Wenn Sie sich mein Leben anschauen, wirkt es wie ein halbwegs normales Leben. Ich bin verheiratet. Ich habe Kinder. Ich habe Enkel. Mein Mann liebt mich. Meine Kinder mögen mich. Ich schreibe Bücher. Ich lebe in New York.
Ich bin jüdisch. Sehr jüdisch. Ich mache mir ständig Sorgen. Und ich kann einfach nicht anders, als immer zu erwähnen, dass mein Sohn Arzt ist.
Andere Aspekte meines Lebens sind weniger normal. In jüngeren Jahren war ich lange Zeit Musikjournalistin. Ich habe Mick Jagger, Jimi Hendrix, Janis Joplin und andere Rockstars interviewt. Ich trug lange, psychedelisch bunte Kleider, falsche Wimpern und keine Schuhe. Mein Vater weinte beinahe, wenn er mich so sah.
Doch der allerwichtigste, prägendste Aspekt meines Lebens, und das war mir immer bewusst, ist die Tatsache, dass meine Eltern jahrelange Gefangenschaft in den Ghettos und Vernichtungslagern der Nazis überlebt hatten. Meine Eltern waren eine seltene statistische Größe. Zwei jüdische Menschen, miteinander verheiratet, die beide Todeslager überlebt hatten.
Meine Mutter heiratete meinen Vater, weil ihre Mutter dachte, sie wäre besser dran, wenn sie in die reiche Familie meines Vaters einheiratete, als die Deutschen in Polen einmarschierten. Mein Vater heiratete meine Mutter, weil er bis über beide Ohren in sie verliebt war. Meine Mutter war siebzehn.
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Im Februar 1940 wurden etwa 150.000 Jüdinnen und Juden im Ghetto der polnischen Stadt Łódź eingesperrt. Meine Eltern waren unter ihnen. Es sollten noch viel mehr jüdische Menschen hinzukommen. Bald war das Ghetto voller sterbender und toter Leiber, es herrschten Hungersnot, Krankheiten und Terror. Der Reichtum der Familie meines Vaters hatte sich verflüchtigt.
Im Jahr 1944 hatten meine Eltern, die eigentlich schon für einen früheren Transport nach Auschwitz vorgesehen waren, keine Arbeitserlaubnis mehr und waren im Ghetto untergetaucht. Hanka, die neunjährige Nichte meiner Mutter, brachte ihnen jeden Tag eine Schale Suppe. Sie hatte noch eine Arbeitserlaubnis und sagte immer, sie habe keinen Hunger, wenn sie meinen Eltern ihre Suppe brachte.
Im August 1944 kamen meine Eltern und Hanka mit einem der letzten Transporte aus dem Ghetto in Łódź nach Auschwitz. Meine Mutter und mein Vater wurden bei der Ankunft in Auschwitz-Birkenau sofort getrennt. Meine Mutter versuchte, bei Hanka zu bleiben, aber jemand stieß sie in eine andere Reihe. Das war die Reihe zum Überleben. Hanka wurde direkt in die Gaskammer geschickt.
Meine Mutter wusste noch Monate nach Kriegsende nicht, ob mein Vater lebte oder tot war. Mein Vater war sicher, dass meine Mutter nicht überlebt hatte. Meine Mutter war von Auschwitz ins KZ Stutthof gebracht worden. Stutthof lag in der Nähe von Gdańsk (Danzig) an der Ostsee. Es hatte den Ruf, eines der brutalsten Vernichtungslager zu sein. Ich bin nicht sicher, wie man Brutalität misst, wenn Mord, Folter, Terror, Aushungern und Chaos zum Alltag gehören.
Im Mai 1945 wussten die Deutschen, dass der Krieg vorbei war. Hitler hatte sich schon mit einem Kopfschuss getötet. Die Nazis, sowohl die oberen Ränge als auch die untergeordneten SS-Mannschaften in Stutthof, hätten einfach wegrennen und sich verstecken können, um sich selbst zu schützen. Aber was taten sie stattdessen? Sie widmeten sich mit ganzem Herzen der Aufgabe, weiter so viele Juden umzubringen, wie sie nur konnten.
Sie zwangen die Frauen, die zerfetzten Lumpen auszuziehen, die sie noch am Leib trugen, schubsten die nackten und verängstigten Jüdinnen in die Ostsee und mähten sie mit Maschinengewehrsalven nieder.
Meine Mutter wurde mit einer Gruppe anderer Jüdinnen auf einen Frachtkahn getrieben. Viele der Frauen wurden über Bord geworfen. Ein Wachmann hob meine Mutter hoch und wollte sie gerade ins Meer werfen, als sie in fließendem Deutsch zu ihm sagte, er könne sie gern über Bord werfen, denn ihr sei inzwischen alles gleich. Der Wachmann ließ meine Mutter am Boden der Schute liegen. Sie glaubte, er war schockiert, dass diese schmutzige, skelettartige Frau fehlerfreies Deutsch sprechen konnte.
Meine Mutter hatte vier Brüder, drei Schwestern, eine Mutter und einen Vater, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Sie alle wurden ermordet. Der größte Teil der Familie meines Vaters wurde ebenfalls ermordet.
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Meine Mutter war sehr klug, sehr lernwillig und sehr schön. Sie hatte davon geträumt, Kinderärztin zu werden. Dieser Traum sollte nie in Erfüllung gehen.
Meine Eltern und ich kamen als Flüchtlinge nach Australien und lebten in der Sicherheit eines Landes, das mein Vater Paradies nannte. In diesem Paradies arbeitete mein Vater in Doppelschichten in einer Fabrik an der Nähmaschine und meine wunderschöne Mutter, die immer noch davon träumte, Kinderärztin zu werden, in einer anderen Fabrik an einer anderen Nähmaschine.
Wir wohnten in einem Haus mit vier oder fünf Zimmern. In jedem Zimmer lebte eine Familie jüdischer Flüchtlinge, dazu gab es eine Küche und ein Bad. Die Luft in unserem Haus und in unserer kleinen Gemeinschaft war von Trauer geschwängert. Ich war noch ein kleines Mädchen, aber ich wusste, dass meine Eltern und die anderen Familien etwas Schreckliches erlebt hatten. Ich wusste zwar nicht was, aber ich wusste, es war sehr, sehr, sehr schrecklich.
Die vergangenen Welten meiner Eltern hingen über meinem Leben. Es gab diese frühere Welt, in der meine Mutter und mein Vater beide Eltern und Geschwister hatten. Und dann gab es jene andere Welt. Die Welt der Toten meiner Eltern. Eine dicht bevölkerte Welt, die fast jeden Menschen beherbergte, den sie je geliebt hatten.
Die Toten waren immer gegenwärtig. Ich konnte sie hören. Nachts schnieften und seufzten und rutschten sie herum, als wäre ihnen ständig unwohl. Ein Unwohlsein, das wir nicht lindern oder abmildern konnten. Ich wusste, dass jede der Familien in unserem geteilten Haus eine eigene laute und unbändige Horde von Toten bei sich hatte.
Meine Mutter war nur körperlich anwesend. Sie nähte Kleidung für mich, sie kümmerte sich um mich, aber sie war gleichzeitig anderswo. Sie war bei ihren Toten. Oft nahm sie ihr Abendessen mit dem Rücken zum Küchentisch zu sich, und sie aß gern die Reste. Die Neige der Hühnersuppe, die Enden des Brotes, die Reste von Eiern oder Sauerkraut. Ich glaube, sie fühlte sich ihr ganzes Leben lang schuldig, weil sie überlebt hatte.
In Australien ging ich in einen jüdischen Kindergarten. Auf jedem Jahrgangsfoto des Kindergartens sehen wir aus wie eine deplatzierte Gruppe europäischer Kinder. Wir tragen europäische Kleidung. Wir kleinen Mädchen haben große Schleifen im Haar, manche von uns tragen sogar im Sommer Strickjacken. Der helle Sonnenschein passt nicht zu unseren melancholischeren Mienen.
Wir wussten alle, dass wir am falschen Ort waren. Wir wussten, wir waren neu in diesem Land und gehörten anderswo hin. Wir wussten nur nicht, wo dieses anderswo war. Wir waren fast alle Kinder von Shoah-Überlebenden.
Zu viele von uns hatten tote Geschwister, Geschwister aus den Vorkriegsehen unserer Eltern. Zu viele von uns hatten schlecht zusammenpassende Eltern. Hastig geschlossene Ehen, eingegangen aus der verzweifelten Not, jemanden zum Anfassen, zum Festhalten und zum Lieben zu haben. Die meisten unserer Eltern standen noch unter Schock. Und alle trauerten noch. Eine Trauer, die niemals enden sollte.
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Ich weiß nicht, wer ich geworden wäre, wenn ich nicht in einer Gemeinschaft aufgewachsen wäre, die fast in Trauer ertrank. Und so sehr zu leben versuchte. Meine Mutter schnappte jedes Mal nach Luft, wenn es an der Tür klingelte. Aller Nerven waren extrem angespannt. Ich dachte, das sei normal.
In Auschwitz war es normal. Alles war unberechenbar. Nichts war vorhersehbar. Deshalb waren alle auf der Hut. Einen großen Teil meines Lebens war ich auf der Hut und erwartete die Katastrophe. Wenn die Wettervorhersage ein Gewitter ankündigt, nehme ich einen Regenmantel, zwei Regenhauben und mindestens zwei Schirme mit. Früher hatte ich zwei Handys, falls eines kaputtging.
Wenn meine Kinder, inzwischen erwachsen, zu spät nach Hause kamen, musste ich mich zusammenreißen, um nicht die Mütter ihrer Freunde anzurufen oder, noch schlimmer, die Krankenhäuser.
In vielerlei Hinsicht bin ich immer noch auf der Hut. Ich nehme auch bei ganz einfachen Dingen immer das Schlimmste an. Ich glaube, das wird immer so bleiben.
Weder mein Vater noch meine Mutter bekundeten jemals Hass oder Bitterkeit. Meine Mutter murmelte manchmal, sie könne nicht verstehen, wie ein Land, das Goethe und Schiller hervorgebracht hatte, so viele Menschen ermorden konnte.
Doch beide beharrten unerschütterlich darauf, dass es sehr wichtig sei, ein guter Mensch zu sein. Das sagten sie mir immer und immer wieder. Mit fünf oder sechs Jahren überlegte ich auf dem Fußweg in meine australische Schule, ob ich als Mensch wohl gut genug war.
Eine meiner Schuldfreundinnen, Lydia, war Deutsche. Auch ihre Familie war erst vor Kurzem nach Australien gekommen. Meine Eltern hatten überhaupt nichts dagegen, dass ich eine deutsche Freundin hatte. Sie lernten ihre Eltern kennen und sagten, das seien ganz nette Leute. Erst als Erwachsene begriff ich, wie außerordentlich vorurteilsfrei meine Eltern waren.
Meine Eltern stammen beide aus sehr religiösen Haushalten. Doch meine Mutter und mein Vater verloren beide für sich ihren Glauben an Gott. Meine Mutter sah zu, wie ein Neugeborenes in einem verdreckten Klo ertränkt wurde. In dem Augenblick entschied sie, dass es keinen Gott gebe. Mein Vater sah zwei junge Nazis mit einem Baby Fußball spielen. Wenn es einen Gott gäbe, so sein Schluss, würde er Babys nicht so strafen.
"Es gibt keinen Gott", sagte meine Mutter in den eigenartigsten Momenten aus heiterem Himmel. "Es gibt keinen Gott", sagte sie immer wieder. Bisweilen dachte ich, sie wolle sich selbst davon überzeugen, aber das stimmte nicht. Sie war ganz sicher, dass es keinen Gott gab.
Meine Mutter verlor alles, was sie zu verlieren hatte. Sie verlor ihre Familie, ihre Jugend, ihre Bildung. Ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Heimat und ihren kleinen Sohn, der im Ghetto geboren wurde und starb. Das Einzige, was meine Mutter behielt, war ihre Schönheit. Und sie war sehr schön. Ich wusste, ihre Schönheit schenkte ihr ein wenig Freude.
Als ich zur Highschool ging, kam meine Mutter einmal zu einem Elternabend. Ich hatte von meinem Englischlehrer erwartet, dass er positiv über mich sprechen würde. Er plauderte sehr lange mit meiner Mutter. Am nächsten Tag fragte ich meinen Englischlehrer, was er meiner Mutter über meine schulischen Leistungen berichtet hätte. Er schaute mich ein oder zwei Minuten an und sagte dann: "Deine Mutter ist so schön."
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Ich war zweiundzwanzig, lebte in London und noch ganz in der Welt des Rock’n’Roll, als ich meinen Sohn zur Welt brachte. Ich hatte die Schwangerschaft geplant. Ich liebte meinen Sohn. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass ich mich um diesen wunderschönen kleinen Jungen kümmern, dass ich zu Hause arbeiten und mein Leben neu organisieren musste. Jahrelang fragte ich mich, wieso ich beschlossen hatte, so jung schwanger zu werden.
Wir zogen nach Australien zurück, als mein Sohn achtzehn Monate alt war. Meine Mutter verliebte sich auf den ersten Blick in ihn. Sie betete ihn an. Und er sie. Als ich sah, wie meine Mutter mit meinem Sohn durch unser Wohngebiet lief und ihn als ihren Sohn vorstellte, begriff ich, warum ich ihn so jung bekommen hatte. Er war immer noch mein Sohn, aber ich hatte ihn für sie bekommen.
Mein Sohn veränderte das Leben meiner Mutter. Er war ein kluger und sensibler Junge. Er war der Sohn, den sie im Ghetto verloren hatte. Mein Sohn füllte ein Loch, eine Lücke im Leben meiner Mutter.
Meine Mutter hatte immer noch schreckliche Albträume und wachte oft schreiend auf. Sie schrie auf Jiddisch nach ihrer Mutter, und manchmal rief sie Hanka zu, sie habe bei ihr zu bleiben versucht, als sie in Auschwitz getrennt wurden.
Als ich meine Tochter zur Welt brachte, kam meine Mutter mich besuchen. Sie warf einen Blick auf das kleine, blonde, blauäugige Baby, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. "Sie sieht genau aus wie Hanka." Meine Mutter setzte sich auf einen Stuhl. Sie schloss die Augen und sprach den Rest des Besuchs kein Wort mehr.
Ich wusste lange nicht, dass auch ich Albträume gehabt hatte. Als Kind träumte ich davon, in der Luft zu schweben und nicht mehr zurück auf die Erde und nach Hause kommen zu können.
Ich habe immer noch Albträume, aber nicht mehr so häufig. Meine Albträume haben alle mit Telefonen zu tun und mit der Unfähigkeit, nach Hause zurückzukehren. In meinen Albträumen funktionierte keines meiner Telefone. Das Seltsame ist, dass die Telefone in meinen Albträumen zu Beginn Wandtelefone waren, mit denen man ein Amt anrufen musste, um eine Verbindung zu bekommen. Dann entwickelten sie sich weiter zu Telefonzellen, Wählscheibentelefonen, dann mit Tasten zum Drücken, zu Mobiltelefonen, Klapphandys, Blackberrys und iPhones. In meinen Albträumen funktionierte keines der Telefone über die Jahrzehnte. Ich konnte um Hilfe flehen, nach Hilfe schreien, und erreichte doch niemanden.
Auch heute noch sorge ich immer dafür, dass meine Handys jederzeit voll aufgeladen sind. Ich weiß, das ist vollkommen unnötig. Wenn ich reise, achte ich immer darauf, dass mein Handy sich ins jeweilige Netz des Landes einwählt. Es kommt mir fast vor, als hinge mein Leben von meinem Telefon ab.
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Als ich zweiunddreißig war, hörte ich Leute erzählen, dass sie nach Polen reisten. Ich war so schockiert. Ich war zwar mehrmals in Europa gewesen, doch Polen hatte ich immer nur als abstrakte Szenerie des Schreckens betrachtet. Ich konnte nicht fassen, dass Polen ein echtes Land war und man dorthin fahren konnte.
Von diesem Augenblick an wollte ich nach Polen. Ich wollte sehen, wo meine Eltern gelebt hatten, wo sie zur Schule gegangen waren, wo mein Vater sein Lieblingseis gekauft hatte. Wo meine Eltern ihre Eltern und Geschwister gehabt, wo meine Mutter und mein Vater ein normales Leben geführt hatten. Und ich wollte nach Auschwitz.
Ich fing an zu weinen, als ich den Flug mit der polnischen Linie LOT von Paris nach Warschau antrat. Ich nahm ein Taxi von Warschau nach Łódź. In Łódź weinte ich den ganzen Tag. Jeden Tag.
Ich fuhr zu dem Mietshaus, das der Familie meines Vaters gehört hatte. Die Schwester und der Bruder meines Vaters hatten eigene Wohnungen darin, aber mein Vater, das jüngste Kind, wohnte mit seinen Eltern in einem der oberen Stockwerke. Ich hielt mich am Geländer fest, als ich die Treppe hinaufstieg. Ich wollte die Treppe nicht verlassen. Ich wusste, dies war die Treppe, die mein Vater und seine Eltern und Geschwister und Neffen und Nichten berührt haben mussten, wenn sie mehrmals am Tag diese Treppe hinauf- und hinabgestiegen waren. Ich wusste, sie mussten das Geländer gehalten haben, an dem ich mich jetzt festhielt. Ich wollte mich an das Geländer klammern, ich wollte das Geländer küssen.
Nach einer Woche in Łódź fuhr ich nach Auschwitz. Ich war noch nie in Auschwitz gewesen, doch es kam mir vor, als würde ich den Ort kennen. All meine Anspannung verflog. Ich fühlte mich zu Hause. Ich ging in eines der Krematorien. Dort herrschte Durcheinander. Die Schubwagen, mit denen die Leichen zu den Öfen gefahren wurden, standen überall verstreut herum. Ich versuchte, die Wagen so hinzuschieben, dass sie direkt vor den Öfen standen, aber die Wagen waren sehr schwer. Wir schafften es gemeinsam, die Wagen ein bisschen näher an die Öfen heranzuschieben. Ich weiß immer noch nicht, warum ich das tun musste. Es kam mir fast so vor, als würde ich meine Küche putzen. Aber es ging mir besser, nachdem ich das Krematorium fast wieder wie ein Krematorium hergerichtet hatte.
Ich berührte die Wände des Krematoriums, und meine Hände waren danach mit Ruß bedeckt. Ich wusste, in diesem Ruß steckte das Erbgut ganzer Familien, vieler, vieler Familien, und womöglich auch das meiner Familie. Ich schmierte mir etwas Ruß ins Gesicht und auf die Brust. Der Ruß beruhigte mich so sehr.
Mehr als vier Jahrzehnte lang hat Auschwitz mich angezogen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich dort gewesen bin, aber es waren viele, viele Male. Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem ich mich meiner Familie nahe fühle, der Familie, die ich nie kennengelernt habe.
Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu begreifen, dass die Vergangenheit meiner Eltern auch meine eigene ist. Ich hatte drei verschiedene Psychoanalytiker auf zwei Kontinenten. Das erzähle ich anderen Menschen mit gewissem Stolz. "Das ist ziemlich beeindruckend", füge ich oft hinzu. In Wahrheit ist Psychoanalyse oft schmerzhaft. Doch sie kann unser Verständnis von uns selbst verändern, und das kann sehr wertvoll sein.
Einmal machten mein Mann und ich Urlaub in Miami. Wir lebten in New York und waren noch nie irgendwo in Florida gewesen. Womöglich hatte ich den falschen Teil Miamis ausgesucht. Die Strände waren überfüllt, das Hotel auch. Ich fühlte mich unwohl. "Können wir woanders hinfahren?", fragte ich meinen Mann. "Klar", sagte er. "Wohin?" "Auschwitz", sagte ich. Das machten wir. Und es fühlte sich so viel besser an.
Ich reise nach Auschwitz, so wie andere Menschen in die Kirche oder die Synagoge gehen. Ich bin zwar Atheistin, aber ich fahre dorthin, um meinen toten Verwandten zu zeigen, dass sie mir wichtig sind und dass ich sie liebe.
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Einer meiner Romane, "Zu viele Männer", wurde von der deutschen Regisseurin Julia von Heinz unter dem Titel "Treasure – Familie ist ein fremdes Land" verfilmt. Der Film hatte im Februar 2024 bei der Berlinale Premiere und dreht sich um einen Vater und seine Tochter, die zusammen nach Polen reisen. Die Hauptrollen spielen Lena Dunham und Stephen Fry. In einigen Szenen spielt auch Auschwitz eine Rolle. Ich fragte Julia von Heinz, wie es für sie war, das ganze Filmteam nach Auschwitz zu bringen.
Ihre Antwort: "Ich bin zum ersten Mal 2016 mit meinem Ehemann John Quester nach Auschwitz gefahren. Alles, was wir an jenem Tag sahen und verstanden, war schlimmer als der schlimmste Albtraum, den wir uns je vorstellen konnten. Es ist unmöglich, die Atmosphäre dieses Ortes im Studio nachzubauen. Es ist der größte Friedhof der Welt. Das spürt man, wenn man da ist. Man sieht die Atmosphäre des Ortes in den Augen unserer Hauptdarsteller Lena Dunham und Stephen Fry. Wir haben jedem Mitglied des Ensembles und der Filmcrew geführte Besichtigungen und Literatur zu Auschwitz angeboten. Alle wollten so viel wie möglich darüber lernen, bevor wir dort arbeiteten. Wir konnten sehen, wie respektvoll die Gedenkstätte von den Menschen behandelt wird, die mit ihrer Erhaltung betraut sind, und wir wollten ihr auch so viel Respekt erweisen wie möglich. Niemand lachte, niemand machte Witze, niemand sprach laut, niemand rannte – alles Dinge, die ein Filmteam normalerweise tun würde. Alle wussten, das wäre hier unangemessen."
Mein Mann und ich nahmen unsere Tochter Gypsy und unsere fast sechzehnjährige Enkelin Orly Rose mit zur Premiere von "Treasure" nach Berlin. Orly Rose, die Filme dreht und Regisseurin werden will, seit sie zehn ist, war ganz begeistert.
Meine Tochter sagte, nach der Berlinale wollten sie und Orly Rose nach Auschwitz. "Ich komme mit", sagte ich. "Das wusste ich", sagte sie.
Wir flogen wenige Tage nach der Berlinale von Berlin nach Kraków. Am nächsten Morgen saßen wir in einem Auto auf dem Weg nach Auschwitz. Wir sprachen nicht viel im Wagen. Ich glaube, wir dachten jede für sich über die Welt nach, die wir gleich betreten sollten.
Es wurde einer der emotionalsten Tage meines Lebens. Hier waren wir: die drei Generationen nach meiner Mutter und meinem Vater. Wir drei, Mutter, Tochter, Enkelin, standen nebeneinander, Schulter an Schulter. Wir ließen unsere Familie – die Familie, die ein Teil von uns ist, die wir nie kennengelernt haben, die Babys, die Teenager, die Männer und Frauen, die Familie, die zu uns gehört – wissen, dass wir sie lieben und nie vergessen werden.
Im Auto auf dem Weg zurück ins Hotel sprachen wir wieder nicht viel. Es gab zu viel Stoff zum Nachdenken, zu viel aufzunehmen.
Ein paar Monate später fragte ich Orly Rose, welche Gefühle sie mit dem Tag in Auschwitz verbindet. Sie hatte sehr lange sehr viel über die Shoah im Allgemeinen und Auschwitz im Besonderen recherchiert und gelesen, bevor wir hinfuhren. "Ich weiß noch, als wir ankamen, dachte ich: ‚Jetzt bin ich tatsächlich hier‘, aber ich spürte das Gewicht des Ortes noch nicht wirklich", sagte sie.
"Ich hatte schon gewusst, dass die Nazis die persönlichen Wertgegenstände der Juden gestohlen hatten, aber es gab zwei große Haufen gestohlener Dinge, die mich wirklich bewegt haben: der Berg Brillen und der Stapel Töpfe und Pfannen. Ich dachte an all die Mahlzeiten, die in diesen Töpfen und Pfannen gekocht wurden, Essen für Feiertage oder für Schabbes, für einen Tisch voller Kinder oder für ein feines Abendessen oder für jemandes Leibgericht. Und als ich die Brillen sah, stellte ich mir einen sehr ordentlichen und gepflegten Juden in einem altmodischen Mantel vor, und bei der Vorstellung musste ich beinahe laut losweinen. Das hat mich wirklich getroffen: der Gedanke, dass ein echter Mensch diese Brille jeden Morgen vom Nachttisch genommen und aufgesetzt hat. Dass dieser Mensch sie geputzt und gepflegt hat, und jetzt lagen all diese Brillen vor mir, in diesem Kontext."
Meine Tochter und ich hatten zuvor schon über unseren Tag in Auschwitz gesprochen. Sie hatte befürchtet, ihre Gedanken nach den Aufregungen Berlins und der Berlinale nicht ausreichend zur Ruhe bringen zu können.
"Ich war dankbar für den ruhigen, bedächtigen Eingang in die Gedenkstätte", sagte sie. "Es war sehr still. Mit dir da zu sein war so wichtig. Du konntest mir zeigen, wo Opas Baracke lag, wo die von Oma. Die Kinderbaracken waren erschreckend und haben mir fast das Herz gebrochen. Die Altersgrenze war zwölf Jahre. Mein ältester Sohn war da gerade zwölf. Er wäre von seinem jüngeren Bruder getrennt worden. Das hätte ihn zerrissen. Ich war nach dem Besuch todtraurig. Auf der Fahrt zurück ins Hotel fuhren wir durch so schöne Landschaften mit prächtigen Häusern. All diese Menschen müssen gewusst haben, was in Auschwitz und Birkenau passierte, aber niemanden schien es zu kümmern. Sie haben anscheinend gedacht, dass es ganz in Ordnung war, unaufhörlich so viele Menschen wie nur möglich gnadenlos zu ermorden und zu verbrennen."
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Meine Mutter sagte oft: "Sie können dir alles wegnehmen, aber wenn sie dein Herz nehmen, könntest du ebenso gut tot sein." Ich wusste nicht, wer "sie" waren, aber ich wusste, sie waren keine guten Menschen. Die Wahrheit ist: Sie waren ganz gewöhnliche Menschen.
Tausende und Abertausende gewöhnlicher Menschen waren nötig, um Millionen Menschen zu transportieren, zu terrorisieren, zu foltern und zu töten. Diese gewöhnlichen Menschen waren Lokführer, Lokschaffner, Büroangestellte, Reinigungskräfte, Ärzte, Rechtsanwälte, Buchhalter, Lehrer, Techniker, Ingenieure. Diese gewöhnlichen Menschen waren Väter und Mütter, Ehemänner, Söhne, Neffen, Nichten, Onkel, Tanten, Ehefrauen und Töchter.
Auch Priester schauten weg. Ganze Familien schauten weg. Ganze Städte schauten weg. Ganze Länder schauten weg.
Deutsche Ärzte traten scharenweise der NSDAP bei. Sie arbeiteten in Todeslagern und vollführten groteske und sinnlose Experimente an jüdischen Männern, Frauen und Kindern. Die Ärzte schrieben liebevolle Briefe an ihre Frauen, erkundigten sich nach ihren eigenen Kindern und achteten darauf, dass ihre Kinder auch ihre Hausaufgaben machten. Oft beschrieben die Ärzte in allen Einzelheiten die köstlichen Mahlzeiten und die guten Weine, die sie gerade zu sich genommen hatten.
Sie erwähnten nie, was sie tagsüber taten, und ich weiß nicht, ob ihre Frauen je danach fragten.
Den Ärzten und den Lokführern, den Büroangestellten und den Lehrern und Hunderttausenden anderen Menschen war es gleichgültig, dass Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Sie betrachteten sie nicht als Menschen. Sie glaubten Hitlers Propaganda und sahen Juden als Ungeziefer.
Gleichgültigkeit ist der direkte Weg zum Hass. Es ist so leicht, gleichgültig zu sein. Gleichgültig anderen Menschen gegenüber, die womöglich anders sind als wir. Die womöglich etwas anderes glauben, eine andere sexuelle Orientierung haben, eine andere Sprache sprechen. Für gewöhnliche Menschen ist es so leicht, anderen gewöhnlichen Menschen gegenüber gleichgültig zu sein, dem Schmerz anderer Menschen, den Komplexitäten anderer Menschen gegenüber. Gleichgültigkeit gleitet erstaunlich leicht in Hass über.
Wir müssen jede Neigung zur Gleichgültigkeit bekämpfen. Wir müssen uns umeinander sorgen und kümmern, um unsere Nachbarn, um unsere Angehörigen und um Fremde. Wir müssen einander zeigen, dass wir einander wichtig sind. Dass andere Menschen zählen. Wir müssen uns informieren über die Geschichte des Hasses und seine katastrophalen Folgen.