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Geschichte, Erinnerung und Identität

Piotr M.A. Cywiński

/ 14 Minuten zu lesen

Das komplexe Verhältnis von Wissen, Erinnern und Identität stellt Gedenkstätten vor Herausforderungen. Statt vor allem Faktenwissen zu vermitteln oder Gefühle der Empathie zu wecken, muss es stärker darum gehen, grundlegende Fragen an uns selbst zu stellen.

Kurz vor dem 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar wirft die Zukunft der Erinnerung zahlreiche Fragen auf. Diese hängen vor allem mit dem Wissen um die Unvermeidbarkeit des Generationswechsels zusammen, aber in diesen Tagen auch mit der beunruhigenden Beobachtung der internationalen Situation, die mit immer mehr Fragen über die Zukunft Europas verbunden ist. Gleichzeitig wird – dank der Verschiebung eines Teils des öffentlichen Diskurses in die Welt der sozialen Netzwerke und der damit einhergehenden Dezentralisierung – immer deutlicher, dass Erinnerung ein lebendiges Phänomen ist, das nur in geringem Maße von einem Bildungssystem beeinflusst werden kann. Das Wissen über die tragischsten Ereignisse in der Geschichte Europas bietet sicherlich eine Grundlage und ein Fundament – oder, um es anschaulicher zu formulieren, ein gewisses chronologisches und konzeptionelles Gerüst. Dieses Gerüst wird heutzutage jedoch um viele Bestandteile nichtpädagogischen Ursprungs erweitert.

80 Jahre sind ein ausreichender Zeitraum, um die unterschiedlichen Wege und Entwicklungen der Erinnerung an die Shoah und die schreckliche systematische Entmenschlichung der Opfer in den Ghettos und Konzentrationslagern analysieren zu können. Die wichtigsten Faktoren, die diese Wege beeinflusst haben, scheinen mir die folgenden zu sein: die verstreichenden Jahrzehnte, die durch mehrere Phasen des Nachkriegstraumas gekennzeichnet waren; die Unterschiede zwischen den Generationen; die aufeinanderfolgenden politischen Systeme, die diese Erfahrungen in sehr unterschiedliche Narrative einfließen ließen; und die Verwurzelung des historischen Grundwissens über diese Themen in der breiten Öffentlichkeit. Zu diesem Grundwissen haben schulische Lehrpläne zweifellos beigetragen, aber nicht weniger wichtig war sicherlich der Einfluss von Medienbotschaften und -werken der Massenkultur, von Film, Musik und Büchern.

Zunächst muss man jedoch feststellen, dass Erinnerung nicht dasselbe ist wie historisches Wissen. Diese Erkenntnis scheint mir absolut grundlegend zu sein, um die Diskussion vor der häufig positivistischen – und sehr vereinfachenden und insgesamt naiven – Annahme zu bewahren, dass die im Bildungssystem vermittelten Inhalte ein hinreichendes Mittel gegen das Vergessen seien. Historisches Wissen ist eine Sammlung von Fakten aus der Vergangenheit, die idealerweise in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen miteinander verknüpft werden. In unseren Schulen wird dieses Wissen auf eine Art und Weise vermittelt, die nicht weit vom Physik- oder Geografieunterricht entfernt ist. Erinnerung hingegen ist die heutige, rückblickende Betrachtung der Vergangenheit beziehungsweise das heutige Bewusstsein für sie. Dieses Bewusstsein ergibt sich aus der Notwendigkeit, sich Schlüssel zum Verständnis der Herausforderungen der Gegenwart und zur Gestaltung der Zukunft zu erarbeiten. Historisches Wissen löst keine Traumata aus. Mit Erinnerung ist es anders; sie hat dieses Potenzial.

Wissen und Erinnern

In unseren Bildungssystemen werden die Shoah und die Entmenschlichung der Opfer der Konzentrationslager meist nur im Geschichtsunterricht behandelt. Das ist einigermaßen verständlich angesichts der Tatsache, dass in den 1980er und 1990er Jahren selbst an europäischen Universitäten negationistische Thesen verbreitet wurden, die Völkermord und Shoah leugneten. Die Implementierung einzelner Fakten in eine allgemeine historische Chronologie erschwert eine solche Leugnung. Doch die Etablierung von Lerninhalten über Antisemitismus oder die Shoah in Schulbüchern und Lehrplänen blieb bei der historischen Perspektive stehen. Es wurden keine weiteren Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass diese Erinnerung und die damit verbundenen Warnungen für die Gegenwart auch in jenen Bereichen des Unterrichts eine Rolle spielen, die enger mit den aktuellen Herausforderungen und menschlichen Entscheidungen verbunden sind. Ich denke hier zum Beispiel an das Fach Gemeinschaftskunde, an den Gesellschafts- und Politikunterricht, an den Unterricht über Massenmedien, an jene Unterrichtseinheiten, die Aspekte der Kulturanthropologie beinhalten, oder auch an Philosophie, Ethik oder Religion. Vertiefte historische Kenntnisse sind in diesen Bereichen gar nicht unbedingt erforderlich – man kann über Methoden der Brandbekämpfung unterrichten, ohne sich auf den römischen Kaiser Nero zu beziehen. Wir würden uns aber in einer ganz anderen gesellschaftlichen Situation befinden, wenn es in diesen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften natürliche und programmatische Bezüge zur historischen Erinnerung gäbe.

In dieser Dualität von Wissen und Erinnerung – und angesichts der eingangs erwähnten Faktoren, die die Entwicklung der Erinnerung prägen –, lohnt es sich, über Erinnerungsorte als Räume spezifischer, massenhafter Erfahrungen aufeinanderfolgender Generationen nachzudenken. Solche Orte wurden, mit nur wenigen Ausnahmen, nicht unmittelbar nach dem Krieg errichtet. Betrachtet man die Chronologie der Einrichtung von Gedenkstätten an den Orten der nach der Niederlage des Dritten Reiches aufgegebenen Konzentrations- und Vernichtungslager, so stellt man fest, dass die überwiegende Mehrzahl der Gedenkstätten Mitte der 1960er Jahre entstanden ist. Was geschah in jenem Jahrzehnt, das dazu führte, dass das innovative Konzept der Gedenkstätte in vielen Ländern, in verschiedenen politischen Systemen und de facto in beiden Blöcken der damals geteilten Welt mehr oder weniger gleichzeitig seine Anwendung fand?

Nun, zunächst einmal wuchs eine Generation heran, die sich an den Zweiten Weltkrieg nicht mehr aus eigenem Erleben heraus erinnern konnte – eine Generation, deren Lebenserfahrung sich stark von jener der Kriegsgeneration unterschied. Eltern, die durch den Krieg geprägt waren und oft Spuren ihrer eigenen Verwicklung in die Verbrechen des Krieges in sich trugen, waren oft nicht imstande, mit ihren Kindern über den Krieg zu sprechen. Die neue Generation aber war schon durch ihre unterschiedliche Lebenserfahrung anders. Die Angst vor dem Generationswechsel ließ damals die Frage aufkommen, was die Jüngeren überhaupt über den Krieg wissen könnten. Woran werden sie sich erinnern, was werden sie verstehen? Die Gedenkstätten schienen eine Antwort auf diese Angst und das Bedürfnis nach Vermittlung zu sein. Während die Debatte über historisches Wissen darauf hinausläuft, einen bestimmten Kanon von faktischen Tatsachen und Zusammenhängen zu etablieren, wird die Evolution der Erinnerung oft von der Angst der älteren Generation angetrieben, dass sie ihre eigenen Erfahrungen nicht an die nächste Generation wird weitergeben können. Eine ganz ähnliche Angst wirft heute die Frage auf, was geschieht, wenn der letzte Überlebende diese Welt verlassen hat.

Auch die Rolle der Gedenkstätten hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Noch Ende der 1940er Jahre hatte Auschwitz in erster Linie die Funktion eines Friedhofs. Dorthin kamen vor allem Angehörige der Ermordeten, um sich über die Bedingungen der letzten Lebensmomente ihrer Lieben zu informieren, eine Kerze anzuzünden oder einen Blumenstrauß niederzulegen. Mit der Zeit nahm die museale Funktion zu, eine erzählerische Funktion, die darauf abzielte, diese Geschichte all jenen zu vermitteln, die ihr Wissen nicht von den nächsten Angehörigen erhielten. Allmählich wurde auch die Denkmalfunktion wichtiger, was zum Bau der Internationalen Gedenkstätte Birkenau führte – exakt am Ende der 1960er Jahre, als die erste Nachkriegsgeneration heranwuchs. Dies schuf einen natürlichen Raum für politische Formen des Erinnerns und für zunehmend formalisierte Gesten des Gedenkens. Erst mit der Zeit trat die Bildungsfunktion in den Vordergrund, die nach dem Fall des Kommunismus und der Öffnung der Grenzen weltweit zu voller Blüte kam.

Gedenkstätten im Wandel

Doch von Anfang an ist die beschriebene generationelle Unruhe in die Erfahrung jeder Gedenkstätte eingeschrieben. Denn diese Orte leben nicht so sehr vom historischen Wissen, sondern gerade von der Erinnerung. Es ist kein Zufall, dass keine dieser Gedenkstätten unter Mitwirkung oder maßgeblicher Beteiligung irgendeines Bildungsministeriums geschaffen wurde; in den Lehrplänen der Schulen wurde ihre Existenz erst lange nach ihrer Entstehung berücksichtigt. Die Gedenkstätten entstanden in der Regel durch Initiativen der Überlebenden und verschiedener lokaler Gruppen und Vereinigungen und erhielten erst später allmählich die Unterstützung staatlicher Stellen. In ihrer DNA sind sie daher eine Emanation der Generationenangst und der Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Dies sind viel natürlichere, anthropozentrischere und auch unpolitischere Faktoren, als Bildungsprogramme jemals aufweisen können. Aber was genau sind diese Gedenkstätten nun heute?

Das historische Wissen über die Shoah hat in den meisten Ländern des (breit verstandenen) Westens Eingang in die Lehrpläne gefunden. Aber wie gesagt: Das ist nicht dasselbe wie eine Verankerung der Erinnerung. Damit eine solche Verankerung geschieht, müsste die Erinnerung auch in Bildungsbereichen eine Rolle spielen, die viel stärker mit den heutigen menschlichen Entscheidungen zusammenhängen. Da dies aber meist nicht der Fall ist, ist es zur Aufgabe der Gedenkstätten geworden, diese Funktion zu übernehmen. Die Erfahrung eines solchen Ortes für die Person, die ihm begegnet, ist meines Erachtens nur mit einer aus der Religionssoziologie bekannten Kategorie vergleichbar: dem Übergangsritus (Französisch: "rite de passage"). Denn die Hoffnung, die in jeden Besuch gesteckt wird, ist initiatorischer Natur: Man hofft, dass diejenigen, die einen solchen markierten Ort durchqueren, sich der Erinnerung, die in einer konkreten, authentischen Landschaft eingebettet ist, bewusst werden und sich mit ihr auseinandersetzen. Man hofft, dass diese Personen ein wenig verändert, ein wenig anders, sensibler oder sogar bewusster aus dieser Begegnung hervorgehen. Denn dies ist in jeder Kultur, von der archaischsten an, die Hauptfunktion eines Übergangsritus, sei er religiös oder gesellschaftlich.

Die Frage nach der Erinnerung – die, wie wir gesehen haben, von grundlegender Bedeutung für die Entstehung von Gedenkstätten war –, ist also auch Teil der DNA dieser Institutionen. Erinnerung ist definitiv mit den heutigen Urteilen, Entscheidungen und menschlichen Handlungen verbunden. Sie kann sich nicht auf eine empathische Betrachtung der Vergangenheit beschränken, sondern sie ist eine Art Schlüssel für das Heute und für das Morgen. Es ist ein bisschen so wie bei einem Kind: Wenn es sich einmal beim Spielen mit Streichhölzern verbrannt hat, wird es diese in Zukunft meiden, lange bevor eine Geschichtsstunde ihm den Kaiser Nero vor Augen führt. Hier entsteht diese besondere Beziehung zwischen zwei Begriffen, die sehr nahe beieinander liegen und sich sogar ergänzen: Erinnerung und Erfahrung. Und das wirft unvermeidlich eine weitere Frage auf: die nach dem Verhältnis von Erinnerung und Identität.

Identitätsfragen

Verstanden als Schlüssel zum Begreifen der Gegenwart und für Projektionen über die Zukunft – über zukünftige Entwicklungen und über die individuelle und kollektive Verantwortung für diese Zukunft –, sollte Erinnerung ein wichtiger Identitätsfaktor sein. In der jüdischen Welt ist unbestritten, dass die Erfahrung der Shoah zu einem wichtigen Bestandteil der kollektiven Nachkriegsidentität geworden ist. Nicht zuletzt der Terrorangriff der Hamas auf die Zivilbevölkerung in Israel am 7. Oktober 2023 hat dies sehr deutlich gezeigt. Wir müssen jedoch das Gesamtbild betrachten: Die Shoah ist nicht nur ein Drama der Jüdinnen und Juden, sondern, und vielleicht vor allem, ein Problem des gesamten Europas. Denn in der westlichen Welt, in unseren westlichen Demokratien, hat man immer noch den Eindruck, dass – auch wenn das historische Wissen über den Völkermord den Nebel des Relativismus und der Negation durchbrochen hat – weder die Shoah noch die anderen zivilen Dramen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs für viele Europäer (oder auch Amerikaner) ein Identitätsfaktor sind, ein eindeutiger Bezugspunkt bei der Analyse der Zeit, in der wir leben. Die Frage nach der Zukunft der Erinnerung ist eng mit der Frage nach der Zukunft unserer Identität verbunden.

So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass die enormen Anstrengungen der Nachkriegszeit – zur Schaffung eines gemeinschaftlichen Europas, zur Entwicklung einer auf Dialog basierenden Haltung, zur Bekämpfung von Hass und Fremdenfeindlichkeit, zum Ausbau des Völkerrechts, zur Entwicklung eines Konzepts zur Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des Völkermords, zur Schaffung einer Organisation für globale Sicherheit und Gerechtigkeit – heute zunehmend infrage gestellt und von den nachfolgenden Generationen immer weniger verstanden werden. Dass im Zeitalter der Medienrevolutionen und des aufsteigenden Populismus auch antisemitische, extremistische und fremdenfeindliche Narrative wieder auf dem Vormarsch sind, die häufig mit hasserfüllter Sprache verbreitet werden, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Werte, auf denen die Nachkriegszeit aufbaute, auf einem Boden entstanden sind, der nicht als fester Bestandteil unserer heutigen Identität verstanden wird – einer Identität, die sich über Generationen hinweg entwickelt.

Das heutige Europa kann nicht objektiv verstanden werden, ohne sich des Dramas der zivilen Opfer des Zweiten Weltkriegs – der Juden, aber nicht nur der Juden – grundlegend bewusst zu werden. Die gesamten Nachkriegsbemühungen um Versöhnung, Humanismus, Dialog und die Suche nach Wegen der Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit sollten einen Kontrapunkt setzen zu dem ungeheuren Ausmaß an Entmenschlichung und Zerstörung, das vom nationalsozialistischen Deutschland in Gang gesetzt wurde. Genau hier zeigt sich die Kluft zwischen historischem Wissen und Erinnern sehr deutlich: Denn natürlich kann man bis ins Detail wissen, was geschehen ist – und trotzdem kann der Einfluss der Vergangenheit auf die eigene Einschätzung sowohl der Welt als auch der eigenen Herausforderungen und Leistungen, Haltungen und Entscheidungen mehr und mehr abnehmen.

Vor diesem Hintergrund kommt erinnerungspolitischen Gesten eine wichtige Rolle zu – insbesondere in einer Zeit, in der die Mächtigen wieder von ideologisch motivierten Gruppen umworben werden, die den Vorrang der Demokratie, der Menschenrechte oder der individuellen Grundfreiheiten bestreiten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Erinnerung vereinnahmt oder politisiert werden sollte. Dies wäre nicht nur unklug oder moralisch verwerflich, es wäre vor allem ineffektiv. Ein erinnerungspolitischer Akt kann sich nur vor dieser Erinnerung verbeugen, wenn er von einem breiteren Publikum als mit der eigenen Erfahrung übereinstimmend verstanden werden kann. In jeder Kulthandlung – und dazu gehört auch eine politische Geste an einem Denkmal oder einem authentischen Ort des Verbrechens – gibt es Dinge, die gesagt, Dinge, die getan, und Dinge, die gezeigt werden. Politisch Handelnde müssen jedoch wissen, dass dies auch bedeutet, dass es Dinge gibt, die nicht gesagt, nicht getan und nicht gezeigt werden. Es ist eine Sache, sich vor der Erinnerung zu verneigen – und eine ganz andere, Erinnerung als Tribüne zu instrumentalisieren. Letzteres ist eine Misshandlung der Opfer und wird immer als widersprüchlich zur Erinnerung, zur Erfahrung oder sogar zur Identität der Zuschauenden empfunden werden.

Dabei ist auch zu bedenken, dass der beschriebene Übergangsritus immer eine persönliche Erfahrung ist. Diese Erfahrung ist sehr viel stärker als die intellektuelle Akzeptanz einer politischen These, die zum Beispiel in einer Rede vorgetragen wird. Jeder, der durch Auschwitz gegangen ist, erinnert sich an die Berge von Schuhen oder Koffern und an den Schornsteinwald hinter den Baracken in Birkenau. Und er erinnert sich an seine eigenen Emotionen, manchmal sogar an ein bedrohliches Gefühl der Hilflosigkeit.

Manchmal werde ich gefragt, ob die Gedenkstätte in Auschwitz im Versöhnungsprozess eine Rolle spielt. Meine Antwort, mit einer großen Portion Skepsis vorgetragen, lautet: ja und nein. Ja, wenn sie den Menschen zu verstehen hilft, dass die Erfahrung des eigenen Übergangsritus ein Identitätsfaktor sein kann, auf dessen Grundlage wir die Notwendigkeit und den Wert von Gemeinschaft erkennen. Nein, wenn der Versöhnungsprozess ausschließlich auf einem programmatischen, pädagogischen oder erzieherischen Automatismus beruht. Denn es ist die menschliche Erfahrung der Erinnerung, die das Wesentliche des eigenen, individuellen Übergangsritus und seiner Folgen ausmacht. Letztlich geht jeder, selbst in der Menge der Besucher, in seiner eigenen Einsamkeit durch Auschwitz. In ihr wird er oder sie nicht so sehr mit der Welt, sondern vielmehr mit sich selbst konfrontiert. Kann daraus irgendeine gemeinschaftliche Botschaft entstehen?

In der Tat muss die europäische Identität von uns heutigen Europäern besser verstanden werden. Aber dazu müssen wir unsere Wurzeln besser verstehen, die in der Erinnerung verankert sind. Anders gesagt: Erinnerung sollte nicht nur durch das Prisma des historischen Wissens gesehen, sondern in einem viel tieferen Sinne mit der Gegenwart und der eigenen Identität verwoben werden. Für die Erinnerung selbst ist dies heilsam, da sich Identitäten viel langsamer entwickeln als wechselnde politische Narrative. Für die Identität wiederum kann auch Erinnerung eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, ihre gemeinschaftsbildende Multidimensionalität zu vereinen, um sich so – ohne die Besonderheiten der kulturellen Unterschiede zu verwischen – gemeinsam den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen.

Wenn Erinnerung eine Chance haben soll, ihren Platz in unserer Identität zu finden, muss sie zweifelsohne entpolitisiert werden. Dies ist eine Conditio sine qua non. Denn Erinnerung, wie auch immer man sie betrachtet, ist immer polyphon. Jede Gemeinschaft, jede Kultur, jede Generation entwickelt in gewisser Weise ihre eigene Erinnerung. Sie hat ihr eigenes, unbestreitbares Recht darauf. Sie hat ihre eigenen Bezugspunkte, ihre eigenen kulturellen und sprachlichen Codes, und sie kämpft mit den Herausforderungen ihrer eigenen Gruppe oder, genauer gesagt, ihrer Generation. Voraussetzung für eine gut verstandene Polyphonie ist aber ihre Übereinstimmung mit den historischen Fakten. Ein zugespitztes Beispiel für eine schwierige, aber vielstimmige Erinnerung ist die angesprochene Situation an der Generationenschwelle, als die erste Nachkriegsgeneration erwachsen wurde: Die Veteranen der Landung in der Normandie hatten keine gemeinsame Erinnerungssprache mit ihren Kindern, die nach Woodstock fuhren. Aber beide waren durch Friedensideale motiviert, auch wenn diese in der Zeit des Vietnamkriegs auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kamen.

Nun sollte man nicht denken, dass Erinnerung analog zum Staffelstab bei einem Staffellauf als Ganze weitergegeben werden kann. Man kann nur dabei helfen und unterstützen, dass sie in der anderen Person, in der Gemeinschaft, in der nächsten Generation aufkeimt. Fragen können und sollten aufgeworfen werden, aber es sind die Empfänger, individuell oder kollektiv, die versuchen müssen, ihre eigenen Antworten zu finden. Wenn Politik den Erinnerungsdiskurs vereinnahmt, indem sie nur eine einzige Erzählung vorschlägt, die notwendigerweise eng gefasst ist und ideologisch meist mit den aktuellen Bedürfnissen einer Partei übereinstimmt, macht sie es unmöglich, ein Identitätselement jenseits der Grenzen ihrer Kernwählerschaft aufzubauen. Diese bizarre Vorliebe mancher politischer Akteure, sich vor allem zu Geschichte und Erinnerung zu äußern, andere relevante Wissensbereiche und Themengebiete aber zu vernachlässigen, kommt überall und ständig zum Vorschein.

Da Erinnerung eine Quasi-Erfahrungsform ist und durchaus identitätsstiftende Kraft besitzt, muss zur Vervollständigung des Bildes noch auf das Verhältnis von Erinnerung und Verantwortung hingewiesen werden: Das Merkmal der Erinnerung, das sie so sehr von jeder anderen Form des historischen Wissens unterscheidet, ist ihre Intentionalität im Raum der Verantwortung. Nur wer Erinnerung lebt, kann verantwortlich sein. Für Gedenkstätten bedeutet dieses Verhältnis noch immer eine gewisse Herausforderung. Zu sehr war und ist man darum bemüht, Faktenwissen zu vermitteln und ein nobles Gefühl der Empathie zu wecken – und noch zu wenig darum, grundlegende Fragen über uns selbst einzubetten. Reife Erinnerung ist eine Frage in Bezug auf mich selbst, meine Urteile, meine Haltungen und meine Lebensentscheidungen. Die Erinnerung gehört so lange mir und ist so lange lebendig, wie sie eine Quelle meiner eigenen moralischen Bedenken bleibt und sich auf meine Lebensentscheidungen überträgt. Nur dann kann man davon ausgehen, dass die Erfahrung des Eintauchens in einen Erinnerungsort zu einem wirklichen Übergangsritus werden kann.

Perspektiven

Die so skizzierten Aufgaben und Perspektiven der Gedenkstätten fordern uns auf, uns auf das Wesentliche dieser Einrichtungen mit ihrer ganz besonderen Rolle und Bestimmung zu besinnen. Haben Gedenkstätten heute die Chance, Erinnerung mit Erfahrung, Identität und Verantwortung zu verbinden? Ich glaube schon. Denn in ihrer DNA, in den Grundlagen der Entstehung, Entwicklung und Arbeit dieser Einrichtungen sind fünf Prinzipien untrennbar festgeschrieben: die ständige Beobachtung des Zeit- und Generationenwandels; die besondere Beachtung der Nicht-Politisierung; die Nähe zu den Sensibilitäten der Zivilgesellschaft; die Anerkennung der natürlichen Polyphonie der Erinnerung; und auch die Arbeit zur Förderung der Reflexion über die eigenen moralischen Sorgen.

Vielen mag dies in der heutigen Zeit und angesichts der Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen, nicht ausreichend erscheinen. Das mag sein. Aber es gibt keine goldenen, wundersamen oder gar magischen Lösungen für Identitätsfragen. Was vielleicht eine nachhaltige Rolle spielen kann, ist die skizzierte Einbindung der Erinnerung in die Identität beziehungsweise der Aufbau von Identität auf Basis von Erinnerung. Erst dann werden wir in der Lage sein, nicht über die Aussicht auf kommende Etats oder Änderungen in den Lehrplänen zu sprechen, sondern wirklich ein Gespräch über die Beständigkeit grundlegender Werte über ganze Generationen hinweg zu beginnen. Identität währt länger als jeder Lehrplan und jedes politische Programm.

Aus dem Polnischen von Karolina Golimowska, Berlin

ist promovierter Historiker, Mitbegründer und Präsident der Stiftung Auschwitz-Birkenau und seit 2006 Direktor der Gedenkstätte und des Museums Auschwitz-Birkenau.