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Genderspezifische Perspektiven auf sexualisierte Gewalt | Auschwitz | bpb.de

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Genderspezifische Perspektiven auf sexualisierte Gewalt Das Beispiel des Sonderkommandos in Auschwitz

Christin Zühlke

/ 16 Minuten zu lesen

Die jiddischen Zeitzeugnisse bieten einen Einblick in die Dynamik zwischen weiblichen Gefangenen und männlichen Mitgliedern des Sonderkommandos in Auschwitz. Exemplarisch zeigt sich ein komplexes Verhältnis von genderspezifischer Gewalt und jüdischen Männlichkeitsidealen.

Die jiddischen Zeitzeugnisse des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau (im Folgenden SK) sind ein frühes Zeugnis des Massenmordes an den Juden bereits aus der Zeit des Holocaust. Sie wurden 1943 und 1944 von den polnisch-jüdischen Gefangenen Zalmen Gradovski, Leyb Langfus und Zalmen Levental heimlich verfasst, in Glas- und Metallbehältern in den Krematorienarealen vergraben und als "Megiles Oyshvits" in den 1970er Jahren vom polnisch-jüdischen Historiker Ber Mark veröffentlicht. Sechs der neun nach dem Krieg entdeckten Manuskripte wurden auf Jiddisch, die anderen auf Französisch und Griechisch verfasst. Diese Augenzeugenberichte konzentrieren sich auf die Erfahrungen der SK-Gefangenen und ihre Eindrücke von den jüdischen Gefangenen und Deportierten, deren letzte Momente sie miterleben mussten. Sie können als subjektive, jüdische Perspektive und Dokumentation der nationalsozialistischen Gräueltaten gelesen werden.

Die Zeugnisse des SK sind nicht nur Teil eines multilingualen Korpus der Holocaustliteratur, sondern auch des mehrsprachigen SK-Kanons, zu dem unter anderem auch die Aufzeichnungen des slowakischen Überlebenden Filip Müller gehören. Erst in jüngster Zeit sind Forschende über eine historische Betrachtung dieser Texte hinausgegangen. Die Bedeutung des Jiddischen als Zugang zur jüdischen Perspektive der Opfer wird jedoch immer noch häufig vernachlässigt – was zeigt, wie erfolgreich die Täter bei der Ermordung der Jiddisch Sprechenden und der Auslöschung der jiddischen Welt waren. Jiddisch war die Alltagssprache vieler aschkenasischer Juden; die jiddische Kultur liefert den Kontext, um die jüdischen Perspektiven und Erfahrungen zu verstehen.

Die Sonderkommandos waren von 1942 bis 1945 Teil des Zwangsarbeitssystems in Auschwitz. Etwa 2100 Gefangene wurden während dieser Zeit in den verschiedenen SKs zur Arbeit gezwungen, nur etwa 100 überlebten. Zu ihren Aufgaben in den Gaskammern und Krematorien gehörte es, bei der Entkleidung von Gefangenen und Deportierten zu helfen, Leichen zu den Verbrennungsöfen zu schleppen und Goldzähne zu ziehen. Während der Deportation der ungarischen Juden im Mai/Juni 1944 wuchs das SK auf etwa 900 Mitglieder an, seine größte Zahl. Die SK-Mitglieder waren unmittelbare Augenzeugen des Massenmords.

Der Verfasser der im Folgenden analysierten Textstellen, Leyb Langfus, wurde 1910 in Warschau geboren; er wurde Rabbiner in Maków Mazowiecki, als sein Vorgänger nach Warschau floh. Am 6. Oktober 1942 wurde er mit seiner Frau Dvoyre und seinem Sohn Shmuel nach Auschwitz deportiert, beide wurden höchstwahrscheinlich gleich bei ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Langfus bemühte sich auch während seiner Arbeit im SK, die jüdischen Gebote, die Mitzwot, so gut wie möglich zu erfüllen. Andere SK-Gefangene konsultierten ihn, da er als religiöse Autorität galt. Er war einer der Anführer des gescheiterten Aufstands des SK vom 7. Oktober 1944; vermutlich wurde er am 26. November 1944 getötet, dem Datum des letzten Eintrags in seinen Aufzeichnungen.

"Di 3000 Nakete" – Demütigung und Brutalität gegen jüdische Frauen

Um die sexualisierte Gewalt gegen weibliche Gefangene und die Bandbreite der emotionalen Reaktionen der SK-Mitglieder auf ihre tägliche Arbeit zu veranschaulichen, werde ich im Folgenden Langfus’ Beschreibung "Di 3000 Nakete" ("Die 3000 Nackten") näher betrachten, in der über einen Vorfall Anfang 1944 berichtet wird: Vor dem Krematorium 2 werden von einem Fahrzeug nackte, weibliche, jüdische Gefangene entladen, als wären sie bloße Objekte und keine Menschen. Manche Frauen werden durch das Gewicht der auf sie fallenden Personen erstickt. Andere sind so erschöpft, dass sie übereinander liegen und nicht mehr stehen können. Wieder anderen hat der Aufprall auf den Boden ihre Körper zerquetscht. Diejenigen, die sich noch bewegen können, schleppen sich in den Bunker, die anderen werden vom herbeigeeilten SK getragen. Die Mitglieder des SK helfen den Frauen, die sich nicht selbstständig bewegen können, indem sie sie schnell und vorsichtig hineintragen, so Langfus in seinen Aufzeichnungen. Als diese Frauen in den Entkleidungsraum gebracht werden, ahnen sie, dass sie bald durch Gas ermordet werden.

Dennoch kümmert sich das SK um sie. Die Gefangenen bringen einen Koksofen in den Entkleidungsraum, damit sich die Frauen aufwärmen können. Die meisten Frauen sind zu sehr in Gedanken versunken, zu traurig oder haben bereits aufgegeben, um sich in die Nähe des Ofens zu begeben. Einige schweigen, andere reden miteinander. Eine Frau erzählt, dass sie im Sommer aus Będzin deportiert wurde. Trotz des Hungers und der Zwangsarbeit ist sie gesund, weshalb sie hofft, überleben zu können. Acht Tage vor dem beschriebenen Ereignis wurde es Frauen aus mehreren Blocks verboten, im Freien zu arbeiten. Sie mussten sich in Block 25 vollständig ausziehen, alle wurden nackt und ohne Essen und Wasser eingesperrt, aufgeteilt auf drei Blöcke mit je 1.000 Menschen. In der Nacht des dritten Tages wurde Brot in die Blöcke geworfen, ein etwa 1,4 Kilogramm schweres Brot für 16 Personen. Die Schwachen wurden in den Krankenbau gebracht, die übrigen erhielten normale Lagerkost und durften sich ausruhen. Die Frau aus Będzin beschreibt die Situation so: "Wenn sie uns in jenem Moment erschossen oder vergast hätten, wäre schon alles gut gewesen. Viele wurden ohnmächtig, viele andere fielen ins Koma. (…) Der Tod hat uns nicht abgeschreckt." Drei Tage später, am achten Tag, müssen sich die Frauen erneut ausziehen und mehrere Stunden lang nackt und frierend draußen stehen, da der Block wieder verschlossen wird. Später werden sie auf die Wagen verladen und zum Krematorium gebracht.

Sexualisierte Gewalt in den Lagern

"Sexualisierte Gewalt" umfasst alle Gewalthandlungen, die sich gegen die intimsten Bereiche einer Person und damit gegen ihre körperliche, emotionale und geistige Integrität richten. Wenn von sexualisierter Gewalt die Rede ist, denken viele zuerst an Vergewaltigungen, doch ist sehr viel mehr davon umfasst. Ihr Spektrum reicht von körperlichen, sexuellen Übergriffen bis hin zu emotional belastenden Erfahrungen wie erzwungener Nacktheit oder körperlichen Eingriffen wie Zwangssterilisationen. Es geht dabei nicht per se um sexuelle Handlungen, sondern um Machtdemonstrationen mit sexuellem Aspekt, zum Beispiel um Demütigungen.

In den NS-Lagern mussten sich alle Insassen nackt ausziehen, Frauen wie Männer. Diese Erfahrung machten alle Deportierten oder Gefangenen, aber nicht alle erlebten sexualisierte Gewalt in gleichem Maße. Der Zeitzeugenbericht "Di 3000 Nakete" verdeutlicht, dass die Täter beabsichtigten, gezielt Frauen seelisch, körperlich und geistig zu zerstören. Sexualisierte Gewalt ist hier insofern eine stark genderspezifische Erfahrung – der besondere Missbrauch beruht auf dem Gender des Opfers. Die Erniedrigung und Entmenschlichung der Opfer war ein wesentliches Element des KZ-Systems: Sexualisierte Gewalt zeigte die Macht der Täter und verstärkte ihre Männlichkeit. Die "culture of cruelty" und die NS-Ideologie der Täter "normalisierten" jegliche Gewalt gegen den Feind, insbesondere gegen Juden und Jüdinnen. Der Holocaust schuf eine "Situation der unbegrenzten Macht" und Möglichkeiten zur Ausübung von Gewalt, die in den gesamten besetzten und annektierten Gebieten an der Tagesordnung waren.

Die Nacktheit der Frauen in "Di 3000 Nakete" ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Sie zeigt nicht nur den Akt der forcierten Entkleidung der Jüdinnen als Wegfall einer physischen, schützenden Barriere, sondern die Kleidung steht auch für ihre Identität und ihr Leben vor Auschwitz. Das Fehlen der Kleidung bedeutet einen Verlust ihrer Individualität. Für diejenigen, die in den Gaskammern umgebracht werden sollten, war es der letzte Schritt vor dem Tod. Für die neuen Gefangenen bedeutete es den Eintritt in die Welt von Auschwitz. Männer wie Frauen empfanden diese Erfahrung als unangenehm und demütigend. Frauen waren aber häufig zusätzlichen seelischen und körperlichen Misshandlungen ausgesetzt. So wurden sie gezwungen, sich vor dem anderen Geschlecht nackt auszuziehen, was ihre Entmenschlichung und Demütigung noch verstärkte. Die Frauen betraten die Gaskammer "mit Gefühlen der Verletzung, die sehr bald durch die Schrecken des bevorstehenden und qualvollen Todes ersetzt wurden".

Langfus beschreibt das Erlebte nicht nur detailliert, um die Gräueltaten der Täter zu belegen, sondern er möchte dem Lesenden auch einen Einblick in die emotionale und psychologische Dynamik zwischen den Frauen und den Mitgliedern des SKs und deren genderspezifischen Interaktionen geben. Tatsächlich werden solche Vorfälle in den Zeitzeugnissen verschiedener SK-Gefangener angesprochen. Sie belegen, dass die Erniedrigung und Brutalität gegenüber Frauen als besonders schockierend und aufzeichnungswürdig empfunden wurden. Auch in anderen Passagen, mit weniger Worten und ohne Details, vermitteln die SK-Autoren, wie traumatisch es war, Zeugen dieser Gewalttaten zu sein. So beschreibt Langfus zum Beispiel, wie junge Frauen von deutschen SS-Männern sexuell missbraucht werden, kurz bevor sie in die Gaskammer gehen. Indem er über dieses Ereignis in einem einfachen, dokumentarischen Stil berichtet (im Gegensatz zu seinem üblichen Schreibstil), zeigt er Sensibilität für die Situation der Frauen. Während es sich bei dieser Passage um eine kurze, prägnante Beschreibung sexualisierter Gewalt handelt, schildert "Di 3000 Nakete" das langanhaltende Leid der Frauen ausführlich und emotional.

Die Aufzeichnungen von Langfus zeigen unterschiedliche Facetten sexualisierter Gewalt. Obwohl sexualisierte Gewalt während des Holocaust weit verbreitet war, ist es schwierig, diese Verbrechen zu quantifizieren, da die Überlebenden nur ungern über diesen Aspekt ihrer Erfahrungen sprechen. Zudem spielte der männliche Blick bei der Wahrnehmung der weiblichen Deportierten und Gefangenen eine Rolle. Dennoch fehlen in den SK-Zeitzeugnissen spezifisch männliche Erfahrungen – etwa solche, die sich auf sexuelle Handlungen zwischen Männern beziehen (sowohl erzwungene als auch freiwillige). Sexuelle Übergriffe gegen Männer und Jungen waren wahrscheinlich ebenfalls an der Tagesordnung (wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie gegen Frauen), doch sind sie weniger gut erforscht und dokumentiert. Da sie von Geschlechternormen und -erwartungen abweicht, wurde die Gewalt an Männern zwar registriert, aber skandalisiert. Bei der Analyse muss folglich die Rolle von Männlichkeit und das Stigma der Homosexualität bei sexuellen Übergriffen auf Männer berücksichtigt werden, da Hilflosigkeit und "Entmannung" in männlichen Zeitzeugnissen generell selten artikuliert werden.

Jüdische Männlichkeitsvorstellungen in extremis

Da alle SK-Mitglieder männlich waren, sind die SK-Zeugnisse aus der Position des männlichen Blicks geschrieben. Langfus beschreibt eine Gruppe von Frauen, die mit gesenkten Köpfen in der Nähe saßen und "mit tiefem Ekel auf die niederträchtige Welt und besonders auf uns" blickten. Eine ähnliche Reaktion auf das SK dokumentiert er im Winter 1943: Ein junges Mädchen, das gerade zusammen mit seinem kleinen Bruder und ohne Eltern ins Lager gebracht wurde, steht im Entkleidungsraum. Als ein SK-Gefangener ihrem Bruder beim Ausziehen helfen will, sagt sie zu ihm: "Weg [mit dir], du jüdischer Mörder! Lege deine mit Judenblut beschmierte Hand nicht an meinen schönen Bruder." Die geschilderte Szene kann als Versuch des SK interpretiert werden, die eigenen Schuldgefühle zu verarbeiten. Sie gibt uns aber auch Aufschluss darüber, wie die SK-Mitglieder zumindest von einigen der anderen Opfer wahrgenommen wurden: als Täter, die ihr eigenes Volk umbrachten. In einer anderen Passage fragt jemand ein SK-Mitglied, warum er diese abscheuliche Arbeit mache. Diese Beispiele zeigen, dass das SK bei den Deportierten auf Skepsis, Vorwürfe des Verrats und Abscheu stieß. Die Ambivalenz der Rolle des SK war offensichtlich – und wurde bereits während des Holocaust thematisiert, auch von den Mitgliedern selbst.

Andere Gefangene waren dankbar für die Bemühungen des SK. Einige der weiblichen Gefangenen fühlten sich getröstet, wenn sie eine Träne des Mitgefühls oder einen Hauch von Traurigkeit auf dem Gesicht desjenigen sahen, der sie die Treppe hinunterführte. Eine andere Frau drehte ihren Kopf zur Seite und weinte leise. Die Reaktionen der Frauen zeigen, dass sie sich der Dynamik des Blicks bewusst waren, etwa wenn die Gefangenen einander ansahen, oft vermeintlich ohne Gefühle oder gar Mitgefühl. Die Zeugenschaft geht also über das bloße Sammeln von Fakten und das Aufschreiben von Ereignissen hinaus. Sie enthält eine neue Dimension der emotionalen Beteiligung: die Trauer um das Leiden des Opfers. Mit Empathie und sichtbaren Emotionen wollte das SK den Frauen zeigen, dass sich jemand um sie kümmert und sie als menschliche Wesen sieht, die mit Respekt und Würde behandelt werden sollten.

Für Außenstehende lässt sich die Reaktion des SK indirekt anhand der Darstellung der Frauen nachvollziehen. Langfus beschreibt, wie sich die SK-Mitglieder verhielten: "Einer stand auf der Seite und beobachtete das abgrundtiefe Elend dieser schutzlosen, gequälten Seelen. Er konnte sich nicht beherrschen und brach in Tränen aus." Dieser Vorfall ereignete sich Anfang 1944; manche der Gefangenen leisteten zu diesem Zeitpunkt schon Monate, wenn nicht sogar Jahre Zwangsarbeit im SK. Obwohl sie die Grausamkeiten der Täter gegen Gefangene und Deportierte täglich miterlebten, zeigt die Schilderung, dass nicht alle abgestumpft und gefühllos gegenüber der Gewalt waren. Eine der Frauen ruft aus, dass sie froh sei, dass jemand Mitgefühl zeigt und Tränen über ihr Leiden vergießt.

Um inmitten des Massenmordes überleben zu können, mussten die Mitglieder des SK als emotionslos, stark und männlich genug wahrgenommen werden, um die Zwangsarbeit fortsetzen zu können. Langfus beschreibt die Situation des SK so, als "ob man gegenüber den schlimmsten Schrecken stumpf und versteinert [ist], als ob jedes menschliche Gefühl stirbt". Die Beschreibung der weinenden Männer zeigt dem Lesenden jedoch, dass das SK nicht völlig betäubt war, obwohl die SK-Gefangenen einen Zustand emotionaler Distanz und Gefühllosigkeit erreicht hatten, wie Langfus schreibt. Zudem schildert er, dass er den Entkleidungsraum immer dann verließ, wenn die Gefangenen oder Deportierten in die Gaskammer getrieben wurden. Er konnte den Anblick nicht ertragen. Diese Passagen belegen, dass die SK-Mitglieder durchaus ihre Gefühle zum Ausdruck brachten, abhängig von der jeweiligen Situation. Die SK-Mitglieder waren keineswegs völlig emotionslos, auch wenn es angesichts der Erwartungen hinsichtlich der Männlichkeitsnormen so erscheinen musste.

Die tägliche Zwangsarbeit der SK-Gefangenen inmitten des nationalsozialistischen Massenmordes hat die Mitglieder der Gruppe psychologisch geprägt. Das SK erlebte den Druck, emotionslos sein zu müssen, um männlich zu wirken, während es zugleich mit extrem negativen Gefühlen wie Scham, Schuld, Trauer und Wut umgehen musste. Wie die Analyse von "Di 3000 Nakete" zeigt, brachte das SK seine Emotionen durchaus zum Ausdruck, aber dies vor allem im sicheren Raum der Gruppe und in ihren Zeitzeugnissen. Dabei ist es wichtig, die Erfahrungen und Reaktionen jüdischer Männer – aber auch die Machtdynamik, mit der sie umgehen mussten –, sichtbar zu machen. Sie als bloße Opfer zu betrachten, negiert ihre Handlungsfähigkeit. Zugleich verweist die nähere Betrachtung der SK-Erfahrungen in Auschwitz auf die allgemeine Situation jüdischer Männer während des Holocaust: Die jüdische Identität war auch unter extremsten Bedingungen nach wie vor von Geschlecht, Klasse, Nationalität und Religion geprägt. Die Untersuchung dieser komplexen Rollenverteilung ermöglicht uns ein besseres Verständnis der Opfer und ihrer jüdischen Identität, aber auch der Funktion von Gender bei der Bewältigung traumatischer Erfahrungen.

Wenn wir mit solchen Zeitzeugnissen arbeiten, muss auch die Beziehung zwischen männlichen Genderrollen und unterdrückten Gefühlen Berücksichtigung finden. Die genderspezifische, männliche Perspektive ist ein bisher unbeachteter Aspekt der Gender and Holocaust Studies, da wir meist dazu neigen, "die Geschichte jüdischer Männer als jüdische Geschichte, die Geschichte jüdischer Frauen aber als Geschichte von Frauen zu betrachten". Mithilfe von Genderaspekten könnte diese Perspektive infrage gestellt und die "Besonderheiten geschlechtsspezifischer Verletzungen" anerkannt werden.

"Männlichkeit" ist ein wechselseitiger Prozess, der durch die Machtdynamik zwischen Gesellschaft und Individuum geprägt wird. Obwohl die Geschlechterrollen sozial konstruiert sind, sind sie eng damit verknüpft, wie Menschen Probleme verstehen und darauf reagieren. Da Männlichkeit als normativ, als "maßstabgebend", angesehen wird, wird sie nicht hervorgehoben oder überhaupt als präsent wahrgenommen. Dies könnte erklären, warum zum Beispiel sexualisierte Gewalt gegen Männer in den Zeitzeugnissen nicht erwähnt oder diskutiert wird. Idealisierte jüdische Männlichkeitsideale – wie das in der jüdischen Tradition verwurzelte Bild des "frommen Shtetl Juden" oder die Idee des "Muskeljuden", aber auch das christlich-heteronormative Männlichkeitsideal –, beeinflussten jüdische Männer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als die polnisch-jüdischen SK-Mitglieder sozialisiert wurden. Diese Vorstellungen spielten auch während des Holocaust weiterhin eine Rolle, wenn auch unbewusst.

Langfus betont zudem seine Position als unfreiwilliger Teilnehmer neben den deutschen Tätern. Er verweist auf die Gewalt gegen die Opfer, während er sich als Beobachter gleichzeitig von dem Beobachteten distanziert. Sein männlicher Blick drückt sich in der Sprache aus, mit der die Frauen dargestellt werden. Langfus ist vorsichtig mit der Verwendung von Details, trotzdem ist sein Schreiben ambivalent, wenn er die weiblichen Opfer beispielsweise als "junge, schöne Mädchen" charakterisiert. Möglicherweise wollte er wiedergeben, warum die Täter ausgerechnet diese Frauen auswählten, vielleicht wollte er auch die Perspektive des SK abbilden. Es deutet jedenfalls vieles darauf hin, dass das SK die weiblichen jüdischen Opfer zumindest bis zu einem gewissen Grad durch den männlichen Blick wahrnahm.

Das Zeitzeugnis "Di 3000 Nakete" zeigt die Dynamik zwischen den weiblichen Gefangenen und dem männlichen SK. Beide waren in ihrem Opfersein vereint, doch wurden ihnen entgegengesetzte Rollen zugewiesen: die des un(frei)willigen Beobachters und Voyeurs und die des passiven Beobachtungsobjekts und Opfers. Langfus’ Beschreibung geht jedoch über die passive Beobachtung hinaus. Seine Aufzeichnungen werden zu einer aktiven Zeugenaussage, indem er nicht nur Fakten liefert, sondern auch die Reaktionen und Emotionen der einbezogenen Opfergruppen beschreibt. Er und die anderen SK-Mitglieder entschieden sich bewusst, nicht wegzuschauen, sondern genau zu beobachten. Als die Frauen zur Ermordung in die Gaskammer geführt werden, entscheidet sich Langfus bewusst, dieses Mal nicht zuzusehen.

Ausblick

Die jiddischen SK-Zeugnisse sind ein bemerkenswertes Beispiel für eine genderspezifische Perspektive auf Gräueltaten, Opferschaft und den Akt des Bezeugens. Bei der Betrachtung der Dynamik zwischen dem rein männlichen SK und den weiblichen Gefangenen wird deutlich, dass die Männer auf die gefolterten Frauen im Rahmen ihrer jüdischen Männlichkeit reagierten, dabei aber ambivalent und widersprüchlich blieben. Langfus beschreibt die Gewalt gegen eine Gruppe weiblicher Gefangener, die gefoltert und dann in die Krematorien gebracht wurden, um Beweise für die Gräueltaten der Täter zu liefern. Darüber hinaus versucht er zu verstehen, in welchem emotionalen und psychologischen Zustand sich die Juden und Jüdinnen in beiden Opfergruppen befanden – und wie diese Gruppen interagierten.

In "Di 3000 Nakete" wird die männliche Perspektive besonders deutlich, da sie tief auf die psychologischen und mentalen Auswirkungen der Gewalt auf die Opfer eingeht. Die multiperspektivische Darstellung zeigt, wie sich die Folter nicht nur auf die weiblichen Opfer auswirkte, sondern auch auf die männlichen, die in das Schicksal der Frauen verwickelt waren. Die besondere Situation des Sonderkommandos und die Machtverhältnisse zwischen Tätern und Opfern machen dieses Zeitzeugnis zu einem bemerkenswerten Beispiel und komplexen Gegenstand. Anders, als vielleicht zu erwarten gewesen wäre, stellten einige der SK-Mitglieder durch ihr Verhalten die Ideale jüdischer Männlichkeit infrage: Sie brachten ihre Emotionen zum Ausdruck und bauten so ein Unterstützungssystem auf. Anstatt sich auf nüchterne Schilderungen zu konzentrieren und die Emotionen zu vernachlässigen, finden wir ausführliche Beschreibungen von Verzweiflung und Hilflosigkeit in einer extremen, traumatischen Situation. Langfus selbst geht auf die emotionale Belastung der SK-Mitglieder und die Ambivalenz ihrer Rolle ein – einschließlich seiner eigenen. Die SK-Schriften sind somit ein Beispiel für die komplizierte Rolle des Sonderkommandos einerseits und den komplexen Blick auf jüdische Männlichkeit während des Holocaust andererseits. Zugleich bilden sie die vielfältigen Reaktionen und Entscheidungen der jüdischen männlichen Opfer im Holocaust nicht umfassend ab. Die Zeitzeugnisse beschreiben einen außergewöhnlichen genderspezifischen Fall, der noch der tiefergehenden Erforschung harrt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich folge bei der Schreibweise der Autorennamen dem YIVO-Standard; siehe Externer Link: https://yivo.org.

  2. Der Titel kann als "Auschwitz-Schriftrollen" übersetzt werden. Als Schriftrollen werden im Judentum zum Beispiel die Thora-Rollen verstanden.

  3. Die jiddischen Schriften wurden zwischen 1945 und 1970 gefunden. Vgl. Pavel Polian, Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz, Darmstadt 2019, S. 151–157.

  4. Der Literaturwissenschaftler David Roskies definiert Holocaustliteratur als jede Form des Schreibens in jeder Sprache, die die Erinnerung an den Holocaust beeinflusst hat, aber auch von ihr beeinflusst wurde. Vgl. David G. Roskies/Naomi Diamant, Holocaust Literature. A History and Guide, Waltham 2012, S. 2.

  5. Ich konzentriere mich hier auf das letzte Sonderkommando, das von Ende 1942/Anfang 1943 bis zum Aufstand am 7. Oktober 1944 bestand.

  6. Vgl. Nicholas Chare/Dominic Williams, Matters of Testimony. Interpreting the Scrolls of Auschwitz, New York 2016, S. 96f.; Eric Friedler/Barbara Siebert/Andreas Kilian, Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz, Gerlingen 2002, S. 75–205; Filip Müller, Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz, München 1979, S. 104; Gideon Greif, The Religious Life of Sonderkommando Members Inside the Killing Installations in Auschwitz-Birkenau, in: Nicholas Chare/Dominic Williams (Hrsg.), Testimonies of Resistance. Representations of the Auschwitz-Birkenau Sonderkommando, New York 2019, S. 143–156.

  7. Vgl. Ber Mark, Megiles Oyshvits, Tel Aviv 1977, S. 364–365; ders., The Scrolls of Auschwitz, Tel Aviv 1985, S. 212. Eigene Übersetzungen der jiddischen Quellen, sofern nicht anders angegeben.

  8. Mark, Megiles Oyshvits (Anm. 7), S. 365.

  9. Vgl. Stacy Banwell, Rassenschande, Genocide and the Reproductive Jewish Body. Examining the Use of Rape and Sexualized Violence Against Jewish Women During the Holocaust?, in: Journal of Modern Jewish Studies 2/2016, S. 208–227, hier S. 209. Siehe auch Helga Amesberger/Katrin Auer/Brigitte Halbmayr, Sexualisierte Gewalt im Konzentrationslager. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern, Wien 2007; Brigitte Halbmayr, Sexualized Violence Against Women During Nazi "Racial" Persecution, in: Sonja M. Hedgepeth/Rochelle G. Saidel (Hrsg.), Sexual Violence Against Jewish Women During the Holocaust, Waltham 2010, S. 29–44.

  10. Im hier diskutierten Zusammenhang ist davon auszugehen, dass die Gefangenen das gleiche biologische ("sex") und soziale Geschlecht ("gender") haben. Da es mir vor allem um die Wahrnehmung des sozialen Geschlechts einer Person und die damit verbundenen gegenderten Rollen geht, verwende ich das Wort "Gender".

  11. Vgl. Banwell (Anm. 9), S. 212.

  12. Beverley Chalmers, Jewish Women’s Sexual Behavior and Sexualized Abuse During the Nazi Era, in: The Canadian Journal of Human Sexuality 2/2015, S. 184–196, hier S. 192.

  13. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/M. 20052, S. 201.

  14. Vgl. Chalmers (Anm. 12), S. 192; Maren Röger, The Sexual Policies and Sexual Realities of the German Occupiers in Poland in the Second World War, in: Contemporary European History 1/2014, S. 1–21. Rögers Interpretation stützt sich auf die Forschungen von Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941–1945, Hamburg 2010.

  15. Vgl. Nicholas Chare/Dominic Williams, The Auschwitz Sonderkommando. Testimonies, Histories, Representations, Cham 2019, S. 42.

  16. Na’ama Shik, Sexual Abuse of Jewish Women in Auschwitz-Birkenau, in: Dagmar Herzog (Hrsg.), Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe’s Twentieth Century, Hampshire 2009, S. 221–246, hier S. 229 (eig. Übersetzung).

  17. Vgl. Chare/Williams (Anm. 6), S. 199.

  18. Vgl. Chalmers (Anm. 12), S. 192.

  19. Vgl. Dorota Glowacka, Sexual Violence Against Men and Boys During the Holocaust. A Genealogy of (Not-So-Silent) Silence, in: German History 1/2021, S. 78–99.

  20. Mark, Megiles Oyshvits (Anm. 7), S. 367.

  21. Ebd., S. 356.

  22. Vgl. Mark, The Scrolls of Auschwitz (Anm. 7), S. 221.

  23. Vgl. Chare/Williams (Anm. 15) S. 51; dies. (Anm. 6), S. 111.

  24. Mark, Megiles Oyshvits (Anm. 7), S. 366.

  25. Ebd.

  26. Vgl. Björn Krondorfer/Ovidiu Creangă (Hrsg.), The Holocaust and Masculinities, New York 2020, S. 5.

  27. Vgl. Maddy Carey, Jewish Masculinity in the Holocaust: Between Destruction and Construction, New York 2017, S. 2.

  28. Marion A. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class. Women, Family, and Identity in Imperial Germany, New York 1991, S. vii. (eig. Übersetzung).

  29. Vgl. Björn Krondorfer, Hiding in Plain View, in: ders./Creangă (Anm. 26), S. 17–52, hier S. 26.

  30. Dalia Ofer/Lenore J. Weitzman, Women in the Holocaust, New Haven 1998, S. 16.

  31. Vgl. Daniel Boyarin, Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man, Berkeley 1997, S. 2.

  32. Mark, Megiles Oyshvits (Anm. 7), S. 357.

Weitere Inhalte

ist Postdoctoral Research Fellow für Holocaustliteratur am Department für Comparative Literature and Thought der Washington University in St. Louis, USA.