann geraten Nebenwirkungen und Formveränderungen und nicht zuletzt innere Erosionen in den Blick, die diese Erzählung verdeckt. Letztere gefährden die selbstkritische, aufklärerisch orientierende Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Nachwirkungen des Nationalsozialismus nicht weniger als von außen kommende, eher ins Auge springende Angriffe und Herausforderungen – wie etwa von ganz Rechts oder aus postkolonialen Kontexten. Zudem verschiebt sich derzeit die unausgesprochen in die Umkehr- und Wandlungsgeschichte eingeschriebene zeitliche Verortung der auf Abgrenzung und ein Hinter-sich-Lassen des Nationalsozialismus bezogenen Arbeit am kulturellen Gedächtnis. Ob als "Vergangenheitsbewältigung", als "Aufarbeitung der Vergangenheit" oder schlichtweg nur als "Erinnerungskultur" tituliert, immer verstand sich das damit gemeinte Bemühen als ein Bemühen nach Diktatur und staatlich formierter Unmenschlichkeit. Angesichts der derzeit in Deutschland und weit über Deutschland hinaus beobachtbaren ebenso zielstrebig wie aggressiv und mit modernsten Kommunikationsmitteln betriebenen Aushöhlung und Zerstörung der Demokratie und des Widerhalls, den dieses Vorhaben auch in freien Wahlen findet, steht ernstlich infrage, ob von einem gesicherten "Danach" noch ausgegangen werden kann. Ohne sich auch die der gegenwärtigen Erinnerungskultur selbst innewohnenden Probleme bewusst zu machen, ist es nicht möglich, dem Drohenden adäquat zu begegnen.
Von kritischer Selbstbesinnung zum moralischen Appell
Seit Jahren wird als maßgebliches Problem der "Zukunft der Erinnerung" stereotyp-redundant der Verlust der Zeitzeugen beschworen. Gewiss geht mit den unmittelbar leiblich-seelisch von den deutschen Verbrechen betroffenen Augenzeugen und ihren Berichten unabwendbar eine lebendige und berührende Verbindung zwischen Gestern und Heute verloren, und auch das moralische Gewicht ihres Einspruchs gegen die um sich greifende politische Revitalisierung der Gifte, denen Abermillionen zum Opfer fielen, wird schmerzlich fehlen. Allerdings wirft die mit der Fixierung auf das Ableben der Zeitzeugen einhergehende Einengung des Problembewusstseins auch Licht darauf, wie ausgedünnt mittlerweile die öffentliche Vorstellung von dem ist, was unter einem kritisch-aufklärenden, gegenwartswirksamen, präventiven Rückbezug auf Geschichte und Erfahrung des Nationalsozialismus verstanden wird. Dieser Rückbezug verengt sich auf die Identifikation mit Überlebenden als moral voices,
Das klingt nobel – und ich weiß aus über dreißigjähriger Erfahrung, wie bereichernd, ermutigend und beglückend die Freundschaft mit Überlebenden ist und wie wertvoll die erfahrungsgeschichtlichen Zeugnisse Verfolgter sind, wenn sie als historische Quellen lege artis behandelt werden. Doch die Identifikation mit den Opfern, gar das simple, entlastende Sich-auf-ihre-Seite-Schlagen,
Vor diesem Hintergrund benennt das Beklagen des Verlustes der Zeitzeugen nicht nur einen gravierenden Verlust, sondern es verdeckt gleichzeitig einen elementaren Umbruch und Formwandel der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Dieser besteht darin, dass aus der empirisch gehaltvollen, selbstkritischen Reflexion gegenwärtiger politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit im Licht der historischen Erfahrung – mit Theodor W. Adorno der "Aufarbeitung der Vergangenheit" – ein eher moralpädagogisches Memorialvorhaben geworden ist. Als solches ist es weniger auf die Prüfung der politischen und gesellschaftlichen Verfassung und die ihr zugrunde liegenden Strukturen ausgerichtet, einschließlich der Frage, inwieweit diese gewollt oder ungewollt der Hinwendung zu den politischen Giften der Vergangenheit Vorschub leisten. Im Mittelpunkt steht vielmehr die "Einschulung" der Nachwachsenden in einen vermeintlich ubiquitär erreichten Konsens in Bezug auf das Schlechte in der Vergangenheit und das Gute heute.
Dieser Verschiebung von geschichtsbewusster kritischer Selbstbesinnung hin zum moralischen Appell entspricht eine Rhetorik der Erinnerung, in der "Erinnerung" in erheblichem Maße zu einer scheinbar sich von selbst verstehenden auratischen Formel für gelungene Vergangenheitsbewältigung geworden ist und als probates Mittel für die Bekämpfung von neonazistischen, antidemokratischen Einstellungen, von Antisemitismus, Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gilt. Historische Wahrheit, Aufhebung von Verdrängung, Enttraumatisierung, solidarische Einfühlung in die Opfer, moralische Läuterung und die Bejahung von Demokratie und Menschenrechten werden dem Erinnern sui generis zugeschrieben und sollen mit ihm identisch sein. "Erinnerung" ist damit zu einer Containervokabel geworden, in der – inhaltlich ausgebleicht – (geschichts-)wissenschaftliche, forensische, psychoanalytische, theologische, politische und moralisch-ethische Auffassungen und Zuschreibungen verschwimmen. Ihr wächst so ein Nimbus von Wahrheit, Aufklärung, Einsicht und Läuterung zu – diffus, aber vielversprechend insofern, als "Erinnerung" fraglos als Königsweg zur (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit und für die Demokratie- und Menschenrechtserziehung erscheint.
Angesichts dieser Aufladung bei gleichzeitiger Einschränkung der Aufmerksamkeit für die konkreten Gründe und Rahmenbedingungen des Umkippens von Staat und Gesellschaft in Inhumanität, ist an einen Hinweis Adornos zu erinnern: "Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schieben sie alles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt bleiben."
Erreichtes
Um die der Erinnerungskultur inhärenten Gefährdungen genauer zu verstehen, hilft ein Rückblick auf das Erreichte. Die Geschichte der Aufarbeitung lässt sich dann tatsächlich tendenziell als Erfolgsgeschichte darstellen, wenn man auf die Überwindung des konkreten Nachlebens des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik abhebt. Auch wenn Aufarbeitung Jahre und Jahrzehnte gedauert hat und immer wieder auf zähe und erbitterte Widerstände seitens der Politik und aus der Bevölkerung getroffen ist: Elitenkontinuitäten, Geisteshaltungen, in Kraft belassene NS-Gesetze oder fortgesetzte Formen der Diskriminierung sind zunehmend aufgedeckt und als skandalös und nicht hinnehmbar empfunden und bekämpft worden. Ungeschönte wissenschaftliche Dokumentation und Forschung haben erheblich dazu beigetragen, Selbstbild und Selbstdarstellung des "Dritten Reichs" und deren nachwirkende Attraktivität zu durchkreuzen. Die Bundesrepublik hat sich zur Schuld Deutschlands an Krieg und NS-Verbrechen bekannt, wie auch zu daraus resultierenden ideellen und materiellen Verpflichtungen gegenüber den Opfern. Der Wahrheit und dem Gedenken der Opfer verpflichtete Gedächtnisinstitutionen mit gesellschaftlichem Bildungsauftrag gehören heute zu den Kerninstitutionen der Geschichtskultur in der Bundesrepublik. 2009 hat der Deutsche Bundestag, vertreten durch seinen Präsidenten Norbert Lammert, eine von allen Überlebendenverbänden verfasste Vermächtniserklärung offiziell entgegengenommen und gewürdigt; und 2020 – 75 Jahre nach Kriegsende – hat der Bundestag endlich anerkannt, dass niemand – auch nicht die sogenannten Asozialen und Gewohnheitsverbrecher – zu Recht in Konzentrationslagerhaft war.
Gleichwohl gehört zur Geschichte der Aufarbeitung auch, dass Gerechtigkeit nur als beschädigte Gerechtigkeit hergestellt worden ist. Die meisten Verfolgten haben, wie bereits angesprochen, das Bemühen um Gerechtigkeit nicht mehr erlebt. Zudem werden bis heute mit Aufarbeitung weiterhin verbundene Verpflichtungen verschleppt, wie etwa im Fall der Restitution von Raubkunst oder den von Griechenland begründet eingeforderten Reparationen. Die Gedenkstättenförderkonzeption des Bundes ist 1999 erst über den Umweg der beiden Enquetekommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und den Reformbedarf der von der DDR übernommenen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück entstanden. Zudem lässt sich an die Praxis der Aufarbeitung nicht unmittelbar anknüpfen, um geschichtsbewusste Selbstbesinnung heute zu sichern. Auch wenn Aufarbeitung nicht abgeschlossen ist, ist das Projekt der Überwindung des Nachlebens des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik wesentlich durch seine Einbettung in die Sphäre der Zeitgenossenschaft bestimmt worden. Diejenigen, die in seinem Rahmen aufeinandertrafen, hatten den Nationalsozialismus unmittelbar erlebt, mitgestaltet oder erlitten, waren Kinder, allenfalls Enkel der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, für die das Vergangene keineswegs irgendeine, bereits erkaltete Geschichte war. Mit dem Erfolg der Aufarbeitung und jenseits der Zeitgenossenschaft hat der Nationalsozialismus sein lebensweltlich verankertes Empörungspotenzial jedoch weitgehend verloren; das selbstaffirmative Bild der grundsätzlich geläuterten Nation beruhigt und schläfert das Bewusstsein ein. Das Erinnerungsgebot mit seinen eingeschliffenen Sprachformeln und Ritualen gehört mittlerweile zu den Routinen, an die man sich in Gedenk- wie in Bildungsveranstaltungen durch das Zeigen situativ erwarteten Verhaltens äußerlich anpassen kann – oder die man ganz an sich abperlen lässt.
Die Transformation von Aufarbeitung in "Erinnerung" und deren Überführung in einen nationalen Referenzrahmen mit der Vereinigung 1990 hat an das zivilgesellschaftlich getragene gesellschaftskritische Engagement angeknüpft, aber es auch aufgesaugt und neutralisiert. Der Staat selbst hat sich dadurch zudem – indem er Gedächtnisinstitutionen ermöglicht und unterhält, nationale Gedenktage stiftet und gestaltet, seine Repräsentanten verlautbaren, was das Erinnern für Deutschland bedeutet oder der Bundestag damit verbundene Resolutionen verabschiedet – tendenziell zum Erzieher gemacht. Über den Hang zur Selbstzufriedenheit hinaus hat auch das Folgen, die der inneren Erosion zuarbeiten.
Stereotype Ritualisierung
Am Beispiel der DDR lässt sich die kontraproduktive Seite des affirmativen Nationalgedächtnisses verdeutlichen, wenn es auf zu verantwortende Verbrechensgeschichte bezogen ist. Dort bestimmte der SED-Staat das Geschichtsbild und die Programmatik des Erinnerns maßgeblich. Ziel war es, die fehlende demokratische Legitimation historisch, durch Antifaschismus, auszugleichen. Daraus resultierten Vorgaben, Stereotypisierungen und blinde Flecken, die auch tief in die Gedenkstätten hineinwirkten. Beispielsweise fiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald in den 1980er Jahren auf, dass mehr und mehr Jugendliche Gedenkstättenbesuche äußerlich willig, aber innerlich gleichgültig absolvierten. Eine daraufhin beim Zentralinstitut für Jugendforschung der DDR in Leipzig in Auftrag gegebene, nach dem Fall der DDR zugängliche Studie kam zu dem Ergebnis, dass zwei Gründe dafür von erheblicher Bedeutung waren: die affirmative Konstellation des historischen Gedächtnisses sowie seine stereotype Verschlagwortung und Ritualisierung. Die affirmative Ausrichtung – die DDR sei das neue, bessere, antifaschistische Deutschland – machte den Gedenkstättenbesuch gleichsam sinnlos. Denn anstatt kritische Selbstreflexion und daraus resultierendes Engagement zu stärken, waren nur Zustimmung und Identifikation gefordert. Die geläufigen Floskeln und Rituale erzeugten zusätzlich Langeweile.
Der inneren Erosion hierzulande arbeitet auch die Asymmetrie zwischen den normativen Verlautbarungen staatlich abgefederter Erinnerungskultur und dem konkreten politischen Handeln zu. Es reicht, an die schleichende Drift demokratischer Parteien in diskriminierende Rhetorik und Maßnahmen gegenüber Geflüchteten zu erinnern. Es reicht, sich klarzumachen, wie die AfD durch Anpassung an deren Politik geschlagen werden soll. Es reicht, sich die Abwehr der Wahrnehmung der langen Linie des Rechtsterrorismus, den nachlässigen Umgang mit Rechtsextremismus und Antisemitismus vor Augen zu führen oder die Verharmlosung des "Extremismus der Mitte"
Schließlich ist mit der Transformation von Aufarbeitung in "Erinnerung" und deren kathartischer Aufladung ein Auseinandertreiben von Erinnerung und analytisch erschlossener Geschichte und damit ein Abschmelzen reflexiven Geschichtsbewusstseins verbunden. Spezifik, empirische Konkretion und Komplexität des Historischen, Kontexte, Entwicklungsprozesse, Brüche und Ambivalenzen verschwinden in Chiffren des Bösen: "die Nazis" statt der nationalsozialistischen Deutschen und ihrer Gesellschaft; "die Lager" statt konkreter Gewalt- und Tötungsorte in ihrer Entwicklung, ihrem Funktionswandel, ihrem konkreten Bezug zu Opfergruppen und dem vollstreckenden Personal; der "unvorstellbare Holocaust" als gleichsam ontologische Sammel- und Wesensbezeichnung aller nationalsozialistischer Verbrechen statt einer differenzierten Geschichte von Genese und Entwicklung nationalsozialistischer Radikalisierung und der davon jeweils betroffenen Menschen. Geschichte wird so zur unscharfen Kontrasterzählung vereinfacht, die vorfestgelegte Ziele und Normsetzungen beglaubigen soll. Das Bemühen schmerzhaften historisch-politischen Begreifens und darauf basierender Sach- und Werturteile, Empathie und Erschütterung, die aus tiefem Verstehen erwachsen, werden unterlaufen und der Gegenwartsbezug ausgedünnt auf Schlagworte, Beschwörungen, Identifikationsgebote und oberflächliche Analogien.
Angriffe und Relativierungen
Konkretes historisches Wissen und reflexives Geschichtsbewusstsein sind unverzichtbar für die Sicherung und Stärkung der Kompetenz, sich gegen den Strich bürstend an Geschichte und Erfahrung des Nationalsozialismus in und für die Gegenwart nachhaltig orientieren zu können.
Die AfD verschiebt nicht nur tabubrechend das über den Nationalsozialismus Sagbare und seine Bewertung relativierend nach rechts. Sie radikalisiert auch die Abkopplung von Erinnerung und Geschichte identitätspolitisch, um das historische Gedächtnis der Bundesrepublik völkisch-nationalautoritär umzuformatieren. Historische Wahrheit verbleibt dabei zwar derzeit nominell noch in der Geschichtswissenschaft, "Gedächtnispolitik" aber müsse andere Ziele verfolgen, "nämlich planmäßig ein historisches Narrativ (…) entwerfen, das eine Nation (…) auf eine ganz bestimmte Sinngebung und damit auf eine bestimmte Identität einschwört". Weglassen, Konstruieren, das bewusste Wecken von "diesen und nicht jene[n] Emotionen" sei dabei Pflicht, wie auch, die existierende Gedächtnispolitik abzulösen. Deren Zweck sei es – um "unseren Daseinswillen zu brechen", um "Volkstod" und "Umvolkung" zu legitimieren –, uns einzuprägen, dass Deutschland etwas "Böses" sei und "kein historisches Lebensrecht" habe.
Nicht nur die Relativierung des Nationalsozialismus ist dafür ein Mittel, sondern auch das Umschreiben seiner Geschichte. 2024 hat die AfD dazu zwei Denkmalanträge in den Bundestag eingebracht. Eine "würdige Gedenkstätte" für die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 soll auf dem ehemaligen Flugplatz Rangsdorf in Brandenburg errichtet werden, als "Kontrapunkt" gegen "deutsche Schuld" und in kritischer Auseinandersetzung mit "dem routinierten Betrieb der deutschen Erinnerungskultur".
Attacken aus dem postkolonialen Feld wiederum unterschlagen nicht nur das zähe zivilgesellschaftliche Ringen um die wahrhaftige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Sie eskamotieren auch die Spezifik der Shoah, indem sie diese in eine lange Linie ausbeutenden, kolonialen Rassismus des Westens in Bezug auf den Globalen Süden stellen und – mit den frühen Theoretikern des Antikolonialismus – als dessen Rückschlag auf seine Urheber deuten. Kolonialismus, Nationalsozialismus und Holocaust sind in dieser Sicht Fleisch vom gleichen Fleisch. Der eigentliche Zivilisationsbruch soll der Shoah in Gestalt des Kolonialismus vorausgegangen sein. Durch Holocaust Education globalisiert, diene die Erinnerung an die Shoah dazu, dies zu verdrängen und die Anerkennung der dem Kolonialismus inhärenten Schuld und die daraus resultierenden Verpflichtungen abzuwehren – gestützt durch ein politisch verordnetes, insbesondere in Deutschland geschmiedetes sakralisiertes Singularitätsgebot, das angeblich jeden Vergleich mit anderen Verbrechen und Genoziden verbietet. Unter den Tisch fällt – wie zuvor schon bei den fehlgeleiteten Angriffen von Rechts etwa in Bezug auf die Flucht und Vertreibung von Deutschen gegen und nach Ende des Zweiten Weltkriegs oder hinsichtlich der Gewaltgeschichte des Sowjetkommunismus –, dass Vergleiche zum methodischen Handwerk der Geschichtswissenschaft gehören und dass gerade mit ihrer Hilfe die Präzedenzlosigkeit der Shoah kenntlich wird. Denn sie besteht nicht im Ausmaß der Gewalt oder der Zahl der Opfer, sondern in dem historisch bis dahin nicht vorstellbaren Umstand, dass Menschen allein als Angehörige einer Gruppe – ohne Gnade, arbeitsteilig und unter Einsatz modernster Mittel – getötet wurden, um diese Gruppe, die jüdischen Menschen, vollständig auszutilgen, und zwar ohne jede Rücksicht auf deren Ausbeutbarkeit und die eigene Selbsterhaltung. Die von rücksichtsloser Ausbeutung, mörderischer Gewalt und Rassismus tief gezeichnete Geschichte des westlichen Kolonialismus lässt sich darstellen und aufarbeiten, ohne den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch und dessen Gedächtnis zu relativieren.
Die Unterscheidung von Erinnerung und kritisch-reflexivem Geschichtsbewusstsein ist keine Wortklauberei. Von Rechts werden Geschichtsbilder gezimmert, die sich ohne historisches Wissen über die Genese des Nationalsozialismus, seiner Verwurzelung in den völkischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, seiner Formierung und Durchsetzung in der Demokratie und seiner gesellschaftlichen Basis vor und nach 1933 nicht durchschauen lassen. Die Angriffe von postkolonialer Seite wiederum können in ihrer hochmoralischen, mit Kritik am globalisierten Neoliberalismus verknüpften Aufladung auf den ersten Blick als progressiv missverstanden werden. Vernebelt bleibt, dass beide – einander entgegenkommend – die Shoah relativieren und die kritische Vergangenheitsvergegenwärtigung in der Bundesrepublik denunzieren. Diese gerät jedoch doppelt in Gefahr, wenn das historische Erinnern von kritischem Geschichtsbewusstsein und wirksamer Gesellschaftskritik abgekoppelt wird.