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Die Veröffentlichungen in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" stellen keine Meinungsäußerung des Herausgebers dar; sie dienen lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung.
Reform -Gesamtkonzeption oder Politik der kleinen Schritte?
Einführung in eine Diskussion
Es hat in Deutschland einmal ein großes Zeitalter der Reformen gegeben: in Preußen nach 1807. Namen wie Stein, Scharnhorst, Humboldt, Stichworte wie Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Städteordnung, Heeresreform und Universitätsgründung erinnern an dieses Zeitalter. Von seinen Früchten, vom Glanz der Bildungsstätten, den wirtschaftlichen Energien, der Tüchtigkeit der Verwaltung und der Schlagkraft der Heeresorganisation, hat Preußen, hat schließlich Deutschland ein Jahrhundert lang gezehrt.
Nach 1945 hat sich Vergleichbares nicht wiederholt. So erfolgreich der Wiederaufbau vollzogen wurde, so gering blieb der Ertrag an tiefgreifenden Strukturveränderungen, wenn man vom politischen Bereich im engsten Sinne — der Verfassungsordnung und dem Parteien-system — einmal absieht. Daß, als sei in ihnen und durch sie nichts geschehen, die Universitäten „im Kern gesund" seien, verfestigte sich bald zur herrscheiiden Überzeugung — und beleuchtet exemplarisch den allgemeinen Sachverhalt. „Keine Experimente!“ hieß das politisch-unpolitische Erfolgsschlagwort der fünfziger Jahre, in dessen Zeichen zum ersten und bisher einzigen Male eine Partei die absolute Mehrheit aller Wählerstimmen errang.
Doch kann man Versäumtes, überfälliges nicht nachholen? Wohl selten waren Reformerwartungen so weit verbreitet und so hoch gespannt wie im Jahre 1969, als die sozial-liberale Koalition gebildet wurde und die Regierung Brandt-Scheel ihr Amt antrat. Beinahe alles, so schien es, sollte und konnte nun anders, neu, besser werden: „Wir fangen erst an!"
Inzwischen sind die Erwartungen weithin in Enttäuschung umgeschlagen. Sieht man von der Neuorientierung der Ostpolitik ab — gewiß einer bedeutenden, gegen erbitterten Widerstand durchgesetzten, in den Wahlen von 1972 von den Bürgern bestätigten Leistung —, so fällt die Bilanz tatsächlich mager aus. So führte die Enttäuschung zur Reaktion: Begriffe wie Ruhe, Sicherheit und Ordnung gewannen abermals Vorrang; Hoffnungen gelten vor allem einer möglichst effektvollen Krisen-bewältigung, die nicht so sehr Neues erreichen als vielmehr das Bestehende verteidigen und das gewohnte Wirtschaftswachstum wieder in Gang bringen soll.
Angesichts dieses Ablaufs und Umschlags ist es vielleicht an der Zeit, wenigstens Fragen neu zu stellen: Wie lassen sich überhaupt Reformen durchführen — unabhängig davon, ob sie im einzelnen als wünschenswert oder notwendig angesehen werden? Hat man nicht womöglich zuviel über Inhalte gestritten und dabei, einigermaßen naiv, aus subjektiven Wünschen deren objektive Realisierbarkeit abgeleitet? Was ist das eigentlich: eine Reform? Und gibt es so etwas wie strategische Prinzipien von Reformen? Was sind die Bedingungen ihrer Möglichkeit? Wo liegen die Hindernisse, wo die Grenzen?
Darüber ist, überraschend genug, sehr wenig bekannt. Ganze Bibliotheken lassen sich mit Büchern zum dramatisch attraktiven oder traumatisch verstörenden Thema „Revolution" füllen; aber an Analysen zum Begriff und zur Sache der Reform fehlt es nahezu völlig. Dies alles mag für die Faszinationskrait des Heroischen, Theatralischen, auch Tragischen zeugen. Der tatsächlichen Bedeutung trägt das Mißverhältnis jedoch schwerlich Rechnung. Revolution — das ist der Ausnahmelall. Und trotz aller einschlägigen Prophezeiungen, Hoffnungen und Ängste ist nicht einmal ausgemacht, ob Revolutionen in entwickelten Industriegesellschaften jemals durchgeführt werden können. Bisher gibt es dafür noch kein einziges Beispiel. Reform aber — das ist die Praxis. Reformen mögen manchmal gelingen, häufiger scheitern, immer Konflikte hervorrufen; in jedem Falle bezeichnen sie das Alltägliche: den Stoff sozusagen, aus dem Politik als der Kampf um die Veränderung oder Bewahrung bestehender Verhältnisse gemacht ist. Vom Gelingen oder Scheitern Kann indessen vieles, alles abhängen, etwa die Entscheidung darüber, ob unabweisbare Wandlungen sich friedlich oder — wie in Deutschland in unserem Jahrundert mehrfach — als Katastrophen der politischen Gesamtordnung durchsetzen.
Christian Graf von Krockow (Aus dem Vorwort zu seinem Buch „Reforfn als politisches Prinzip", Piper Verlag, München 1976)